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Theatertreffen

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Pause im Wallenstein. Andreas Stefani saß im Foyer unter der Büste des Erzherzogs, der das Meininger Theater zur Blüte gebracht hatte. Nach wie vor lebte, litt und profitierte die ganze Stadt vom Theater, diesem größten Arbeitgeber der Stadt. Stefani hatte es kurzfristig übernommen, eine Kritik für die Thüringer Allgemeine zu schreiben. Die Kollegin, die sonst dafür eingeteilt war, hatte einen anderen Termin vorgezogen. Die Erfurter schauten immer ein wenig neidisch und missgünstig auf den Erfolg der Meininger Theatertruppe.

Das Theater Meiningen war aufgrund seiner Atmosphäre allemal eine Reise wert, aber Intendant Burkardt Ulrich war halt nicht zu ersetzen. Ohne angemessene Gagen zahlen zu können, einzig mit seinem mitreißendem Engagement und Charme hatte Ulrich nach der Wende die fähigsten Leute nach Meiningen geholt: Klaus-Maria Brandauer wirkte ebenso in Meiningen wie Loriot, August Everding, Brigitte Fassbaender, Mikis Theodorakis, Ephraim Kishon, Gunther Emmerlich und Angelica Domröse. Leider auch Rolf Hochhuth, der sich mit dümmlichem Mist treu blieb. Die Berliner Philharmoniker mit Claudio Abbado spielten fast umsonst, wie auch das Gewandhausorchester unter Kurt Masur. Binnen kürzester Zeit hatte sich Meiningen wieder die Zuschauerkreise aus Nordbayern und Südhessen zurückerobert, die schon vor der deutschen Teilung regelmäßig ins Theater nach Meiningen gekommen waren.

Stefani schrieb schon an seiner Kritik. Zwar konnte er sich mit der Abgabe in der Redaktion Zeit lassen, da der Artikel ohnehin frühestens in der Montagsausgabe erscheinen würde, aber Stefani war ein schneller Arbeiter, der ungern Dinge vor sich herschob.

Während er sich überlegte, ob Hans-Joachim Rodewald den Herzog von Friedland nicht doch etwas zu exaltiert spielte, sprach ihn eine junge Dame an. „Sind Sie nicht Andreas Stefani?“

„Ja!“ Stefani klappte das Notizbuch zu und erhob sich. Er konnte sich nicht erinnern, der jungen Dame schon einmal begegnet zu sein. Hübsch war sie; dunkle glatte schulterlange Haare, fröhliche Augen, kaum geschminkt, ein dunkelblaues sportlich elegantes Kleid mit schwarzem Gürtel, buntes Seidentuch um den Hals. Altersmäßig hätte die junge Frau seine Tochter sein können. – „Leider“ - konstatierte er selbstkritisch und bedauernd.

„Lea Rose“ stellte sie sich vor und streckte ihm die Hand zur Begrüßung hin. „Wie gefällt Ihnen das Stück?“

Stefani reichte ihr ebenfalls die Hand, wusste aber immer noch nicht so genau, wo er sie einordnen sollte. „Gehören Sie zum Theater?“ tastete er sich heran.

„Nein, ich bin nur eine schlichte Zuschauerin. Ich wollte Sie nur mal ansprechen, weil ich Ihre unkonventionelle Art gut finde. Sie waren ja häufiger mal im Fernsehen, und ich habe auch manches über Sie gelesen.“

„Was meinen Sie speziell?“ Stefani fühlte sich geschmeichelt. „Meine Klage gegen die Staatskanzlei? Oder mein Parteiwechsel? Oder haben Sie in Erinnerung, dass ich in grauer Vorzeit als Königsmörder meines Parteivorsitzenden angesehen wurde, oder meinen Sie den banalen Umstand, dass ich auf meinen Beamtenstatus verzichtet habe? Oder spielen Sie etwa auf mein Liebesleben an?“ Stefani lächelte.

Lea Rose strahlte ihn an: „Keine Angst, Ihr Privatleben soll ruhig privat bleiben, und ich möchte auch kein Autogramm. Aber ich würde Sie gerne etwas fragen. Haben Sie vielleicht nach der Aufführung noch Zeit für einen Cafe oder ein Glas Wein im Theaterrestaurant?“

„Gerne!“ Eine Fanfare kündigte das Ende der Pause an. „Gleich wenn Sie hoch kommen, links neben der Bar, ist ein kleiner Tisch, dort kann man sich relativ ungestört unterhalten.“

Rodewald spielte den Wallenstein wohl wirklich etwas zu exaltiert. Gleichwohl spendete ihm das Publikum frenetisch Beifall. Stefani würde es sich wieder einmal mit einer Mehrheit verderben. Vielleicht meinte das die junge Dame mit seiner „unkonventionellen Art“? Stefani verabschiedete sich noch von der immer hilfsbereiten und fröhlichen Pressechefin Renate Lange, deutete an, dass die Inszenierung bei ihm diesmal keine fünf Sterne bekommen würde, versicherte ihr aber seine unverbrüchlichen Zuneigung für das Meininger Theater und nahm die Abkürzung durch die Garderobenräume und über den Brückengang ins Restaurant.

Frau Rose saß schon im „Herzog Georgs Inn“, einen Rotwein vor sich. Stefani liebte die Atmosphäre an diesem Ort. Die Bedienung war immer besonders nett, das Essen schmeckte und war für die späten Abendstunden nicht zu opulent. Nebenan entwickelte sich die Premierenfeier wieder einmal so fröhlich und mitreißend, dass Stefani beschloss, Rodewald zu schonen und vielleicht doch noch einen halben Stern mehr zu vergeben.

„Waren Sie schon mal beim hiesigen Theaterball oder zum Sommerfest?“ begann er das Gespräch, während er sich auch einen Rotwein bestellte „Es gibt nichts Besseres. Da können sich der Bundespresseball oder die Berliner Sommerfeste der Landesvertretungen oder der Spitzenverbände und Ministerien glatt verstecken.“

Gebürtig aus Schleusingen, kaum 30 Kilometer entfernt, kannte Lea Rose natürlich die Veranstaltungen der Meininger, hatte aber keine Vergleichsmöglichkeiten. Nur einmal war sie zum Theaterball in Weimar gewesen. Spätestens danach ahnte sie allerdings, dass das Theater in Meiningen hinsichtlich des fröhlich-engagierten Zusammenwirkens wohl in einer anderen Kategorie spielte.

Sie unterhielten sich noch eine Weile über das Stück, dann legte die junge Frau Stefani die Hand auf den Unterarm. „Ich möchte ganz offen sein. Ich arbeite bei der Kripo in Erfurt und möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.“

Stefani zuckte leicht zurück.

„Keine Angst, es geht nicht um Sie direkt.“

Stefani wunderte sich etwas. Warum befragte sie ihn ausgerechnet in Meiningen, hatte sie ihm hier aufgelauert? Woher wusste sie, dass sie ihn hier finden würde? Er hatte es gestern selbst noch nicht gewusst. „Wollen Sie mich zu Burkhardt Ulrich befragen?“

„Meinen Sie den verunglückten Ex-Intendanten?“

„Naja, um seinen Tod ranken sich ja allerhand Spekulationen. Besonders, weil er angeblich kurz vor seinem Tod Einsicht in seine Stasi Akte genommen hatte. Immerhin war sein Vater Atomphysiker gewesen, er selbst hatte lange in Russland gelebt und war 1985 über Jugoslawien getürmt. Seine Akte war sicher nicht so ganz dünn, und nach wie vor ist nicht ganz klar, was er in Berlin gewollt hatte, und wer oder was seinen Wagen vor den Toren Berlins gegen einen Baum gesteuert hat. Seine Stasi Akte ist seither nicht mehr auffindbar.“

Sein Gegenüber schaute irritiert. Über Ulrich und seinen Tod hatte sich Lea Rose noch nie Gedanken gemacht, obwohl es ihr Beruf ja nahegelegt hätte. Irgendwie war ihr das Gespräch jetzt peinlich. Die Fragen, die sie sich anlässlich des zufälligen Zusammentreffens mit Stefani während der Pause überlegt hatte, kam ihr jetzt besonders banal vor. Aber da musste sie jetzt durch: „Herr Stefani, kennen Sie Frau Dr. Tamara Edelmann.“

„Warum fragen Sie mich das?“ Natürlich kannte er seine frühere Kollegin. Nach der allerersten Weihnachtsfeier der Staatskanzlei im verschneiten Gabelbach, als es noch intimer zuging und die Belegschaft noch nicht einmal ein Drittel der Sollstärke erreicht hatte, hatte er mit Tamara die Nacht in seiner eiskalten Wohnung verbracht. Er wohnte damals übergangsweise in einer Wohnung in der Rathenaustraße. Etwas anderes war in ganz Erfurt nicht zu finden gewesen. Die Wohnung gehörte einer angehenden Ärztin, die ein halbes Jahr Praktikum in Israel absolvierte. Fünfter Stock, Kohleheizung. Er war zu faul gewesen, die Kohlen aus dem Keller zu holen. Also hatte man sich eng aneinander kuscheln müssen. Schön war es gewesen. Tamara wollte anschließend die Beziehung zu ihm allerdings nicht intensivieren. Gelegentlich hatte er sie in der Registratur besucht, hatte einen Kaffee bekommen, und man hatte ein wenig geplaudert. Das alles wollte er aber keinesfalls der jungen Dame mitteilen, die ihm gegenüber saß, unter schon etwas staubigen Requisiten aus dem Theaterfundus.

Marianne Thielmann, sie hatte die Rolle der Thekla recht passabel gespielt, hatte sich von der benachbarten Premierenfeier gelöst und zog ihren Kollegen Stefan Scheel, ein begnadeter Elvis Presley-Interpret, hinter sich her. „Hallo Andreas! War es nicht toll?! Du glaubst nicht wie viel Spaß die Proben gemacht haben.“

Stefani beschloss, noch einen halben Stern dazuzugeben. Er stellte sie seiner Tischnachbarin vor, ohne sie allerdings zum Bleiben zu ermuntern. Die beiden merkten, dass sie störten und verabschiedeten sich rasch wieder.

Die Kommissarin nahm den Faden wieder auf und wurde deutlicher: „Ja, verzeihen Sie, natürlich kennen Sie Frau Dr. Edelmann. Sie müssen ja etliche Jahre mehr oder minder eng zusammen gearbeitet haben. Ich möchte Näheres über sie erfahren, weil sie seit Weiberfastnacht verschwunden ist.“

„Ach!“ Stefani begann sich etwas zusammenzureimen. „Und warum fragen Sie ausgerechnet mich? Es ist ja nun schon eine Weile her, dass ich in der Staatskanzlei gekündigt habe. Seitdem habe ich Tamara eigentlich auch nicht mehr gesprochen, allenfalls mal von Ferne gegrüßt.“

Lea Rose beugte sich zu ihm: „Die Staatskanzlei mauert. In bewährter Manier will Graus alles unter den Teppich kehren. Zur Staatsanwaltschaft muss ich Ihnen wohl nichts sagen, meine Leute haben auch schon den Schwanz eingezogen, und um das Bundeskriminalamt auf eigene Faust einzuschalten, fehlt mir der Mut.“

Stefani schaute sie an. Leider klang alles sehr plausibel. Mit der Kripo hatte er zwar noch nie zu tun gehabt, aber auch die Schutzpolizei gehörte nicht gerade zu den aktivsten Freunden und Helfern. Unten in seinem Haus zum ersten Schweinskopf war das Waffengeschäft der alteingesessenen Firma Weck. Ab und zu versuchten irgendwelche Dumpfbacken vergeblich, das dicke Sicherheitsglas des Schaufensters zu zerstören. Stefanis diesbezügliche Anrufe bei der Polizei wurden wohl auch im Vertrauen auf das Panzerglas geflissentlich ignoriert. Neulich war es irgendwelchen jugendlichen Idioten aber tatsächlich gelungen, ein größeres Loch in die Scheibe zu klopfen, mit der Hebelwirkung einer Eisenstange war es nur noch eine Frage von Minuten, bis sie zu den scharfen Waffen vorgedrungen wären. Wieder hatte keiner auf Stefanis Alarmierung reagiert. Erst sein wütender Anruf bei der Zentralen Leitstelle der Landesregierung ließ zwei Streifenwagen auftauchen, allerdings mit Sirene, so dass die beiden Täter rechtzeitig flüchten konnten. Stefani konnte den Beamten nicht wirklich böse sein. Dafür, dass diese Menschen unbestechlich sein müssen, halbe Juristen, ganze Psychologen, sportlich fit, nervenstark, immun gegenüber Beleidigungen und darüber hinaus erbärmlich schlecht bezahlt werden, war er froh, dass überhaupt noch jemand Polizist werden wollte. Und gerade die jüngeren Beamten und Beamtinnen gaben durchaus wieder zu Hoffnungen Anlass. Andererseits konnte Stefani durchaus verstehen, dass diese ausgebeuteten Leute sich nicht auch noch mit den Chefs anlegen und sich damit jeder Karrierechance berauben wollten. „Die Durchsuchungsaktion letzten Dienstag stand wohl im Zusammenhang mit dem Verschwinden zu Weiberfastnacht?“

„Ja.“

„Weiberfastnacht ist Tamara Edelmann verschwunden, und erst zwölf Tage später wird nach ihr gesucht?“

„Ich sagte schon, die Staatskanzlei mauert, und wir werden von ganz oben gebremst. Eigentlich hatte ich deshalb auch keine Lust mehr und wollte die Ermittlungen schon einstellen, aber dann sah ich Sie zufällig vorhin im Foyer. Sie haben ja ausreichend Erfahrung mit der Widerborstigkeit der Staatskanzlei und mit politischen Verstrickungen. Vielleicht können Sie mir ein wenig helfen?“

„Was wollen Sie genau wissen?“

„Alles, was Sie mir über Frau Dr. Edelmann sagen können.“

Stefani musste sich eingestehen, dass er relativ wenig über Tamara wusste. Er erinnerte sich an einen großen Leberfleck am Oberschenkel, aber das war wohl nicht die Art von Information, die für eine Kripobeamtin von allergrößtem Gehalt war.

Tamara war immer sehr unauffällig. Sie mochte Mitte 40 sein, vielleicht aber auch schon älter, zumindest hatte sie schon etliche graue Haare. Sie war der Typ, der mit 60 fast genauso aussieht wie mit 20. Nicht hübsch, aber auch nicht unansehnlich; irgendwie indifferent. Ihr genaues Geburtsdatum hatte er mal gewusst, aber wieder vergessen. Er erinnerte sich jedoch, dass sie jeweils im gleichen Monat wie er Geburtstag feierte. Tamara war nicht unbedingt kreativ, aber ganz gewiss auch nicht dumm. In jedem Fall war sie für die Tätigkeit als Sachbearbeiterin in der Registratur entschieden überqualifiziert.

Dr. Edelmann war eines dieser beklagenswerten Wendeopfer, die zu DDR Zeiten noch Verantwortung in einem Betrieb trugen, aber nach 1989 dazu verdammt waren, Tätigkeiten zu verrichten, für die ein Studium nicht erforderlich gewesen wäre.

Mitte der 80er Jahre hatte sie noch energisch in der Optima die Entwicklung der elektronischen Kleinschreibmaschine der Baureihe S 3000 vorangetrieben. Nach der Wende war dieses Modell nicht mehr konkurrenzfähig gewesen. Zuverlässig und verantwortungsbewusst hatte Tamara Edelmann noch die Abwicklung ihrer Abteilung überwacht, alle Mitarbeiter mit guten Zeugnissen in die Marktwirtschaft entlassen und dann als Letzte der Entwicklungsabteilung das Licht ausgemacht. Die ihr einst Unterstellten hatten meist schon neue Arbeitsplätze in neuen Unternehmen oder in der Verwaltung gefunden.

Unter Stellengesichtspunkten hatte in Erfurt eine Goldgräberzeit begonnen, als die vormalige Bezirkshauptstadt von den frei gewählten Landtagsparlamentariern mit 48 zu 44 Stimmen zur Hauptstadt Thüringens gewählt worden war. Danach galt es, in kürzester Zeit viele tausend Verwaltungsstellen neu zu besetzen. Oft reichte schon ein Vorsprechen beim Pförtner, um noch am gleichen Tag mit einem Arbeitsvertrag in der Tasche nach Hause zu kommen, auf dem die Worte Bayerisches Ministerium oder Hessisches Ministerium oder Rheinland-Pfälzer Ministerium nur notdürftig durchgestrichen und durch Thüringer Ministerium ersetzt worden waren. Wer zuerst kam, mahlte zuerst. Frau Dr. Edelmann kam als Letzte. Die Häuptlingspositionen waren vergeben, sie musste sich unten einreihen. Eine Tätigkeit in der Registratur war nicht gerade das, was sie sich während ihres Physikstudiums in Ilmenau erträumt hatte, aber sie musste froh sein, durch persönliche Vermittlung des Bischofs, der sie zu DDR-Zeiten als engagierte Katholikin kennengelernt hatte, überhaupt noch einen sicheren Arbeitsplatz bekommen zu haben. Immerhin waren weit mehr als 50 Prozent ihrer Landsleute inzwischen arbeitslos oder im Vorruhestand oder in einer sinnlosen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme abgelegt, und es war keineswegs besonders selten, dass sich die Hierarchieverhältnisse nach der Wende umgekehrt hatten.

Das Theaterrestaurant leerte sich langsam. Lea Rose hatte sich ein paar Notizen gemacht. Stefani schaute sie an: „Viel geholfen haben Ihnen diese Informationen wohl nicht. Vielleicht kann man es so zusammen fassen: Tamara ist eine freundliche, bescheidene und wohl auch recht einsame graue Maus. Im kalten Krieg zwischen Ost und West waren solche Frauen bevorzugtes Opfer der sogenannten Romeo-Spione.“

„Sind Sie sicher, dass Frau Edelmann keine Beziehung hatte?“

Stefani lächelte mehrdeutig: „Ich denke, ab und zu wird sie schon eine Bekanntschaft gehabt haben.“

„Niemals etwas Festeres?“

Stefani überlegte. Von einer festeren Beziehung hatte er nie etwas gemerkt. Auch in ihrer Jugend und Studienzeit war sie wohl eher eine Einzelgängerin. Andererseits, wenn da etwas war, z.B. mit einem verheirateten Mann, dann war sie mit Sicherheit so diskret, dass es ihre Umgebung niemals merken würde. „Wie kamen Sie auf die – verzeihen Sie – doch etwas absurde Idee, Tamara zwei Wochen nach ihrem Verschwinden ausgerechnet in der Staatskanzlei zu suchen?“

„Wir müssen davon ausgehen, dass sie Weiberfastnacht das Gebäude nicht mehr verlassen hat.“

Andreas Stefani schaute sie völlig verständnislos an: „Es gibt doch jede Menge Überwachungskameras. Da muss sich doch herausfinden lassen, wann sie gegangen ist.“

„Das Filmmaterial sagt uns, dass sie das Gebäude nicht verlassen haben kann.“

Stefani fühlte sich bestätigt, dass sich da in der Tat etwas Dramatisches anbahnen könnte, was wert war, intensiv verfolgt zu werden. Andererseits bezweifelte er, dass die Polizei die Videobänder penibel genug überprüft hatte: „Haben Sie die Videos noch?“

„Ja, die Staatskanzlei bestand zwar auf einer raschen Rückgabe, aber ich habe mir die etwas veralteten Videobänder auf eine CD kopiert.“

„Wenn es Ihnen Recht ist, dann komme ich gleich morgen mal vorbei, und wir schauen uns die Aufzeichnungen zusammen an. Ich kenne die Mitarbeiter und deren Gewohnheiten. Vielleicht fällt mir etwas auf, was Ihnen bisher entgangen ist.“

Sie verabredeten sich für 10 Uhr am Eingang zur Polizeidirektion in der Andreasstraße. Stefani gefiel diese gradlinige Kommissarin, und sie vermittelte ihm das Gefühl, gebraucht zu werden. So motiviert konnte er zur Höchstform auflaufen.

Auf dem Parkplatz am Werra-Ufer verabschiedeten sie sich. Lea Rose übernachtete bei ihren Eltern in Schleusingen. Stefani fuhr zurück nach Erfurt. Trotz der späten Stunde ließ er sich Zeit und fuhr nicht durch den neuen Rennsteigtunnel, sondern nahm, wie in früheren Zeiten, die Bundesstraße durch Zella-Mehlis und über den Kamm des Thüringer Waldes bei Oberhof. Er liebte diese Strecke, vor allem bei Nacht. Die klare Luft ließ die Sterne besonders nahe erscheinen. Hier hatte er auch den riesigen Kometen Hale Bopp Anfang 1997 entdeckt; schon etliche Tage, bevor die Zeitungen über ihn zu schreiben begannen.

Tamara als Opfer eines Verbrechens? Oder gar Selbstmord? Irgendwie passte so etwas überhaupt nicht zu ihr, obwohl Stefani immer schon gefühlt hatte, dass sie ein Geheimnis mit sich herumtrug. Gleich nach der Wende war dies noch deutlicher als heute. Stefani hätte auf eine Stasi Verbindung getippt, aber offensichtlich hatte sie die Gauck-Überprüfung schadlos überstanden.

Obwohl – Stefani hatte sich in der ersten Nachwendephase fast immer auf sein Gespür verlassen können, das ihm recht zuverlässig sagte, wann er einen Stasi-Belasteten vor sich hatte. Bei Männern war er ein wenig unsicher, aber bei Frauen stimmte normalerweise sein erster Eindruck. Meist war es der Blick, der sein Interesse weckte: Leer, enttäuscht, niedergedrückt. Ein Blick, der ihm erstmals 1989 bei den ausgesprochen hübschen Kellnerinnen im Cafe des Schloss Sanssouci aufgefallen war. Aber er fand diesen Blick auch bei jenen einst von der guten Sache des Sozialismus allzu überzeugten Protagonistinnen, die gesellschaftlich eine gewisse Rolle gespielt hatten, gleichgültig, ob er ihnen nun im Theater begegnete oder im Kaufhaus oder an ihrer Noch-Arbeitsstätte. Die gerade Haltung des Körpers, der stolze, oft leicht arrogante Gesichtsausdruck passte nicht mehr zur inneren Hoffnungslosigkeit.

„Nein, Tamaras Verschwinden muss eine ganz andere Ursache haben,“ murmelte er, während er die letzte Zigarette im überfüllten Aschenbescher seines leidgeprüften uralten Polo ausdrückte und den Wagen auf dem kleinen Parkplatz vor der Staatskanzlei abstellte.

Das Geheimnis des Bischofs

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