Читать книгу "Kriegt wer wen?" – Vom Ende im Anfang der Liebe - Stefan Sprang - Страница 3

PROLOG: Als Kanada zu uns kommt …

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… verwandelt sich alles. Vor allem meine Zukunft.

„Kanada“ steht in der Mitte der Pausenhalle. Sie könnte Einssechzig groß sein, aber auch kleiner. Ihre Strahlkraft mindert das nicht. Sie ist ein Leuchtturm inmitten der Wogen. Ich weiß noch nicht, dass sie Brandi heißt, aus Toronto kommt, Austauschschülerin ist. Sie steht dort, namenlos und regungslos, ein heimliches Zentrum in einem Wirbel aus Schülern. Die rennen herum, stoßen aneinander, werden auf neuen Kollisionskurs geschleudert, halten kurz inne mit dem instinktiven Willen, sich weiter treiben zu lassen – der Stillstand wird folgen.

Vor dem Schwarzen Brett drängen sich jene, die noch nicht ihre neuen Stundenpläne abgeschrieben haben; vorsätzlich fallen gelassenes Papier von Schokoriegeln segelt auf glänzend gebohnerte Fliesen, die das Stimmengewirr vervielfachen.

Das Bild habe ich niemals vergessen. Es ist, wie ein Dichter es einst beschrieben hat: Man wird es noch finden können, wenn ich gestorben bin. Man könnte mich obduzieren und nachschauen, da wäre es: im Hirn und im Herzen, vielleicht wären die Farben ausgebleicht. Aber es wäre da.

Brandi ist sechzehn. Schwarzes Haar fällt auf schmale Schultern, ein Pony schwebt dichten Augenbrauen entgegen. Ihre Augen aber sind blau, so leuchtend wie die roten Klammern, die ihre Frisur in Strähnen bändigen. Die Arme hat sie vor der Brust verschränkt. Diese Geste habe ich später immer wieder bei Frauen beobachtet: Wenn sie Schutz suchen, weil die Welt ihnen mal wieder oder schon seit langem nicht geneigt genug erscheint. Oder wenn sie dies behaupten wollen. Oft klemmen sie dazu die Säume ihrer stets zu langen Ärmel in die Hand. Nicht Brandis Art. Stattdessen umklammert sie vor einer dunkelgrünen Strickjacke mit zu langen Ärmeln eine Mappe, ein Element mehr in jenem Bollwerk, das sie in diesem Moment sein möchte. Ich sehe, wie sie die fremde Luft einsaugt und mit unauffälligen Blicken die unbekannten Jungen und Mädchen beobachtet.

Ich habe sie noch nie gesehen, sie muss also eine neue Schülerin sein. Denkt sie, dass dies der erste Tag einer neuen abenteuerlichen Zukunft ist, der sie eigentlich mit offenen Armen begegnen sollte? Ich kann mich nicht entscheiden: Sieht sie „nett“ aus? Darin liegt kein Geheimnis. Ist sie „süß“? Das wäre herablassend. Oder „hübsch“? Das wäre zu wenig. Es ist etwas, für das ich noch kein Adjektiv habe. Auch ich stehe nun reglos, sie ist ein Pol, ich bin der andere, spiegele ihre Haltung und blicke sie geradeheraus an. Es ist ein Versprechen, in dem ich mich verliere für die kommenden Wochen. Dann ist Brandi verschwunden. Und ich stehe dort immer noch und merke erst jetzt, wie still es geworden ist. Die Stunde hat begonnen.

Was ich damals vor dreißig Jahren nicht bedacht habe: Ich war nicht der einzige, dem Brandi aufgefallen ist. Alexander, der Adlige; Jens, der Athletische; Marcus, der Rebellische; Sascha, der Schönäugige – sie alle wurden im Schatten ihrer Phantasien zu Insekten; ihre Facettenaugen: verwirrt von Brandis kanadischen Lichtstrahlen. Reiner waren die als der Glanz einer perfekten Vollmondnacht. Sie alle lenkte ein archaischer Autopilot auf die Quelle zu in spiralförmigen Bahnen. Vergessen wurden: Birgit, die Ponyhofprinzessin; Jutta, die rote Zora; Katharina, das Rapunzelchen; Ulli, das Tittenwunder; neben all denen, die nicht einmal für würdig befunden waren, vergessen zu werden.

Ich komme zu spät in den Klassenraum. Noch nie ist der „Nachrichtensprecher“ zu spät gekommen. Seit einiger Zeit weiß ich, dass sie mich den „Nachrichtensprecher“ nennen. Immer bin ich pünktlich, ich rede überdeutlich und korrekt, es stimmt, was ich sage. Wenn ich etwas sage. Ein Kompliment war es nicht.

Heute bin ich tatsächlich Nachrichtensprecher. Aber niemand sieht mich bei der Arbeit, denn ich spreche nur im Radio. Es ist ein Lokalsender. Mein Publikum ist überschaubar, aber stets bin ich konzentriert und souverän – ich stelle mir vor, dass ich zur ganzen Nation sprechen darf.

Ich habe damals nicht daran gedacht, dass der Platz rechts von mir noch frei ist, der Stuhl in der ersten Reihe neben dem Eingang. Brandi. Schon von der Tür aus kann ich ihn fühlen, den wolkenlosen Himmel unter einer Sonne, die blühende Bäume und Blumen kitzelt. Ihr Parfum, frischester Frühling an einem durchschnittlichen Spätsommertag. Ich aber werde katapultiert in einen nordischen Dezember, nackt und hilflos stehe ich im Schnee: Kann man sehen, dass ich bibbere? Hört man das Herzklopfen? Die Tische zittern. Stühle wackeln. Die Fensterscheiben halten es nicht auf. Die Schallwellen gehen über den Schulhof hinaus und immer weiter …

Am Ende der Stunde spricht sie mich an. Ihr Akzent, minimal: „Hi, du warst ja noch nicht da. Ich bin Brandi aus Toronto in Kanada.“

Tief hole ich Luft und verkünde meine Nachricht: „Dort steht das höchste Gebäude der Welt.“

Sie schweigt, runzelt die Stirn.

„Der Fernsehturm, über fünfhundertfünfzig Meter.“

„Oh, das wusste ich noch nicht. Great.“

Dann steht sie auf, klemmt ihre Mappe unter den Arm und geht und nimmt den wolkenlosen Himmel mit und weiß nicht einmal, wer ich eigentlich bin und hat auch nicht gefragt, wer es ist, der alle Zeit der Welt unter diesem Himmel verbringen will.

Ab sofort übe ich mich darin, die Stunden neben Brandi zu verbringen ohne tosenden Puls. Dafür mit klarem Kopf, denn ich brauche einen Plan, mit dem ich mehr erschaffen kann als das höchste Gebäude der Welt.

Am Beginn eines Tages lächelt sie mich manchmal an, einen Moment zu lang, mit unbewegten Augen: „Hi, wie geht’s dir?“

Es ist jene geradlinig übersetzte Floskel, auf die man antworten muss: „Fein, danke!“

Was nicht stimmt, denn ich weiß, dass ich etwas tun muss. Und ich weiß ebenso, dass ich immer noch keinen Plan habe.

Wenn Brandi sich langweilt, zeichnet sie auf ihren Block schnell mustergültige Kopien, Szenen aus den „Peanuts“: Charlie Brown, sein Drachen, wie er unter einem wolkenlosen Himmel landet im Drachenfresser-Baum. Ich schreibe „Super!“ auf den Rand meines Heftes und schiebe es in ihre Richtung. Brandi liest, schaut auf – und dieses Mal lächeln auch ihre Augen. Aber ich, ich kann nicht zeichnen, kann nicht Gitarre spielen wie Sascha, der Schönäugige, bin nicht sehnig und kräftig wie Jens, der Athletische.

Geduldig warte ich auf den Tag, an dem wir unseren Klassenausflug machen, nach Trier.

Die Wetteraussichten: Die Bewölkung nimmt zu. Am Nachmittag Schauer bei zehn bis fünfzehn Grad. Der Wind kommt aus Ost bis Nordost und ist überwiegend mäßig. Weitere Aussichten: überwiegend stark bewölkt und kühler.

„Kanada“ sitzt in der rechten Reihe vor mir am Fenster, neben Alexander, dem Adligen. Neben mir Ulli, das Tittenwunder. Die hat ihre Haare zu einem blonden Kranz geflochten; ein Bauernmädchen, auf den Wangen ein Rot wie aus einem ganzen Korb Erdbeeren. Das Holz vor ihrer Hütte, es reichte für mehr als einen Winter. Aber ich träume von anderen Jahreszeiten. Ich beuge mich vor und sehe zwischen den Sitzen hindurch: Alexanders Profil. Lange Buckel-Nase, verschlafener Blick. Er ist der junge Mann auf dem Zehn-Mark-Schein. Seine blonden Locken trägt er allerdings deutlich kürzer. Niemals geht er ohne sein dunkelblaues Sportsakko aus dem Haus. Seine Stimmung erkennt man daran, ob er den obersten Knopf seines weißen Hemdes geschlossen hat oder nicht. Alexander, der Adlige, hat den Knopf offen gelassen. Er redet auf Brandi ein, in perfektem Englisch. Er hat Verwandte in Yorkshire.

Der einzige Satz, der mir in diesem Moment einfällt: „When the sun set in the east, King George was killed by an arrow in his eye.“

Was ich könnte: den Anfang der „Odyssee“ im Original zitieren, über den Helden, den Listenreichen, dem vieles geschah, nachdem Troja fiel. Hat man in Kanada Altgriechisch auf dem Stundenplan? Worüber würde ich mit Brandi sprechen? Was hält sie von den amerikanischen Raketen, die bei uns aufgestellt werden sollen?

Vielleicht will sie allein bleiben unter ihrem wolkenlosen Himmel, denn sie antwortet Alexander, dem Adligen, kaum – und sagt nach ein paar Minuten mit pädagogischer Ernsthaftigkeit: „Bitte rede Deutsch mit mir. Ich bin ja hier, um es zu lernen …“

Dann schaut sie aus dem Busfenster, so wie ich es tu. Ulli, das Tittenwunder, liest ein Buch. Es ist von einem französischen Autor, den ich auch mag, denn er schreibt über das Absurde.

Vor mir in diffusem Schnelldurchlauf: die Tankstelle mit der gelben Muschel und dem roten Schriftzug; auf einem Rastplatz Sattelschlepper mit schmutzigen Planen, von weither gekommen, noch lange werden sie unterwegs sein; jetzt wieder das flirrende Grün der Wälder, ein blaues Schild, das ich gerade noch entziffern kann: „Trier – 100 km“. Sehen wir dasselbe, frage ich mich und schließe die Augen – ein Frühling, warm wie ein Sommer, aber voller Blüten, die nie verwelken und Gras, das nie gemäht werden muss.

Der Besuch an der „Porta Nigra“ ist der Höhepunkt unseres Rundgangs. Der Wetterbericht war korrekt. Herr Kluthmann, der Geschichtslehrer, kann den Regen ignorieren: Er trägt ein Toupet.

Wie ein Shakespeare-Darsteller beginnt er zu zitieren: „Sie nannten es Marstor, nach Mars, den sie als Gott des Krieges ansahen. Wenn sie auszogen zum Krieg, marschierten sie zu diesem Tor hinaus. Schwarzes Tor aber wurde es genannt wegen der Trauer, mit der sie, wenn sie vom Felde flohen, durch es zurückkehrten.“

Niemals will ich zu einem „Schwarzen Tor“ zurückkehren. Einen heiligen Eid lege ich ab – und lasse mich langsam und unauffällig zurückfallen.

Brandi geht weit hinten. Sascha, der Schönäugige, ist bei ihr und Jens, der Athletische. Marcus, der Rebellische, hat die Daumen in den Gürtellaschen seiner Blue Jeans, er spreizt Federn, die er nicht besitzt, er drückt seine Brust heraus. Er erzählt seinen Witz von der schwangeren Nonne mit den Kerzen.

Meiner ginge so: “Was hatten die alten Römer uns voraus? … Sie brauchten kein Latein zu lernen.”

Aber Brandi ist schneller, hat kaum gelacht, aber die Hand gehoben. „Kennt ihr die Unterschied zwischen eine Jungfrau bei ihre erste Mal und Jesus …“ – sie spricht es „Tschisäss“ aus – „… am Kreuz? Das ist die Gesicht beim Nageln.“

Aus den Augenwinkeln sehe ich ein endloses Grinsen auf ihrem makellosen Mund. Dann boxt sie Markus, den Rebellischen, in die Seite und geht zu Jutta, der roten Zora. Sie tuscheln und ich beschließe, ein Held zu werden.

Am nächsten Tag sitze ich da und starre auf das weiße Blatt Papier auf meinem Schreibpult aus Plastik, grün und orange ist es und voller Bruchstellen. Es steht auf meinem Schreibtisch, seit ich Schüler bin. Aus der Schublade hole ich jenen Füller, den ich nur zu besonderen Gelegenheiten benutze, denn man muss ihn mit Tinte aus einem Glas befüllen. Ich erinnere mich an den Heimweg durch die Seitenstraße, die auf das Haus zuführt, in dem wir wohnen. Am Anfang steht ein alter Baum. Die Mauer, sie gehört zum Parkplatz dahinter, hat man um ihn herum gebaut. Einmal bin ich so hoch gesprungen wie ich konnte und habe nach jenem Ast gegriffen, der weit herunterhing über den Gehweg:

Ahornzweig

Geborgt im eiligen Sprung

Jetzt wartend

Verwelkt

Die Zeichen haben getrogen

Es ereignet sich nicht

Was erwartet wird

Es ändert sich kaum

Was umgibt

Denn die Bilder liegen seit je

In meinem Kopf

Die Bilder aufgehäuft

Eine Flamme dazwischen

Bald Rauch, bald Asche

Ein leerer Briefkasten

Warum findet man nicht

Ein Ahornblatt in ihm:

Darf auch spröde sein …

Am nächsten Tag schleiche ich mich vor der Zeit in die Klasse. Ich bin Agent, ich habe eine Mission. Nicht die Welt will ich retten, sondern mich und meine Zukunft. Ein Stuhl, Brandis Stuhl, ist mein toter Briefkasten. Ich lege das gefaltete Blatt so, dass die eine Hälfte zwischen Sitz und Gestell klemmt. Es darf nicht verloren gehen.

Vielleicht hätte es eine Chance gegeben.

Es ist zu kühl für die Jahreszeit, Regenwolken hängen über den Hügeln, dem glatt lackierten See, dem Boothaus mit dem grünen Symbol unserer Schule auf dem Giebel. Wir haben eine Grillparty organisiert zu Brandis Abschied.

Aus dem Aufenthaltsraum blicke ich ins Zwielicht: Es hat zu regnen begonnen. Ein Regen geht nieder, der alles trifft, nur nicht dieses Paar. Seine ulkigen Gesten sind es, die die Tropfen abwehren. Jens ist der Clown, der stutzt, der staunt und aus dem Schauer Sternenstaub macht.

Gemessene Zeit für „Im-Regen-Stehen“: zweiundzwanzig Minuten.

Der Sportunterricht hat alles verändert. Insbesondere meine Zukunft. Brandi hat einen engen blauen Dress an, ein weißes Gummi schnürt ihre Haare zum wippenden Pferdeschwanz. Basketball steht auf dem Plan. Es ist Brandis Stunde. Sie beherrscht den Ball, umdribbelt alle schnell und geschmeidig, eine Katze mit dem Auge eines Adlers, wenn sie aus großer Entfernung auf den Korb wirft. Sie verfehlt ihn selten. Ich werfe nie. Unser Team gewinnt dennoch haushoch. Nach dem Schlusspfiff steht sie am Anwurfpunkt, allein, die Hände auf die Schenkel gestützt, und ringt nach Luft.

Ich sitze auf der Bank, schnüre meine Turnschuhe auf und mache wieder eine Schleife, die ich umständlich löse. Auch Jens ist geblieben. „Schau mal“, ruft er.

Dann kippt er in den Handstand und beginnt auf Händen zu laufen, quer durch die Halle, an Brandi vorbei, die sich einen Schweißtropfen von der Nase wischt. Er läuft hin und läuft wieder her und noch einmal quer. Als er wieder auf den Beinen landet und ihr zuwinkt, da beginnt sie zu lachen: lacht und lacht, so laut und herrlich, wie sie in all den Monaten noch nie gelacht hat, mit den so weißen gerichteten Zähnen …

Jens wird sie vom Bootshaus auf seiner brandneuen 80er-Enduro mitnehmen. Er hat einen zweiten Helm dabei.

Von irgendwoher höre ich einen Raubvogel rufen. Es ist ein Habicht, der gickert. Ich habe diesen Ruf nie vergessen. Träumt man von einem Habicht, habe ich später einmal gelesen, hat man kein Glück in der Lotterie. Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. Jemand steht hinter mir und schaut ebenfalls aus dem Fenster.

„Ist doch eh bald vorbei“, sagt Sascha, der Schönäugige. Er hat sie schon vor Wochen in der Stadt gesehen. Händchen haltend kamen sie aus dem Kino.

„Unsere Sportskanone will in den Ferien nach Toronto fliegen. Was soll das bringen? Vergiss Kanada … Übrigens, Nachrichtensprecher, kostenloser Tipp: du solltest etwas aufmerksamer sein, da gibt es …“

Aber ich drehe mich nur weg und gehe hinaus in den Bootskeller, wo es nach Holz riecht und Schmierfett. Das Tor ist offen: draußen stehen die beiden genau im Fluchtpunkt unter einem faltenlosen Nachthimmel, aus dem Mondschein rieselt wie Grillasche. Wieder höre ich diesen Vogel rufen. Was er mir prophezeit?

Dass ich es nie lernen werde, auf Händen zu laufen.



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