Читать книгу Royal Cheese - Stefan REIBEL - Страница 4
ОглавлениеSONNTAG
#Nachgeschmack
Den nächsten Tag über fühlte sich Balthasar regelrecht vom Käse verfolgt. Schon zum Frühstück erwartete ihn ein kleiner Dankesgruß von Tante Hedwig neben der Kaffeemaschine. Auf dem täglichen Weg ins Präsidium konnte er aus dem Fenster die beiden wohlgeformten Frauenkörper kaum übersehen, die großformatig an den Plakatwänden prangten und abwechselnd vorüberflogen. Eine rote Ampel ließ ihn ungewohnt nah und ausreichend lang an ein Exemplar herankommen. Wie vermutet, warben die leicht bekleideten Schönheiten mit ihrer zarten Haut für die zartgelben Käsewürfel von Royal-Cheese. Balthasar spürte dieses seltsame Verlangen in sich aufsteigen, das ihn den ganzen Tag begleiten würde.
Kommissar Kurz bestand zu 90 Prozent aus Arbeit. Wer ihn auch sonn- und feiertags am Schreibtisch vor seinem Computer vermutete, lag selten falsch – sein Beruf schien ihm fix in den Genen verankert. Vor allem Fragen, die sein Interesse weckten, ließen ihn nicht los. Heute etwa, waren seine Gedanken schon beim Zähneputzen voller Bewunderung zu Margit Mattoscheck hin abgeschweift, sodass er jetzt gierig jeden verfügbaren Satz aus der Datenbank in sich aufsog.
„Schau an, wie außerordentlich umtriebig und erfolgreich die junge Frau ist“, scrollte er sich durch die dokumentierten Arbeiten der in Wirtschaftspsychologie und Marketing promovierten 33-Jährigen. Unzählige Konzepte wurden von Verbänden, Kammern und Initiativen gelobt und prämiert. Die attraktive Brünette schien auf vielen Gebieten begabt – er las von Chancen für den täglichen Nachbarschafts-Tourismus, gezielter musikalischer Zielgruppen-Bespielung oder den Vorzügen der eingriffsfreien Brustdimensionierung.
Balthasar verspürte den dringenden Wunsch, sie wiederzusehen. Glücklicherweise fand er kurz vor Mittag in seiner liegengebliebenen Hauspost eine persönliche Einladung zur Käse-Verkostung am Sonntag im Freigeist – und nahm sie bereitwillig an.
„Warum sich den besonderen Abend nicht noch mal ohne Tante Hedwig gönnen?“
Das traumhafte Wetter an diesem Sonntag verlockte ihn, den freien Nachmittag zu einem Recherchespaziergang im nahen Stadtpark zu nutzen. Im internen Kurzbericht „Verstärktes Drogenaufkommen in Upperstadt“ entwarf das Rauschgiftdezernat ein düsteres Szenario, unter anderem vom zentralen Erholungsgebiet, und Balthasar wollte sich sein eigenes Bild machen. Mit drei großen Kugeln Schokoladeneis vom mobilen Eisstand, schlenderte er aufmerksam über den gepflegten Schotterweg und diktierte von Zeit zu Zeit seine Beobachtungen ins digitale Tagebuch.
Nach eineinhalb Stunden bestieg er am gegenüberliegenden Ausgang den Bus in den Finkenweg und lobte beim gemeinsamen Abendessen den kulinarischen Ideenreichtum seiner talentierten Tanten. Gegen 19 Uhr brach er wieder auf in den Freigeist – „dienstlich“.
Weil Hedwig noch immer begeistert von der Verkostung schwärmte und Bärbel es sicher bis ans Lebensende bedauern würde, nicht dabei gewesen zu sein, schwieg Balthasar zu seinem Abendprogramm. Er wäre sicher weich geworden und in Begleitung der eleganten Rentnerinnen am Türsteher vorbei durch den Haupteingang gegangen.
„Herzlich willkommen, Balthasar“, grinste er und freute sich regelrecht auf diesen gesellschaftlichen Anlass. Wie tags zuvor, startete dieser Abend mit einer hoch emotionalen, multimedialen Einführung in die Markenwelt von Royal-Cheese. Ein wohliges Aroma schwängerte die Luft und mit geschlossenen Augen wähnte er sich erwartungsvoll im saftigen Gras auf einer naturbelassenen Alm.
Dann ging es endlich los.
Licht aus, Spot an: Zehn Käse-Feen zogen, begleitet vom elektronischen Klangteppich, feierlich mit den Probentabletts in den Saal ein und servierten die royalen Käse-Köstlichkeiten. Stück für Stück von Margit Mattoscheck vorgestellt und wortreich anmoderiert. Jeder wusste genau, was er zu schmecken hatte.
„Genial“, schwärmte Balthasar aufs Neue. Schon wieder konnte er mit jedem kleinen Stück die kollektive Stimmung anwachsen sehen. Auf dem positiven Höhepunkt durfte sich der Veranstalter auch an diesem Abend der Aufträge einer zahlungswilligen Kundschaft sicher sein.
Und wieder bot sich in den Nebenzimmern die Gelegenheit zur exklusiven Nascherei. Diesmal wollte Balthasars seiner Neugier nicht widerstehen und fand sich bald in der sinnlichen Atmosphäre von Zimmer 7 wieder.
Dem Etablissement geschuldet, war Rot die vorherrschende Farbe, die Oberflächen weich, die Formen rund. Balthasar überlegte noch, ob er die Entscheidung bereuen sollte, als eine zweite Tür aufging und eine spärlich bekleidete
Alpen-Eva zur anschwellenden Musik hereinschwebte.
Direkt in Blickrichtung des bequemen Samtsessels, in dem er regungslos verharrte. Was sich da optisch bot, war auf keinen Fall billig oder anrüchig. Im Gegenteil, sogar der Puls von Balthasar kam gehörig in Schwung. Ihre langen Haare waren kunstvoll in eine Zopffrisur verarbeitet und das vielfach leicht durchsichtige Kleidchen betonte die weibliche Figur an den richtigen Stellen.
Die Minuten vergingen viel zu schnell, als dass Balthasar reflektieren konnte, wie ihm geschah.
Jedenfalls hielt das Mädchen urplötzlich ein goldenes Tablett mit zehn kirschgroßen Käsehappen in der Hand und umschmeichelte, reich an Bewegungen, seine Sinne. Das verströmte, würzige Aroma ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen und er verspürte das drängende Verlangen, zuzugreifen. Doch das war gar nicht nötig. Der blonde Engel führte ihm die ersehnten Stücke mit kunstvollen Bewegungen direkt in den Mund.
„Mhhmmmmm...“ Balthasar lobte das Erlebnis hörbar. Glücksgefühle benebelten seine Sinne.
Bissen um Bissen verschwanden die Käsekreationen vom Tablett. Mit dem geschmacklichen Genuss steigerte sich auch die Intimität der Verkostung. Das wohlig nach würzigem Heu duftende Mädchen streifte das Leibchen ab und Balthasar durfte Nummer fünf mit den Zähnen von ihrer bloßen Bauchdecke fischen. Sein Blut pulsierte.
Mit geschlossenen Augen wog er Kopf und Oberkörper im Fluss der Musik. Er grinste breit und harrte Nummer sechs – die er schamlos von ihrem linken Schenkel naschte. Sie wechselte und hob den rechten Fuß auf die Armlehne. Nummer sieben wartete unweit ihres warmen Schoßes. Im Rhythmus der Musik blieb sie Balthasar spürbar nah. Durch die halb geschlossenen Augen verfolgte er den Weg von Nummer acht und neun auf ihre weit aus dem schmalen Stoff drängenden Brüste. Die Lust am Genuss war größer als die ihm inne wohnende Scham. Herzhaft biss er zu und ließ den körpertemperierten Käse im Mund dahinschmelzen.
Der Käsetanz näherte sich seinem dramaturgischen Höhepunkt, als die blonde Nymphe Balthasar sanft in die Lehne schob, diese von hinten in horizontale Lage gleiten ließ und sich elegant auf die Armlehnen schwang.
Er sah sie über sich stehen, im zarten Licht erotisch leuchtend. Vorsichtig wie ein Juwel, balancierte sie das letzte Stück der Exklusiv-Verkostung in ihrer Hand vor seinen Mund, um es dem Zubiss neckisch zu entziehen. Balthasars Blick spiegelte sein Verlangen, als er dem Käse hinterher glitt und sehen musste, wie ihre linke Hand jene glatte Scham freilegte, in der die Kostbarkeit von ihrer rechten Hand geführt, verschwand.
Sein Puls erreichte den Zenit, doch sein Gehirn übernahm in dem Moment, als sie in die Hocke ging und das Geschoss aus ihrem Körper seinen geöffneten Mund treffen sollte.
Der Käsewürfel kollidierte mit seinen fest verpressten Lippen und kullerte ungenossen auf den flauschigen Teppich.
„Das ist ja widerlich…!“, entfuhr es ihm aus tiefster Seele. Mit aufgerissenen Augen schnellte er vor und katapultierte das blonde Geschöpf rückwärts, gen Boden. Ihre grazile Sportlichkeit verhinderte Schlimmeres – sie fing sich und starrte Balthasar mit weit aufgerissenen Augen an.
„Aber… ich...“, stammelte sie ungläubig.
Ihr verletzlicher Anblick berührte Balthasar und sofort bereute er seine Reaktion.
„Entschuldigung, Fräulein...“
Er ging auf sie zu und hätte das verschreckte Mädchen am liebsten in die Arme genommen – versuchte bei der spärlich bekleideten Blonden aber einen falschen Eindruck zu vermeiden.
„Ich wollte sie nicht beleidigen… ich weiß ihre Darbietung durchaus zu schätzen…“, bekannte er verlegen. „Aber der letzte Teil war mir leider deutlich zu intim.“
„Ich bin doch frisch untenrum“, flüsterte sie fast beleidigt und nestelte den dünnen Slip zurück in Position.
„Kein Zweifel“, bestätigte Balthasar und reichte ihr das Leibchen, damit sie sich weiter bedecken konnte. Er rang nach einer Erklärung.
„Sie können doch den guten Käse nicht einfach in ihre… also... das kann ich doch dann nicht in den Mund nehmen.“
„Das gehört aber zur Choreografie dazu. Ist doch auch nicht schlimm… ich meine, wir sollen das bei euch Männern doch auch ständig, wenn...“
Balthasar wehrte den Gedanken ab und war versucht, diesen Teil der Unterhaltung schnell zu überspringen.
„Nein. Nein! Das will ich wirklich nicht!“
Empört rückte sie von ihm ab.
„Was denken sie denn von mir?… ich bin doch keine Nutte!“
Balthasar wurde rot und schwieg verlegen.
Der irritierende Moment war zum Glück schnell verraucht und beide in ein fast freundschaftliches Gespräch versunken. Balthasar erfuhr, dass Studentin Gabi in ihrer Tanzgruppe für diese Art der Präsentation geworben und im Freigeist unterrichtet wurde. Die gute Bezahlung rechtfertigte für sie den unüblichen Körpereinsatz. Auch die satten Zusatz-Provisionen für Bestellungen nach Exklusiv-Verkostungen färbten ihr das Selbstbild schön.
Nach wenigen Minuten gewann Balthasar den Eindruck, dass sich beide gleichermaßen vom Schrecken erholt hatten. Er bedankte sich für die interessante Darbietung. Halb aus schlechtem Gewissen und halb, weil er trotzdem noch immer für den royalen Käse schwärmte, orderte Balthasar über das von Gabi gereichte Tablet eine große Auswahl nach Hause.
Mitten in den gütlichen Ausklang platzte ein mittelgroßer Mann. Ohne zu zögern, schwang er die gedämmte Tür in den Raum und bellte schroff:
„Wo zur Hölle steckt der Hinterberger...?“
„Heeeeh...“, empörte sich Gabi umgehend, „wir sind hier noch nicht fertig.“
Der Eindringling richtete sich das geblümte Hemd grob in die Hose und kramte nach seinem Smartphone.
„Der Typ sieht nicht aus, als wenn er lange braucht...“, spottete er in Richtung Balthasar.
Gabi sprang auf und stemmte aufgebracht die geballten Fäuste in die schmale Hüfte.
„Frechheit… ich bin doch keine Nutte!“
Der Hauptkommissar reagierte zu zögerlich, der ungebetene Gast war schon wieder aus der Tür und am Telefon.
„So spricht man nicht mit einer Dame – Herr…?“, empörte er sich.
„Das ist der Gierlich, so ein Journalist aus Berlin. Ich glaube, der schreibt was über die Margit und den Käse.“
„Dem sollte mal einer gehörig über den Mund fahren!“, schimpfte Balthasar halblaut.
Nach höflicher Verabschiedung verschwand der Hauptkommissar aus dem Zimmer und über einen Nebenausgang hastig aus dem Freigeist. Denn sein eigentliches Abendprogramm würde erst beginnen.
#Rollermädchen
Balthasar blickte prüfend auf seinen digitalen Kollegen am Handgelenk und wechselte die Straßenseite. Minutenlang schlenderte er seinem Ziel entgegen, durch die endlos lange Straßenschlucht – einer Ader, wie sie typisch war für Upperstadt. Der architektonische Cocktail, irgendwo zwischen neuer Sachlichkeit, Bauhaus und Minimalismus, verlieh der mittleren Großstadt den modernen Charme, den alle so liebten. Addiert zum Bestreben, die gesündeste Stadt des Landes zu sein, eine attraktive Basis auch für deren wirtschaftlichen Erfolg. So waren es auch Mittelklassewagen und Nobelkarossen, die zu dieser Uhrzeit quer zur Fahrbahn in ihren grün gesäumten Parkbuchten ruhten.
Balthasars Blick glitt unentwegt über das geometrische Muster beleuchteter Scheiben. Deren geheimnisvolle Strahlkraft erregte seine kriminalistische Aufmerksamkeit. Trotz fortgeschrittener Stunde fühlte sich der Frühaufsteher hellwach.
Um ihn herum war Nachtruhe eingekehrt. Nur der laue Abendwind trug mit der frischen Luft stoßweise auch das beruhigende Rauschen weit entfernter Verkehrswege an sein Ohr.
Er klappte den Kragen in den Nacken und hob die Smartwatch vors Gesicht. Kontinuierlich wanderte der kleine grüne Punkt auf der digitalen Karte dem roten Zielkreis entgegen. Sein Blick fand auf der anderen Straßenseite das spärlich beleuchtete Messingschild, auf dem die Upper-Apartments ihre Gäste in serifenloser Schrift begrüßten.
Balthasar zögerte. Ein roter Kleinbus fuhr heran und hielt auf Höhe seiner Position. Er trat in den Schatten des Hauseingangs hinter sich. Ein lachendes Pärchen stolperte aus der Schiebetür und wankte zur Pforte des Apartmenthauses. Sein geschultes Auge identifizierte den Mann mit der Royal-Cheese-Tüte sofort als einen der Gäste aus dem Freigeist. Der Kleinbus stob quietschend davon.
„Wenig Trinkgeld“, deutete Balthasar die Szene und analysierte das Pärchen. Er schätzte zehn bis zwanzig Jahre Altersunterschied. Der korpulente Glatzkopf war mutmaßlich nur geschäftlich in der Stadt und sie die willige Bekanntschaft dieser lauen Nacht. Weil: Sein buntes Schlüsselband mit Namenskärtchen baumelte aus der Tasche des Anzugs von der Stange. Und: Die Apartments selbst lagen günstig zum Messe-Center – wo aktuell Hochsaison herrschte.
Die knallbunt geschminkte Frau sortierte Balthasar als abenteuerlustige Studentin ein, die sich vielleicht über einen Escort-Service das Dasein aufbesserte. Der Ermittler beobachtete geduldig, wie der Mann die Chipkarte nach kurzweiliger Suche triumphierend aus der Hosentasche fischte und über den Scanner neben der Drehtür zog. Das Schloss surrte und das Lachen verschwand mit ihnen endlich über den mintgrünen Teppich.
Balthasar behielt seine Position und bündelte die Aufmerksamkeit auf die höher liegenden Fensterfronten. Der vereinfachte Grundriss auf dem Display seiner Smartwatch verortete das heutige Ziel in der fünften Etage.
„Das Apartment muss linksseitig liegen.“
Seine Sinne auf Straße, Verkehr und mögliche Passanten gebündelt, wechselte er drei Hauseingänge weiter. Von hier aus verdeckte kein Baum mehr den Blick auf die drei flächigen Fenster der anvisierten Räume. Noch ein absichernder Blick, dann startete die Analyse der Smartphone-App mittels aufgesteckter Wärmebildkamera.
„Keine Bewegung auszumachen und kein Messpunkt zeigt eine Temperatur nahe Körperwärme an“, stellte er zufrieden fest und wechselte ins Datennetz der Polizeibehörde.
In der von Balthasar beobachteten Akte gab es keinen neuen Eintrag. „Die Kollegen sind noch nicht hier gewesen“, folgerte er und schloss aus, dass sich daran bis morgen früh etwas ändern würde. Nur Minuten später ließ Balthasar seine Finger über den Ziffernblock am Nebeneingang springen und betrat, unerkannt von der kleinen Überwachungskamera, die Upper-Apartments.
Nach zehn Aufstiegen über kahle Nottreppen, zwei feuerhemmenden Metalltüren und rund zwölf Metern schalldämmend gestalteter Gangböden stand er vor Apartment 53. Balthasar übernahm die Ziffernfolge von seiner Smartwatch, blickte nach links und rechts in den leeren Gang, dann trat er ein.
Hinter ihm glitt die metallgefasste Tür sanft ins Schloss, vor ihm lag eine unbekannte Welt im aufregenden Dunkel. Balthasar liebte den Moment, als erster einen definitiven oder auch nur möglichen Schauplatz von Verbrechen oder Straftaten zu erobern. Zu diesem Zeitpunkt war alles noch echt. So pur, unverbraucht, jungfräulich. Er schloss die Augen und ließ die Aromen auf sich wirken – den vielschichtigen Luftteppich mit dominanten Spitzen aus sanftem Parfüm, Lavendel, Kräutern und frischer Wäsche.
Als Nächstes war er neugierig, was seine Augen ihm im Halbdunkel über die unbekannte Szene preiszugeben fähig sein würden. Das dezente Licht der zur Ruhe gebetteten Stadt kroch behutsam durch den kaum verhüllenden Sichtschutz – und schien von Sekunde zu Sekunde an Strahlkraft zu gewinnen. Schemenhaft erkennbare Formen ordnete Balthasar auf Basis von Wahrscheinlichkeiten möglichen Gegenständen zu. Erst im zweiten Schritt erweiterte er sein humanes Sinnes-Spektrum um die technischen Möglichkeiten der digitalen Assistenten.
Erfreut über die hohe Trefferquote, prägte er sich jetzt mit Hilfe der Infrarot-App den exakten Grundriss und sämtliche Möbelpositionen ein. Dankenswerterweise erschloss sich vom Eingang aus ein breites Sichtfeld in Wohnbereich und Küche der offen gestalteten Wohnung. Drei weitere Türen schlossen sich an. „Sicher Arbeitszimmer, Wellnesszone und Schlafbereich.“
Nach etwas mehr als fünf Minuten ließ er das Telefon in die Hosentasche gleiten, schlüpfte aus den Schuhen, ohne die Senkel zu öffnen, und schwebte auf flusenfreien Sohlen durch den Raum zu den Fenstern.
Das nun folgende Prozedere war für Balthasar die Kür. Ein gewichtiger Teil dieser nächtlichen Besuche. Zufrieden und in völligem Einklang mit sich selbst, verharrte er mit verschränkten Armen beim Ausblick ins private Leben der umgebenden Gebäude. Dieser kindlichen Neugier konnte er sich nie ganz entledigen. Sie war es aber auch, die ihn pausenlos antrieb und zum erfolgreichen Ermittler formte. Frei von voyeuristischen Gefühlen, nahm er Bilder, Szenen, Abläufe und Figuren in seinen Gedankenspeicher auf, um daraus bei Bedarf Handlungen zu konstruieren. Je ungewöhnlicher das Gesehene, desto zufriedener würde er sich nachher zurückziehen. Der heutige Abend verwehrte zwar überraschendes Theater, vermochte allerdings die Faszination an einer individuellen Person zu wecken.
„Ich sollte das auch einmal ausprobieren“, dachte Balthasar, als sein Blick von dem kompakten Lichtkegel eines Elektrorollers vor das metallene Eingangstor auf der gegenüberliegenden Straßenseite gelenkt wurde. Eine dunkel gekleidete Gestalt nestelte an der großflächigen Stahlfront, um kurz darauf von dieser verschluckt zu werden. „Eine Frau“, diktierte Balthasar ins permanente Protokoll. „Körper nur schemenhaft, aber proportional mehr als eindeutig.“
Erwartungsvoll sogen sich Balthasars Augen ausschließlich an dieser einen Fassade fest. Sein Hormonspiegel schwoll an. „Hoffentlich wohnt sie nicht nach hinten raus.“
„Das Rollermädchen“, grinste Balthasar wenige Augenblicke später erleichtert und begann aufmerksam, die einsehbaren Räumlichkeiten mental zu erfassen.
„Modern möbliert und sparsam dekoriert. Die Dame wohnt nach Zeitgeist. Einzelstücke statt Wohnwand. Strahlende Kochinsel und raumteilende Ess-Theke. Großflächige Fotografien säumen freie Wandflächen – Motiv könnte ihr Gesicht sein.“
Rund fünfzehn Meter trennten ihn und das faszinierende Schaufenster ins Leben der jungen Frau, die zwischen zwei angrenzenden Türen pendelte und dabei zusehend weniger am Leibe trug. Balthasar war fasziniert. Höchst erfreut blickte er ins zartgelbe Zentrum des gemauerten Bilderrahmens, der an diesem Abend ein sehr persönliches Gemälde für ihn malte: Im Mittelpunkt eine maximal weibliche Figur, die mit einem Glas Rotwein durch den Raum tänzelte und frei mit jemandem zu telefonieren schien. Dabei gab der knappe Bademantel gelegentlich mehr preis, als ihm rational gesehen lieb war. „Glücklich und zufrieden“, stellte er für beide Seiten fest. Sein gefesselter Blick haftete noch für knapp eine halbe Stunde am intimen Dasein der Fremden, ehe gegenüber plötzlich Nachtruhe einkehrte. Wenig motiviert folgte Balthasar im Anschluss einer Handvoll anderer Menschen hinter erleuchteten Fenstern, ehe er seine volle Aufmerksamkeit wieder dem Inneren der unautorisiert betretenen Teilzeitwohnung widmete.
„An die Arbeit.“
#Rotlichterscheinung
Balthasar griff in die Innentasche seiner Jacke, hob die unscheinbaren Smartglasses mit beiden Händen ins Gesicht und synchronisierte die Daten vom Smartphone. Die Nachtsichtbrille erlaubte gründliches Vorgehen ohne zusätzlichen Lichteinsatz. „Wer ungestört Arbeiten möchte, darf nicht auffallen.“
Dass sein Lieblingszitat auf Einbrecherkönig Lothar Mischgut zurückging, störte ihn nicht. Schließlich begab auch er sich des Nachts auf die Suche nach Kostbarkeiten vor Ort – in seinem Fall aber weniger Schmuck, Bargeld oder Kunstgegenstände. Er hoffte Spuren zu finden. Spuren, die bestehende Verdachtsmomente bis auf ein nötiges Niveau verstärken und offizielle Ermittlungen erfolgversprechend gestalten würden.
So war Balthasar heute Abend nicht zufällig auf dieses Apartment fokussiert. Seine Aufmerksamkeit galt stets Gebäuden, Wohnungen oder Räumen, die in den Akten der Polizei auftauchten. Die momentan inoffiziell betretene Wohnung beispielsweise, gehörte der bundesweit agierenden Immobilienagentur Livingpool, die laut Aktenlage ins Visier der Kollegen geraten war.
„Es gibt hier mutmaßlich Verbindungen ins Rotlichtmilieu. Hinter der Fassade nicht zu beanstandender Mietgeschäfte wittere man Prostitution“, hatte der wortgewandte Referent von Polizeichef Gux in einem der morgendlichen Newsletter zugespitzt. Der Hinweis kam anonym, aber wohl aus dem Umfeld der gut situierten Apartmentbewohner.
„Und schon vor Tagen“, bemängelte Balthasar.
Man habe wiederholt Damen mit ungewöhnlicher Brustfülle über die Gänge der fünften Etage flanieren und in Apartment 53 verschwinden sehen. Teilweise nur spärlich bekleidet.
„Zu zögerlich“, rügte Balthasar das Vorgehen einer Abteilung, die sich seiner Zuständigkeit entzog, deren Untätigkeit er heute aber dankbar als Entschuldigung für seine nächtliche Exkursion vorschob.
„Da übernehme ich gerne für die Kollegen.“
Per Fingergeste erschien die Fallakte auf dem kleinen Display. Wenigstens vom Schreibtisch aus waren die Kollegen nicht untätig gewesen.
„Aktuell gilt das Objekt als bewohnt“, las er.
„Mieter ist die lokale Molkerei Schmidtbacher.“ Balthasar hob die Augenbrauen. Der Name war ihm im Rahmen der Käse-Verkostungen schon begegnet.
„Jetzt wird es interessant.“
Er liebte Querverbindungen.
Der Hauptkommissar ließ den Blick kreisen. Lebhaft bewohnt sah es hier nicht aus. Einzelne Spuren ließen aber den Aufenthalt unterschiedlicher Personen vermuten. Etwa die sich überlagernden Schrittmuster im weichen Teppichboden. Berücksichtigte er die recherchierten Reinigungszyklen, mussten sie in den letzten 48 Stunden entstanden sein. Selbst tunlichst darauf bedacht, keine Fährte zu hinterlassen, umkreiste Balthasar den einladenden Flokati. Er ging in die Hocke und betrachtete die Spuren näher.
„Kann drei Muster ausmachen… eines dominiert in der Frequenz… ein großer Schuh… vielleicht der Hausherr.“
Er fotografierte die Abdrücke aus verschiedenen Winkeln mit der Infrarotkamera und überließ der Technik-App die Wege-Analyse.
„Kam wohl nur zum Essen her“, stutzte Balthasar, gönnte sich seinerseits einen der mitgeführten Käsehappen von Royal-Cheese und folgte der verlängerten Hauptroute zu den beiden Kühlschränken am Ende des Teppichs. Sein geschultes Auge verriet ihm schnell, dass nur der kleinere der beiden Haushaltsgeräte zum festen Inventar zählte.
„Muss großen Appetit haben… mutmaßlich ein korpulenter Zeitgenosse.“
Balthasar öffnete sie nacheinander und war erstaunt, beide Geräte nahezu leer vorzufinden. Während der heimische wohl vorrangig als Luxus-Lager diente, barg der ergänzte Schrank wenige, von Hand markierte Gläser mit milchigen Flüssigkeiten, unbeschriftete Laborkanülen ähnlichen Inhalts und braun abgedunkelte Apothekengläschen mit teilweise sämigem, teilweise pulvrigem Substrat.
„Champagner, Kaviar, Lachs… das passt zum Verdacht vom verbotenen Liebesnest – das andere Zeug sieht eher nach Fitnessstudio aus.“
Er rang nach einer stimmigen Einordnung.
„Vielleicht Steroide oder so...“
Balthasar nahm kleinste Mengen der milchigen Flüssigkeiten als Proben in zwei mitgeführte Gläschen. Er kehrte der offenen Küchenzeile den Rücken, inspizierte vorsichtig die Inhalte des Mobiliars in Wohnbereich, Bad und Schlafzimmer – ohne jedoch Indizien für deren Gebrauch oder persönliche Gegenstände zu entdecken.
Zuletzt betrat er das am hinteren Ende der Wohnung angrenzende Arbeitszimmer – um im selben Moment vor Schreck zu erstarren.
Auf der geräumigen Ledercouch vor dem Schreibtisch erkannte er die Silhouette einer weiblichen Person, die ihn augenblicklich ansprach:
„Du kommst spät.“
Balthasar wagte nicht, zu atmen, geschweige denn, zu reagieren.
„Komm, setz dich zu mir. Ich habe mir für dich etwas Besonderes einfallen lassen“, lockte die weibliche Stimme mit erotischem Unterton.
Balthasars Blick jagte in Sekundenbruchteilen zurück durch den Raum zu der Tür, die er kaum später hinter dem Apartment ins Schloss fallen ließ. Ohne sich zu versichern, ob der Gang leer, das Geräusch unhörbar oder er unbemerkt bleiben würde.
Panik hatte ihn ergriffen.
„Möchtest du nicht von der verbotenen Frucht naschen, die ich für dich versteckt habe? Komm, such sie dir...“, hallte die Stimme in seinem Ohr nach, als er im Schutz der Dunkelheit in seine Schuhe schlüpfte und das Weite suchte.
„Warum hat der Wärmesensor versagt?“ Drängende Fragen schossen ihm in den Sinn. „Und wieso hat er die Frau nicht früher bemerkt, wo er doch geraume Zeit im Apartment weilte?“
#Mondscheinserenade
Schon früher am Abend, nicht allzu weit entfernt, rang Günter Gierlich unter freiem Himmel nach Luft. Der süße Duft ihres Schoßes schmeichelte um seine Nase, als er das Bewusstsein verlor. Sie löste die Spannung ihrer Schenkel und glitt erschrocken von seinem Gesicht. Die schlanke Frauengestalt zog sich das Höschen zurecht und schlüpfte in das leichte Kleid. Hastig ertastete sie ihre Clogs und lief davon. Das feuchte Gras entzog ihr kurzzeitig die Haftung. Sie fiel. Und mit ihr die Tasche. Eilig aufgerappelt, entfloh sie der Szene und hechtete jenseits der Rasenfläche auf einen geparkten E-Roller. Immer wieder hinter sich blickend, sauste sie davon. Erst mit der Distanz wuchs die Erleichterung.
#Risikokapital
Kaum später scheuerte Martin von Meringer im Büro des Freigeist den feinen Stoff der Anzughose am Ledersessel, als Margit von hinten herantrat. Sie griff die Lehne mit beiden Händen und schwang den Stuhl zu sich herum. „Hör auf, so nervös herumzurutschen, Käsebaron“, grinste sie und drückte ihm einen innigen Kuss auf den halb offenen Mund.
„Der Abend läuft prima. Das Geschäft blüht.“
„Machst du dir denn gar keine Sorgen wegen…?“, setzte der Geschäftsführer von Royal-Cheese an.
Sofort legte sich ihre warme Hand sanft auf seine Lippen. Ihr Parfum umspielte seine Sinne.
„Vergiss Gierlich. Er bekommt, wonach er verlangt. Sein Food-Alert wird das destruktive Interesse an unserem Käse umgehend verlieren.“
Dem ungläubigen Blick entgegnete sie:
„Er kommt in den Genuss einer Verkostung, die ihm den Atem rauben wird...“
Mit diesen geheimnisvollen Worten entschwand Margit wieder, zu den noch anwesenden Gästen.
Der Anblick ihrer wohlgeformten Kehrseite brachte Martin ins Gleichgewicht. Der Jungunternehmer rotierte seinen Stuhl energisch zurück vor den Schreibtisch und wischte geschickt über seinen Tablet-Computer.
Im Backend des jungen Onlineshops konnte er in Echtzeit die steigende Zahl an Bestellungen beobachten, die unweit von ihm ins System eingepflegt wurden. Er rechnete, grinste breit und gönnte sich noch einen teuren Whiskey aus Hinterbergers gut sortierter Büro-Bar.
Vor einem halben Jahr hätte es der studierte Betriebswirt nicht für möglich gehalten, mit kleinformatigem Käse groß Geschichte zu schreiben. Vor allem nicht in Upperstadt.
Im Gegenteil: Sein unglückliches Händchen zwang den 34-Jährigen unlängst in die finanzielle Abhängigkeit der hiesigen Unterwelt. Nach imponierendem Start mit eigener Craft-Bier-Linie nebst angesagtem Szenelokal Oktopuss erlag er dem kostspieligen Lebenswandel, unnötigen Statussymbolen und teuren Liebschaften. Bald schon war er nicht mehr Herr im eigenen Haus und auch die ihm verbleibenden Geschäftsanteile schrumpften kontinuierlich.
Doch dann kam Margit aus dem Nichts mit ihrer detailliert ausgefeilten Idee. Und mit Margit kam die Marge.
Das Altgeschäft wurde zügig abgewickelt und alle Energie ins neue Projekt investiert. Die nicht wenigen, zeitgleich aufgetauchten Probleme schienen sich durch ihr Zutun allesamt in Luft aufzulösen. Sie hatte ein Händchen für Verhandlungen und unkonventionelle Lösungen.
Die Verkostungen im Freigeist etwa, mit denen es gelang, Martins schwelenden Konflikt mit Rotlichtgröße Roland Hinterberger zu befrieden. Verbunden mit einer Gewinnbeteiligungs-Übereinkunft bezüglich Royal-Cheese – versteht sich.