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3. Konstitutive Merkmale des Dramas im System der literarischen Gattungen

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Mimesis von Wirklichkeit

Aristoteles charakterisiert das Drama als Nachahmung von „handelnde[n] Menschen“ (Aristoteles 1982, Kap. 2, 7). Während sich in der Lyrik der subjektive Bewusstseinsinhalt eines Einzelnen artikuliert, ohne dass dies auf den Umgang mit anderen Personen zurückgeht, ahmen dramatische und epische Texte eine bestimmte Wirklichkeit nach. Diese Nachahmung von Wirklichkeit in einer authentischen Darstellung, gezeigt und gespielt von handelnden Personen, wird erst in der Moderne problematisch, weil hier die Wirklichkeit bzw. das, was man darunter versteht, selbst in Frage steht.

Das Theater lässt die sprachlichen Zeichen der Textvorlage im physischen Sinne real werden, indem es weitere Zeichensysteme einsetzt und damit die fünf Sinne des Menschen ansteuert. Der Zuschauer muss sich das Realisierte nicht mehr vorstellen wie bei der Lektüre, denn es wird ihm als Geschehen tatsächlich vor Augen gestellt: als eine eigene, anschauliche Wirklichkeit im ästhetischen Raum des Theaters, der als solcher bestimmte Grenzen für die reale Präsenz des Stücks festlegt. Seit dem französischen Klassizismus sind die drei Einheiten, die aus diesen Vorgaben abgeleitet wurden, als normativ denunziert worden – durchaus zu Unrecht, denn unter der Prämisse, dass der Inszenierungscharakter auf der Bühne unsichtbar werden soll, erweisen sich die drei Einheiten sogar als „Bedingung der Möglichkeit von Illusion und konsistenter Vollziehbarkeit“ des Geschehens (Landwehr 1996, 39). Erst dadurch wird das Bewusstsein, dass es sich um eine Inszenierung handelt, ausgelöscht, denn nur so kann die Verwechslung der ästhetisch simulierten Realität mit einer tatsächlich möglichen Realität gelingen.

Unmittelbarkeit

Die besondere Stellung des Dramas im System der literarischen Gattungen geht darauf zurück, dass es eine Geschichte auf szenische Weise darstellt, sowohl was das Darstellen als auch das Ergebnis dieses Darstellens betrifft. Dieser Modus signalisiert die spezifische Unmittelbarkeit, die diese Form der ästhetischen Nachahmung gegenüber der Epik suggeriert. Die direkte Konfrontation bewirkt entweder die Identifikation im ernsten oder die eher distanzierte Betrachtung im komischen Genre, bedingt durch das Lachen. Auf jeden Fall aber wird der Rezipient eines Dramas direkt in das Geschehen verstrickt. Erst mit Brechts Abkehr vom aristotelischen Theater soll der Zuschauer durch eine verfremdende Darstellung vor dieser direkten Illusionierung bewahrt werden. Er wird damit auf andere Weise mit der Darstellung konfrontiert: Die auf der Bühne gezeigte Wirklichkeit ist nun veränderbar. Die Distanz durch den Verfremdungseffekt soll eine Kritik an der Wirklichkeit kraft Einsicht in eben diese Veränderbarkeit provozieren.

Literarische Gattungen

Gattungen sind Beschreibungskategorien zur systematischen Klassifikation literarischer Texte. Gattungsbegriffe sind deshalb Klassenbegriffe, die aus einer begrenzten Menge gemeinsamer Merkmale von Textgruppen gewonnen werden. Sie sind Konstruktionen, d.h. wissenschaftlich konstituierte Einheiten aufgrund einer bestimmten Theoriebildung. Mit anderen Worten gibt es Gattungen nicht als solche. Gattungen sind vielmehr Ensembles sprachlicher und struktureller Merkmale, die einer Gruppe von Texten gemeinsam sind und diese eine Gruppe zu einem historischen Zeitpunkt von anderen Gruppen unterscheiden. Solche Textgruppenbildungen dienen dazu, die Gesamtheit der literarischen Texte zu ordnen und überschaubar zu machen.

Schwierigkeiten der Gattungstheorie

Die Schwierigkeiten der Gattungstheorie werden einsichtig, wenn man sich eingeführte Erläuterungen aus der Textgruppe ‚dramatische Texte‘ vor Augen hält. So wird etwa das Lyrische Drama als Drama mit Musikbegleitung, daneben als Ein- oder Zweipersonenstück, schließlich als ein starke Emotionen und Konflikte vorführendes Schauspiel definiert (Burdorf 2000, 506). Die Komödie charakterisiert man als Drama, das über größere Partien eine oder mehrere Zentralfiguren als komisch präsentiert; das Libretto als ein Textbuch, das zur Vertonung bestimmt ist. Die gemeinsamen Merkmale aus der Textgruppe ‚dramatische Texte‘ beziehen sich folglich auf ganz unterschiedliche Aspekte, u.a. auf stoffliche bzw. thematische Kennzeichen: So dominieren in der Komödie komische Personen, meist niedere Figuren nach Maßgabe der Ständeklausel. Neben diesen stofflichen Kriterien spielen formale und (inter-)mediale Kennzeichen für die Zuordnung eines Texts zur Gattung Drama eine Rolle: für das Lyrische Drama die Kürze, für das Libretto die musikalische Aufführung, für die Komödie schließlich der gute Ausgang. Weitere Gesichtspunkte betreffen die Wirkungsabsichten (komisch, lyrisch, musikalisch), nicht zuletzt die epochale Zugehörigkeit, wenn man bedenkt, dass das Lyrische Drama ein bevorzugtes Genre um 1900 bildet. Insgesamt spielen also eine ganze Reihe unterschiedlicher Gesichtspunkte für die Textgruppenbildung eine Rolle.

Die Beispiele deuten die Schwierigkeiten an, eine strenge und v.a. überzeitliche Gattungssystematik aufzustellen. Der entscheidende Grund besteht darin, dass literarische Texte historisch sind: Im literarhistorischen Prozess entstehen immer wieder neue Genres wie das Bürgerliche Trauerspiel des 18. Jahrhunderts oder das Libretto mit der Begründung der Oper in der Frühen Neuzeit. Die Komödie oder das Drama im Allgemeinen gibt es dagegen seit Beginn der schriftlichen Überlieferung in der griechischen Antike. Die Komödie ist daher insoweit überhistorisch. Anders gesagt gibt es diese Untergattung (der Gattung Drama) aufgrund der Bewahrung gleichbleibender Merkmale bis heute, während das Bürgerliche Trauerspiel mit Hebbel Mitte des 19. Jahrhunderts ausstirbt.

Gattungsbegriffe

Aus diesen Überlegungen ergeben sich unterschiedliche Verwendungsweisen des Begriffs ‚Gattung‘ in der Literaturwissenschaft: In übergeordneter, d.h. letztlich auch überzeitlicher Bedeutung ist v.a. die Gattungstrias Epik, Lyrik, Drama grundlegend. Von Gattungen ist aber auch im Blick auf Aussageweisen bzw. Grundformen der Stoffgestaltung die Rede, so dass man eine lyrische Gestaltungsweise von der epischen und dramatischen unterscheidet (Emil Staiger). Von Gattungen spricht man schließlich noch im Blick auf einzelne, historisch entstandene Formen, also etwa bei der Tragikomödie, beim Roman oder bei der Novelle, noch weiter differenziert zuletzt bei den spezifisch historischen Varianten solcher Untergattungen wie etwa dem Boulevardstück.

Für diese Uneinheitlichkeit in der Verwendung des Gattungsbegriffs gibt es Gründe: Zum einen geht sie auf die Diskussionen von Platon und Aristoteles über Goethe bis zu den neueren Methoden im 20. Jahrhundert zurück: Bestehende Systematisierungen werden im Prozess dieser Auseinandersetzungen problematisiert und durch neue historische und methodische Konzepte ersetzt. Veränderte historische Kenntnisse erzwingen neue Kriterien und Unterscheidungen. Zum anderen sind literarische Texte allein aufgrund ihres Eigensinns, ihrer spezifischen Individualität unter den jeweils veränderten historischen Umständen kaum nach überzeitlichen Kriterien zu klassifizieren. So entstehen im Laufe der Literaturgeschichte zu bestimmten Zeitpunkten neue Varianten, genauer gesagt Genres wie z.B. das Rührende Lustspiel Mitte des 18. Jahrhunderts.

Gattungsdiskussion in der Antike

Trotz dieser historischen Variabilität der Formen kann man Kriterien benennen, die eine soweit überzeitliche Klassifikation nach Gattungen ermöglichen. Daraus leitet sich die sog. Gattungstrias ab, die erwähnte Unterscheidung nach Epik, Lyrik und Drama. Prominente Stationen dieser Diskussion sind die Poetik von Aristoteles und Goethes Überlegungen zu den ‚Naturformen der Poesie‘. Aristoteles formuliert drei Ansätze zur Bestimmung von Gattungen: erstens nach den Mitteln der Darstellung (Vers/Rhythmus, z.B. die Verwendung des Hexameters für das Epos), zweitens nach den Gegenständen der Darstellung (hohe/gute, gleichstehende, niedere/schlechte Personen, z.B. gute Personen für die Tragödie), drittens schließlich nach dem Modus der Darstellung, also nach dem sog. Redekriterium. Aristoteles unterscheidet dabei zwei Formen: Die dargestellten Personen reden (Tragödie, Komödie), oder der Dichter spricht in eigener Person, gemischt mit Personenrede (Epos nach dem Vorbild Homer). Die Lyrik kommt nicht vor, denn die dritte Möglichkeit, die reine Rede des Dichters, wird von Aristoteles nicht erwähnt.

Gattungstrias

In der Gattungsdiskussion etabliert sich die Gattungstrias erst im Lauf des 18. Jahrhunderts. Noch die Diskussionen im 17. Jahrhundert haben dafür keinen Ansatz. Kanonisch wird sie durch Goethes Unterscheidung von „Dichtarten“ und „Naturformen der Poesie“ in den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans (1819): Zu den „Dichtarten“ rechnet Goethe u.a. „Allegorie, Ballade […] Elegie, Epigramm […], Roman“, also historische Varietäten, die kaum vollständig aufzuzählen sind. Demgegenüber gibt es „nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama“ (Goethe 1982, 187). Diese Unterscheidung führt dann zur Diskussion funktionaler Differenzen, so im Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller in der gemeinsamen Arbeit Über epische und dramatische Dichtung (1797): Der Epiker trägt eine „Begebenheit als vollkommen vergangen“ vor, der Dramatiker präsentiert sie dagegen als „vollkommen gegenwärtig“ (Goethe/Schiller 1977, 521).

Gattung – Genre

In der langwährenden Diskussion über literarische Gattungen kristallisieren sich drei Ebenen der Beschreibung heraus. Von Gattungen ist im Sinne einer überhistorischen Klassifikation der drei Darstellungsformen Epik, Lyrik und Drama die Rede. Als Genre werden dagegen Untergattungen bzw. historische Gruppenbildungen von Texten erfasst, wobei zwischen eher systematischen (z.B. Tragikomödie) und eher historischen Aspekten unterschieden werden kann (z.B. Bürgerliches Trauerspiel). Die Bildung von Genres erfolgt durch Angabe zusätzlicher Merkmale: Stoff, Organisation der Handlung, Rolle der anderen Künste wie der Musik. Die unterste Ebene bildet der Einzeltext mit entsprechenden Hinweisen der Zugehörigkeit zu einer Gattung, so Schillers Don Carlos mit dem Untertitel Ein dramatisches Gedicht. Dabei ist stets die historische Terminologie zu beachten: Schiller signalisiert hier den Aspekt der Dichtung gegenüber den Prosadramen der Aufklärung.

Konstitutive Merkmale der Gattungen

Das Drama präsentiert eine Geschichte auf unmittelbare Weise. Während sich in epischen Texten der Erzähler – wie erkennbar auch immer er ist – als vermittelnde Instanz zwischen Erzählen/Erzähltem und Leser äußert, agieren und sprechen im Drama Figuren, ohne dass eine vergleichbare Instanz der Vermittlung spürbar wird. Diese Unmittelbarkeit teilt das Drama mit der Lyrik, in der sich ein Ich direkt ausspricht. Unterschiede zwischen Lyrik und Drama bestehen wiederum darin, dass im Drama die Figuren in einer bestimmten Situation, also mit Bezug auf konkrete Umstände sprechen. Dies ist in der Lyrik meist nicht der Fall, insofern sich das lyrische Ich ohne Rücksicht auf solche Hintergründe äußert. Lyrik ist demnach als Einzelrede in Verstexten zu bestimmen, die nicht episch und nicht dramatisch sind (Fricke/Stocker 2000, 498f.).

Diese Überlegungen liefern weitere Unterscheidungskriterien von lyrischen gegenüber epischen und dramatischen Texten: Die monologische Rede unterscheidet die Lyrik von der primär dialogischen Rede im Drama. (Monologe sind im Drama damit natürlich nicht ausgeschlossen.) Im Unterschied zur situationsbezogenen Rede verschiedener Figuren in wechselnden Konfigurationen wird die Einzelrede der Lyrik meist nicht von ihren Umständen geprägt. Lyrische Texte sind genau deshalb nicht primär auf Aufführbarkeit hin angelegt. Auch das Drama lässt seine Figuren nicht selten in Versen sprechen. Lyrik und Drama unterscheiden sich insgesamt darin, dass die strukturell einfache Zeilenrede des lyrischen Ich von der strukturell komplexen Rede in Epik und Drama abzugrenzen ist: In epischen und dramatischen Texten wird das Sprechen eben durch die Konstellation der Figuren perspektiviert. Den Stellenwert des Dramas im Verhältnis zur Epik veranschaulicht folgende Graphik:


(Asmuth 1990, 12)

Figurenrede gibt es demnach sowohl in dramatischen als auch in erzählerischen Texten. Im Drama ist der Dialog jedoch die „sprachliche Grundform“, denn hier stellen sich die Figuren als Redende selbst dar (Pfister 1988, 23). Gibt es Figurenrede in Lyrik oder Epik nur als fakultatives Gestaltungsmittel unter anderen, ist sie im Drama „der grundlegende Darstellungsmodus“ (ebd., 24) – dies auch im Sinne einer gesprochenen Handlung. Gemeint ist damit der Vollzug eines Akts durch Sprechen in einer konkreten Situation. Im Unterschied zum philosophischen Dialog, der sich der Erschließung einer grundsätzlichen Fragestellung widmet, indem er von den Umständen der Äußerung in der Regel absieht, funktioniert das sprechende Handeln im Drama als Sprechakt: als Versprechen, als Drohung oder als Überredung.

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