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Vom engen Bonn in geistige Welten

Kein Sonntagskind am Rhein

Beethoven lebt nicht mehr in Bonn, er ist seit fast zehn Jahren in Wien und längst berühmt, da lässt er sich aus seiner Heimatstadt ein nicht sehr großes, im Lauf der Zeit immer dunkler gewordenes Ölgemälde kommen. Es hängt von da bis an sein Lebensende an der Wand aller seiner Arbeitszimmer: der Großvater Louis van Beethoven. Der trägt denselben Vornamen wie sein Enkel, ist nach dessen Geburt der Taufpate und hat einen der zentralen Plätze in Ludwigs Seele.

Geboren in einer flämischen Bauern- und Handwerkerfamilie, hat er sich zum Solobassisten und Chorleiter in Löwen und Lüttich hochgearbeitet. Er ist einundzwanzig, da wird der Kölner Kurfürst und Erzbischof Clemens August auf ihn aufmerksam. Dessen Hof – die Bürger Kölns sind ihm allzu selbstbewusst – residiert in Bonn. Louis van Beethoven tritt als Solist in die kurfürstliche Kapelle ein. Er heiratet Maria Josepha Ball, lebt mit ihr in der Rheingasse 934.


Von den drei Kindern, die dem Paar geboren werden, überlebt das Kindesalter nur eines, Johann, der spätere Vater Beethovens. Großmutter Maria Josepha hat den Tod zweier ihrer Kinder offenbar nicht verwunden, sie ergibt sich dem Alkohol; der Großvater lässt sie irgendwann Mitte des Jahrhunderts in einem zu einer Aufbewahrungsanstalt umgewandelten Kölner Kloster verschwinden. Er ist knapp fünfzig, lebt alleinerziehend mit dem Sohn Johann, da befördert ihn 1761 der neue Kurfürst Maximilian Friedrich vom Gesangsolisten zum Hofkapellmeister. Von seiner Wohnung in der Rheingasse zieht er in die Bonngasse 386. Sohn Johann Beethoven zieht 1768, nachdem er gegen den Willen des verärgerten Vaters geheiratet hat, mit seiner Familie einige Häuser weiter ins Haus Bonngasse 515; heute trägt das Gebäude die Nummer 20 und beherbergt das Beethoven-Haus (das Bild des Großvaters hängt heute dort). In ihm wird Ludwig geboren.

Wie in der Musik wiederholen sich die Motive, unverändert oder in abgewandelter Form, auch in Familienromanen. So taucht die Trunksucht der Großmutter Beethovens in der nächsten Generation wieder auf. Ihr Sohn Johann wird den Erwartungen seines in Bonn so erfolgreichen Vaters nicht gerecht, auch er entwickelt im Lauf seines Lebens eine immer stärker werdende Neigung zum Alkohol. Er bringt es immerhin zum Tenoristen der Bonner Hofkapelle, ist in seinen besseren Zeiten ein angesehener Musiklehrer und versucht erfolglos, dem übergroßen Schatten des Vaters durch die eigenmächtige Heirat mit Maria Magdalena, der Tochter des kurfürstlich-trierschen Oberhofkochs Keverich aus Ehrenbreitstein, zu entkommen. Beethovens Großvater und Vater, ein weiteres Lebensmotiv dieser Familie, sind in ihren Ehen unglücklich. Beethoven selbst wird die Partnerwahl gänzlich misslingen. Auch er wird in abgewandelter Form einen Hang zum alleinigen Erziehen eines männlichen Familienmitglieds entwickeln. Er wird nie trunksüchtig sein, aber auch sein Verhältnis zum Alkohol wird ein nicht unerhebliches Restrisiko bergen.

Großvater Louis stirbt Weihnachten 1773. Sein ihn lebenslang verehrender Enkel kennt den Alten eher aus Erzählungen der Nachwelt. Irgendwann vor Ludwigs sechstem Geburtstag ziehen seine Eltern mit ihm und den beiden inzwischen zur Welt gekommenen Brüdern aus der Bonngasse, mit einer kurzen Zwischenstation im Dreieck 7, ins selbe Haus in der Rheingasse, in dem schon der Großvater wohnte. In den Räumen unter ihnen leben seit langem die Vermieter, der Bäcker Theodor Fischer und seine Familie. Bäckersohn Gottfried Fischer und seine Schwester Cäcilia haben sechzig Jahre später aus der Erinnerung viel zu erzählen, als die musikliebende Welt in den 1830er Jahren nach Bonn strömt, um über die frisch verstorbene Bonner Weltberühmtheit Ludwig van Beethoven alles zu erfahren. »Er lag eines Morgens im Fenster seines Schlafzimmers nach dem Hof zu«, heißt es da etwa über die Wesensart des kleinen Ludwig, »hatte den Kopf in beide Hände gelegt und sah ganz ernsthaft aus. Cäcilia Fischer kam über den Hof und rief: Wie siehts aus, Ludwig? Keine Antwort. Später fragte sie ihn, was das zu bedeuten gehabt hätte, keine Antwort sei ja auch eine Antwort. O nein, sagte er, entschuldige, ich war da in einen so tiefen schönen Gedanken versunken, dass ich mich gar nicht stören lassen konnte.«

Der Vater erteilt ihm früh schon Unterricht am Klavier, auf Geige und Bratsche. Das erscheint umso dringlicher, als der Kleine beim Lehrer Huppert in der Elementarschule und später in der Münsterschule nur das Notwendigste lernt, am besten wohl noch Lesen. Das Schreiben fällt ihm zeitlebens schwer; »ich schreibe lieber 10 000 Noten als einen Buchstaben«, heißt es in einem seiner Briefe. Und im Rechnen scheitert er, der später in vielen Meisterwerken eine Unzahl verschiedener Stimmen nach hochkomplizierten Regeln ganz neuartig koordiniert, an der einfachsten Multiplikation. Cäcilia Fischer will den Kleinen auf einem Bänkchen am Klavier stehen gesehen haben, Tränen in den Augen. War der Vater ungeduldig, war er streng oder gar gewalttätig? Immerhin erkannte er, dass die Begabung seines Sohnes bedeutender war, als die eigenen pädagogischen Fähigkeiten. Er zog Musikerkollegen wie den Hofsänger Tobias Pfeiffer hinzu. »Oft, wenn Pfeiffer mit Vater Beethoven spät aus dem Weinhause kam«, heißt es, »wurde der Knabe aus dem Bett geholt und bis zum Morgen am Clavier festgehalten, ein Verfahren, welches für seine Fortschritte in der Schule nicht eben vorteilhaft war.« Wirkliche Fortschritte macht der kleine Ludwig, als der Organist, Komponist und Dirigent Christian Gottlob Neefe ins Bonner Hoforchester eintritt und sein Lehrer wird. Neefe, 1748 in Chemnitz geboren, hat als Musikstudent die »Leipziger Schule« durchlaufen; er macht seinen Schüler mit der damals selbst bei Berufsmusikern in Vergessenheit geratenen Musik Johann Sebastian Bachs (1685–1750) und seines, zu der Zeit berühmteren und eine damals aufregend moderne Musik komponierenden Sohnes Carl Philipp Emanuel (1714–1788) bekannt. Die Begabung des gerade ins Teenie-Alter hineinwachsenden Musikerkinds Beethoven erscheint Neefe so vielversprechend, dass er ihn in einer seiner Korrespondenzen in Cramer’s Magazin vorstellt. Mozart (1756–1791), den er dabei als Maß aller Dinge erwähnt, hat im fernen Wien 1782 gerade seine Entführung aus dem Serail herausgebracht:

Ludwig van Beethoven […] ein Knabe von elf Jahren und von vielversprechendem Talent. Er spielt sehr fertig und mit Kraft das Klavier, liest gut vom Blatt, und um alles in einem zu sagen: Er spielt größtenteils das wohltemperierte Klavier von Bach, welches ihm Herr Neefe unter die Hände gegeben. Wer diese Sammlung von Präludien und Fugen durch alle Töne kennt (welche man fast das Nonplusultra nennen könnte), wird wissen, was das bedeutet. Herr Neefe hat ihm auch, sofern es seine übrigen Geschäfte erlaubten, einige Anleitung zum Generalbass gegeben. Jetzt übt er ihn in der Composition. […] Dieses junge Genie verdiente Unterstützung, dass er reisen könnte. Er würde gewiss ein zweiter Wolfgang Amadeus Mozart werden, wenn er so fortschritte, wie er angefangen.

Seltsam die Altersangabe. Die Notiz erscheint im März 1783, da ist Beethoven dreizehn und nicht elf. Er hat sich, bis heute rätselhaft, noch spät im Leben und sogar gegen den Nachweis des ihm vorgelegten Taufschein-Originals zwei Jahre jünger gemacht. Aber selbst mit dreizehn ist er für die damalige Zeit ein ungewöhnlich junger Hofmusiker. Ab 1784 arbeitet er als Neefes Assistent an der Orgel und wird dafür mit 150 Gulden entlohnt. Er ist als Bratscher Teil der Hofkapelle. Wenn Neefe den Kapellmeister Lucchesi vertritt, ersetzt ihn Beethoven am Cembalo auch als musikalischer Leiter des Hoftheaters und legt durch permanentes Spiel aus der Partitur die Grundlage für seine später allseits bewunderte Fähigkeit, die schwierigsten Werke vom Blatt zu spielen.

Er ist sechzehn, da schickt man ihn, vielleicht Neefes Anregung folgend, zur Ausbildung bei Mozart nach Wien. Ob er dem in seiner Wohnung in der Großen Schulerstraße hinterm Stephansdom gerade den Don Giovanni vorbereitenden Maestro tatsächlich begegnet, ist unklar. Seinen Wienbesuch muss er schon nach zwei Wochen abbrechen, die Mutter in Bonn liegt mit Schwindsucht im Sterben. Ihr Tod wirft den offenbar ohnehin nicht sehr willensstarken Vater, der nun auch noch sein Instrument, die Stimme, zu verlieren beginnt, mehr und mehr aus der Bahn. Der Sohn, keine achtzehn Jahre alt, übernimmt als Oberhaupt und Ernährer die Verantwortung für die mutterlose Familie. Der Kurfürst, das ist seit 1784 der Habsburger Maximilian Franz, entspricht schließlich Ludwigs Bitte, seinem Vater nur noch die Hälfte des Gehalts auszuzahlen, die andere Hälfte dem künftig für seine beiden Brüder Kaspar Karl und Nikolaus Johann und den Vater verantwortlichen Sohn.

Ludwig van Beethoven. 100 Seiten

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