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Andreas Stefani wird misstrauisch

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Letztlich hätte das spurlose Verschwinden von Frau Dr. Edelmann als ungelöster Fall in die Statistik eingehen können, falls man überhaupt im klassischen Sinn von einem Fall reden wollte, wenn nicht im Dachgeschoss gegenüber der Staatskanzlei Andreas Stefani seine Wohnung gehabt hätte. Haus zum ersten Schweinskopf war in altertümlichen Lettern über der Haustür der Regierungsstraße 4 zu lesen. Es gehörte zu jenen unzähligen Gebäuden in Erfurt, die aus einer spätmittelalterlichen Zeit stammten, als die Häuser noch durch phantasievolle Namen, wie „Zum schwarzen Ross“, „Zum breiten Herd“, „Zur hohen Lilie“ oder „Zum goldenen Helm“ statt durch profane Hausnummern unterschieden wurden. Stefani hätte sich eine weniger ehrenrührige Adresse denken können, war allerdings den Verdacht nie los geworden, dass mit dem ersten Schweinskopf niemals die Bewohner seines Hauses gemeint waren, sondern es sich eher um eine reichlich unbotmäßige Anspielung auf den Residenten gegenüber gehandelt haben könnte.

Andreas Stefani galt als umgänglich gegenüber Kollegen, aber schwierig gegenüber Vorgesetzten. Er war früher in der Staatskanzlei beschäftigt gewesen. Dass er vor einiger Zeit aus Protest gegen bürokratische Verkrustungen, Verschwendung, feudalistische Strukturen, Entmündigung und Vorgesetztenwillkür seinen gut bezahlten Posten als Leitender Ministerialrat aufgekündigt hatte, sorgte bei den Kollegen für wenig Überraschung und bei seinen Chefs für aufatmende Erleichterung.

Wenn sich der etwas untersetzte Eigenbrötler auf die Zehenspitzen stellte, konnte er vom Nordfenster seiner Wohnung aus direkt ins Arbeitszimmer und auf den Schreibtisch seines früheren Chefs, Ministerpräsident Bernhard Amsel, schauen.

Stefani, trotz seines italienisch klingenden Namens ein gebürtiger Bayer, war schon im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung, nach Erfurt gekommen. Frau und Kinder waren in Bonn geblieben. Stefani bezeichnete sich selbst als einen „Dreitages-Sympath“. Drei Tage am Stück konnte er ein freundlicher, sympathischer Mensch sein – das Ideale für Wochenendreisen und Kurzbesuche. Aber dann überwog meist schon seine Menschenscheu, und er zog sich wieder zurück. Nach mehreren gescheiterten Liebschaften hatte er daher beschlossen, sich nicht wieder fest zu binden. Seine Söhne glaubten bei ihren seltenen Besuchen eine zunehmende Verschrobenheit an ihrem Vater wahrnehmen zu können.

Nach seiner Übersiedelung in die Thüringer Landeshauptstadt diente Stefani zunächst dem ersten Thüringer Ministerpräsidenten, Josef Dokic als Stellvertretender Regierungssprecher. Nie hatte Stefani einen Menschen so schnell lernen sehen. Zudem entpuppte sich Dokic als Organisationstalent. Fast alles, was Thüringen heute ausmachte, war strukturell schon in Dokics kurzer Regierungszeit auf den Weg gebracht worden. Als Bernhard Amsel Anfang 1992 die Regierungsgeschäfte übernahm, musste er letztlich nur noch verwalten und umsetzen, was Dokic ihm hinterlassen hatte. Kreatives Gestalten war ohnehin nicht die Stärke des CDU-Politikers. Darin glich er seinem SPD-Bruder Jochen Amsel. Auch dieser hatte in seiner Zeit als Bundesjustizminister ohne große eigene Phantasie nur das umgesetzt, was ihm Gustav Heinemann, der spätere Bundespräsident, als Zielpunkte hinterlassen hatte.

Da Stefani auch schon im Leitungsbereich des SPD-Bruders gearbeitet hatte, galt er in Erfurt als Ornithologe, seit er vom CDU Bruder Bernhard in seinem Amt als Stellvertretender Regierungssprecher bestätigt worden war.

Nach etlichen unerfreulichen Querelen mit Graus, Cäsar und auch schon Amsels designiertem Nachfolger Neukate, hervorgerufen nicht zuletzt auch durch Stefanis falsches Parteibuch, hatte Stefani die Notbremse gezogen und gekündigt. Er arbeitete jetzt als mehr schlecht als recht bezahlter freier Journalist. Dabei kamen ihm seine alten Kontakte und vor allem auch sein exklusiver Fensterblick ins meist ziemlich unaufgeräumte Innenleben der Macht sehr zu Hilfe, wenn er einer politischen Story auf der Spur war.

Obgleich Stefani die heutige Vorlage des Verbraucherschutzberichtes nicht sonderlich interessierte, zumal dieses Thema bereits von seinen fest angestellten Kollegen abgehandelt wurde, hatte er sich zur Pressekonferenz im Bürgersaal der Staatskanzlei eingefunden. Stefani kannte seinen früheren Chef Cäsar leider zur Genüge, trotzdem ließ sogar er sich immer wieder einwickeln von Cäsars sympathisch überzeugenden Art, die pure Unwahrheit zu sagen. Später dämmerte ihm dann allerdings meist doch noch, dass wieder einmal etwas dramatisch beschönigt worden war. So auch in diesem Fall: Eine Bombendrohung, die einerseits offenbar von der Polizei ernst genommen wurde, bei der aber nicht gleichzeitig das Gebäude geräumt wurde, war nur schwer vorstellbar. Außerdem hatte Stefani morgens eine Beobachtung gemacht, die er noch nicht ganz einordnen konnte:

Das Arbeitszimmer des Ministerpräsidenten lag etwas tiefer als Stefanis Wohnung. Er konnte daher nicht den ganzen Raum überblicken. Nahezu auf gleicher Ebene lag jedoch das Arbeitszimmer des Chefs der Staatskanzlei. Morgens hatten sich einige Polizisten in eben diesem Zimmer eingefunden. Es fand offenbar eine Art Lagebesprechung statt. Später kam ein schwarzer Schäferhund dazu. Diesem war ein beiger Mantel vor die Nase gehalten worden. Vielleicht hatte sich jemand eingeschlichen, der nun gesucht wurde? Womöglich ein etwas verwirrter Attentäter? Stefanis wacher politischer Instinkt sagte ihm, dass etwas im Gange war, was er scharf im Auge behalten sollte.

Zwei Stunden später zündete sich Stefani unter dem Renaissance-Erker neben dem Haupteingang der Staatskanzlei eine Zigarette an. Es dämmerte schon. Neben ihm stand Friedhelm Obertür, einer der Pförtner. Obertür hatte seine Zigarette eben fertig geraucht, warf den Stummel in den Gully und wandte sich mit einem kurzen Gruß zum Gehen.

„Habt ihr den Attentäter?“ klopfte Stefani auf den Busch. Obertür wandte sich noch einmal um und schaute verwundert. Stefani registrierte, dass er sich wohl doch auf einer falschen Fährte befand. „Na, wegen des Polizeiauftriebs heute.“

„Ach so, - nein, das war nur eine Übung.“ Dabei blinzelte Obertür jedoch grinsend.

Stefani hatte sich in seiner Zeit als Personalratsvorsitzender besonders auch für das Wachpersonal eingesetzt, obwohl es nicht zur Stammbelegschaft gehörte. Die Pförtner schätzten ihn deshalb, und darum wollte Obertür ihn auch nicht frech anlügen. Anderseits war klar, man hatte ihnen einen Maulkorb verpasst. „Übung“ lautete die Sprachregelung.

Mehr würde Obertür nicht zu entlocken sein. Schließlich hatte er Angst um seinen Job. Erst neulich war ein Kollege auf Betreiben der Staatskanzlei entlassen worden, weil er gewagt hatte, in der Pförtnerloge einen Blick ins „Neue Deutschland“ zu werfen, was allerdings auch strohdumm war. Gegen die Thüringer Allgemeine, bis vor kurzem noch das peinlich unkritische Quasi-Regierungsblatt, hätte niemand etwas gehabt.

Immer mehr Mitarbeiter machten Feierabend und kamen aus dem Gebäude. Stefani versuchte hier und da noch etwas über die Durchsuchungsaktion zu erfahren, stieß aber auf wenig Bereitschaft, ihn einzuweihen. Seine Exkollegen mochten ihn zwar größtenteils, hatten aber offenbar wieder einmal Angst um die Karriere, wenn sie mehr sagten, als der Hausspitze opportun erschien.

Stefani fühlte sich an die Zeit erinnert, als er sich genötigt sah, gerichtlich gegen die Staatskanzlei vorzugehen. Besonders hatte ihn damals das Verhalten der Kollegen belastet. Traf man Stefani auf dem Gang, dann wurde er flüsternd zu seiner Klage gegen die arrogante Hausleitung beglückwünscht. Aber öffentlich in der Kantine wagte ein Vierteljahr lang niemand, sich an Stefanis Tisch zu setzen. Auch nach der für Stefani erfolgreichen Beendigung des Prozesses änderte sich daran zunächst wenig, obgleich er in geheimer Wahl in den Personalrat und zu dessen Vorsitzenden gewählt wurde.

Sein Personalratsbemühen, die Kollegen zu emanzipieren, war allerdings kaum vom Erfolg gekrönt. Während sich in den westlichen Bundesländern schon lange ein akzeptiertes Verhältnis zwischen Personalrat und Verwaltungsspitze eingespielt hatte, herrschte im Osten fast überall noch „Krieg“. Knapp behinderte die Arbeit des Personalrates, wo er nur konnte, und in all den Jahren hatte es Stefani niemals erlebt, dass auch nur ein Mitarbeiter es gewagt hätte, in der Personalversammlung ein kritisches Wort an die Behördenleitung zu richten, die ähnlich feudalistische Rechte für sich beanspruchte, wie weiland die Kurfürsten oder die ersten Sekretäre der SED-Bezirksleitung.

Irgendwann hatte es Stefani nicht mehr in diesem System ausgehalten, wo Personalentwicklung mit Entlassung gleichgesetzt wurde und Vorgesetzte es als Zeichen von Faulheit und Schwäche brandmarkten, wenn jemand ein Seminar zur Mitarbeiterführung oder Mitarbeitermotivation belegen wollte.

Stefani löschte seine Zigarette. Es hatte zu schneien begonnen. Heute würde er nichts mehr erfahren.

Das Geheimnis des Bischofs

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