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Komm ins Offene, Freund!

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Die kleine Residenzstadt Bonn hat zu Beethovens Zeit etwa 9600 Einwohner. Sie ist einer der unzähligen kleinen Landesflicken im großen Teppich dessen, was seit dem Spätmittelalter »Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation« heißt. Beethoven hat als Kind und Heranwachsender die Agonie der letzten Tage dieses Gebildes miterlebt.

Er wird in die Endzeit dessen hineingeboren, was wir »Barock« nennen. Die drei »Kurfürstensonaten« des Dreizehnjährigen sind angeregt von der Klaviermusik des in London lebenden Bachsohns Johann Christian, von der Mannheimer Schule und Wolfgang Mozart, sie lösen sich alle auf je eigene Art in dieser Zeit aus dem vorherrschenden Regelwerk. Beethoven widmet die Sonaten dem Kurfürsten Maximilian Friedrich (1708–1784), einem Barockherrscher, der sich den in Europa immer stärker verbreitenden Gedanken der Aufklärung öffnet. Er richtet in Bonn eine »Armenkommission« ein, sorgt für ein »Medizinalkollegium«, ein botanischer Garten wird eröffnet, die Schlossbibliothek bekommt ein öffentliches Lesezimmer, das Hoftheater steht den Gebildeten für einige Zeit kostenlos offen. Finanziell ermöglicht werden diese Maßnahmen nicht zuletzt durch die mit Auflösung des Jesuitenordens 1773 frei werdenden Mittel. In bewusster Abgrenzung zur fundamentalistisch-katholischen Kölner Universität sorgt der Premierminister des Kurfürstentums, Caspar Anton von Belderbusch, 1777 für eine Bonner Akademie. Maximilian Franz, der Nachfolger Max Friedrichs macht sie 1786 zur Universität. Beethoven besucht Vorlesungen wie die des Literaturprofessors Eulogius Schneider. In dessen Gedichten, 1790 gedruckt, Beethoven ist einer der Subskribenten, finden sich Verse, radikal wie der Epochenbruch, den der Sturm der Bevölkerung auf die Bastille, das Pariser Stadtgefängnis, am 14. Juli 1789 auslöst.

Gefallen ist des Despotismus Kette,

Beglücktes Volk von deiner Hand!

Der Fürsten Thron wird dir zur Freiheitsstätte,

das Königreich zum Vaterland.

»Vaterland«, das ist für den jungen Beethoven und die wachsende Zahl seiner Bonner Freunde und Kollegen angesichts des dahinsiechenden, ethnisch und geografisch zerstückelten und nie zum Staat gewordenen »deutsch-römischen« Großreichs, in dem sie leben, eine politische Vision. Die Eliten der Zeit sprechen französisch, in der Oper wird italienisch gesungen, das Deutsche ist Medium und Vehikel für die ersehnte staatliche Einheit, im deutschen Sprachraum auch das Idiom der Aufklärung. Maximilian Franz fördert nach dem Vorbild seines Bruders, des aufgeklärt despotischen Wiener Kaisers Josef II., in diesem Sinn mit der Gründung eines Nationaltheaters 1788 auch in Bonn die deutsche Bühnenkunst. Seit Lessing, Herder, Schiller, Goethe und für Musikfreunde besonders seit Mozarts »deutschem Singspiel« von der Entführung aus dem Serail (in Bonn schon 1783 erstmals gegeben) hat sich das Deutsche in dieser Zeit intensiv entwickelt. In Beethovens einziger Oper Fidelio wird zwanzig Jahre später deutsch gesungen, sie beginnt als Singspiel.

 3 Klaviersonaten Es, f, D »Kurfürstensonaten« WoO 47 (1783)

 3 Klavierquartette Es, D, C WoO 36 (1785)

 Trio für Klavier, Flöte, Fagott G WoO 37 (1786)

Auf Initiative Belderbuschs, er ist auch Intendant des Theaters, kommen in Bonn schon 1782 Schillers Räuber auf die Bühne, 1783 die Uraufführung des Fiesco, für damalige Verhältnisse rebellische, ja revolutionäre Stücke. Der zwölfjährige Ludwig wird sie kaum gesehen, aber die Aufregung mitbekommen haben, die sie im Geistesleben der kleinen Residenzstadt am Rhein auslösten. Die aufregenden Gedanken, denen der seine bescheidene Grundschulbildung von nun an ganz im Sinn der Aufklärung ständig ergänzende und ausbauende Jüngling in Bonn erstmals begegnet, lassen ihn nicht mehr los; er entwickelt einen lebenslangen Bildungsbärenhunger.

Die Französische Revolution, deren Zeitgenosse der 19-jährige Beethoven ist, ist kein Regime-, sondern ein Systemwechsel. Sie ersetzt die Herrschaft einer überlebten Klasse durch die einer aufstrebenden, mit der ungeheuren Dynamik einer neuartigen Ökonomie verbundenen Klasse. Ihre seit langem in der Luft Europas liegenden Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, ihre politischen Vorstellungen von einer zentralstaatlichen Nation, von Republik und aus der Antike auferstandener Demokratie entflammen die Köpfe auch in Bonn. Aufklärung, das heißt, zu fragen, statt hinzunehmen, heißt, dem Gegebenen seine selbstbehauptete Alternativlosigkeit zu nehmen, die Welt zu erforschen, auf den Begriff zu bringen und selbst in die Hand zu nehmen. Nach Kants berühmten Worten ist Aufklärung »der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«. »Sapere aude!«, lautet die Parole: Habe den Mut, dich ohne Einflüsterungen von außen deines Verstandes zu bedienen. In den Worten des Dichters Friedrich Hölderlin, im selben Jahr geboren wie Beethoven: »Komm ins Offene, Freund!«


Ludwig van Beethoven. Miniatur von Christian Hornemann, 1803

Was immer der mit einem Minimum an Bildung ins geistige Leben gestartete Beethoven von Kant, dem Philosophen der Aufklärung, gelesen und verstanden hat: Radikal wie wenige seiner Zeitgenossen beginnt er, dessen Kerngedanken zu leben: Der Mensch ist kein ›Geschöpf‹ mehr, sondern Prometheus’ Kind, der kritisch sich selbst bewusste und reflektierende ›Schöpfer‹ seines Lebens. »Der bestirnte Himmel über uns«, schreibt der ältere Beethoven in eines seiner Konversationshefte, »und das Sittengesetz in uns, Kant!!!« An der Seite der Berechnungen des Franzosen Pierre-Simon Laplace gilt Kants Theorie von der Entstehung der Planeten und des All in der Astronomie bis heute; Beethoven hat die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) wohl als einzige von Kants Schriften definitiv gelesen und sich in seinem Tagebuch Stellen herausgeschrieben. Kant entzaubert den Himmel, die katholische Kirche setzt ihn auf den Index, der Adel verachtet ihn. Der Musikschriftsteller Guiseppe Carpani nennt Beethoven in seiner Haydn-Biografie von 1823 den »Kant der Musik« (Franz Michael Maier).

Tor, wer die Augen blinzelnd dorthin richtet,

Sich über Wolken seinesgleichen dichtet;

Er stehe fest und sehe hier sich um;

Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.

Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!

Was er erkennt, lässt sich ergreifen.

So Goethes Faust, die Epoche machenden Gedanken in Poesie verwandelnd. Gott wird vom geistigen Körperteil zur mehr oder minder frei gewählten Weltanschauung, vom Dogma zur offenen Frage. Beethoven, wie alle Geistesmenschen dieser Zeit, befasst sich intensiv mit orientalischer, fernöstlicher Dichtung. Die Welt, so ein Eintrag in seinem Tagebuch, ist entstanden durch den »Zusammenlaut der Atome des Akkords«. Worte wie »unwandelbarer Ursprung« kritzelt er in sein Büchlein. Es fällt schwer, hinter der von der Wissenschaft täglich überzeugender beschriebenen, unfassbar harmonischen Einrichtung des – leider nicht unberührbaren – Akkords der Natur keine wie immer geartete höhere Vernunft zu vermuten. Felix Mendelssohns Vater, sechs Jahre jünger als Beethoven, bringt es in einem Brief an seine Tochter Fanny auf den Punkt:

Ob Gott ist? Was Gott sei? Ob ein Teil unserer Selbst ewig sei und, nachdem der andere Teil vergangen, fortlebe? und wo? und wie? – Alles das weiß ich nicht und habe Dich deswegen nie etwas darüber gelehrt. Allein ich weiß, dass es in mir und in Dir und in allen Menschen einen ewigen Hang zu allem Guten, Wahren und Rechten und ein Gewissen gibt, welches uns mahnt und leitet, wenn wir uns davon entfernen. Ich weiß es, ich glaube daran, lebe in diesem Glauben und er ist meine Religion.

Die Aufklärung wird in der französischen Revolution zur materiellen Gewalt. Die tausendjährige Lufthoheit der Religion über die Köpfe und Herzen Europas erodiert. »Man war vielleicht bisher gewohnt, unter Köln sich ein Land der Finsternis zu denken, in dem die Aufklärung noch keinen Fuß gefasst«, schreibt ein Zeitgenosse nach einem Besuch. »Köln«, das ist das Kurfürstentum mit seiner Residenz Bonn. »Man wird aber ganz anderer Meinung, wenn man an den Hof des Kurfürsten kommt. Besonders an den Kapellisten fand ich ganz aufgeklärte, gesund denkende Männer.« Die Mitglieder der offensichtlich exzellenten Bonner Hofkapelle, unter ihnen so namhafte Musiker wie der Flötist Antonin Reicha, der Hornist und nachmalige Verleger Nikolaus Simrock und der Geiger Franz Anton Ries, sind die Ersten, die das berufliche Selbstbewusstsein ihres ehrgeizigen jungen Orchesterkollegen stärken. Sie bewundern ihn für sein virtuos phantasievolles Klavierspiel; es wird von Zeitgenossen als kraftvoll, brillant und besonders ausdrucksstark, von auf den eher geschmeidig süßen Zeitgeschmack orientierten Anderen als »grob« und »rauh« beschrieben.

In Gesellschaft wappnet er sich mit oft schroffem Selbstbewusstsein. Aber tief innen ist er timide und allein. Die Kindheit war kein Honigschlecken. Die Schulbildung unvollkommen. Der Vater keine Stütze, eher ein Sorgenkind. Jung und unbeschwert? Sind vielleicht andere. Halt, Trost, Schutz und einen Lebenssinn findet er in der Musik. Da merkt er, dass es lohnt, sich zu schinden und mit sich zu kämpfen für die beste Lösung, Stärke zu entwickeln und eine Überlegenheit, die nichts mit Herrschaft zu tun hat, aber mit Guttun. Er spürt, dass seine Art zu musizieren andere rührt und aufregt, das tut gut. Die anderen tun ihm gut. Und er hat etwas zurückzugeben, die Musik ist gut für ihn, er beherrscht sie. In ihr darf er im schönsten und besten Sinn heftig und ungezügelt sein. Nichts ist da glatt. Auch die Perfektion seiner Werke, ihre Vollkommenheit, wenn er gereift sein wird, wird nicht glatt sein. Das Krude, Ungebärdige erlöst in seiner Musik nur ganz erstaunliche Energien. Und fügt sich zu immer neuen Gestalten von bis dahin ungekannter Schönheit und einer Tiefe und Süße, der die Dunkelheiten und Schmerzen der Kindheit und Jugend kaum anzumerken sind. Ein unfassbar richtiges Maß findet er nur in der Musik. Sein Wesen wird in vielem auf hilflose Art maßlos bleiben – Gott und Weltkind in einem.

Ludwig van Beethoven. 100 Seiten

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