Читать книгу "Kriegt wer wen?" – Vom Ende im Anfang der Liebe - Stefan Sprang - Страница 4
Frankfurt – Wien - Frankfurt
ОглавлениеSie hatten ein glückliches Leben, sie haben es noch. In immer neuen Anläufen fanden die alten Damen hinter ihm Erinnerungen, die das beglaubigen; getrocknete Blumen, aufbewahrt in einem dicken Buch. Für vier Tage waren sie in Wien gewesen: um über die Weihnachtsmärkte zu spazieren, Punsch zu trinken und die Sängerknaben zu hören.
„Am Karlsplatz war es besonders schön.“
„Oh ja, das Gehege mit dem drolligen Wollschwein, das hätte auch unserer Jenni gefallen.“
„Ach, wie all die Kinder sich gefreut haben. Und der Sternentanz mit den Kleinen. So süß waren die verkleidet.“
„Aber am Belvedere, da war es auch sehr stimmungsvoll. Das musst du zugeben.“
„Schade, dass es schon vorbei ist.“
„Nächstes Jahr fahren wir wieder.“
Er sah sich um im Großraumabteil, ausgeleuchtet von hartem Licht aus den Röhren unter der Gepäckablage, blickte sich an in der Scheibe schräg gegenüber, beobachtete sich wiederum in einer bleichen Großaufnahme, die direkt neben ihm auftauchte. Auf seinem Fensterplatz in der Sitzgruppe in der Wagenmitte war er eingekreist von Doppelgängern. Er spielte mit ihnen, schnitt seinen Gegenstücken Gesichter, die sofort reagierten.
Seit er ein Kind war, liebte Jens es, im Zug durch die Nacht zu fahren auf endlosen Gleisen.
Sein Zimmer war groß genug gewesen, um an der Wand neben der Tür eine tischgroße Holzplatte aufzustellen mit einer H0-Eisenbahn. Das Doppeloval mit den Gleisen war eigentlich langweilig. Nur auf der äußeren Runde konnte ein Zug einigermaßen beschleunigen. Die Innenfläche war mit einer kleinen Siedlung bebaut. Auf der einen Seite gab es einen verfallenen Güterbahnhof, auf der anderen Seite den Hauptbahnhof „Steinheim“ mit seinen leuchtend roten Ziegeldächern. Eine Durchgangsstraße, ein Marktplatz mit zwei Fachwerkhäusern, am Ortsausgang zwei moderne Zweifamilienhäuser. Alle Gebäude waren illuminiert mit kleinen Birnchen, auf dem Marktplatz stand winters ein Christbaum mit gelben Leuchtdioden. Manchmal ließ er bei strahlendem Sonnenschein das Rollo herunter und ging auf große Fahrt. Langsam ließ er den „Trans Europa Express“ anrollen, neben sich auf einem Teewagen das Kursbuch, das sein Vater aufgetrieben hatte, und die Zugführer-Ausrüstung. Immer wieder neue Bahnhöfe fuhr Jens an, kreuz und quer durch Europa. Mal von Amsterdam nach Basel, mal von Hamburg nach Rom – auf dieser Strecke spannte er einen blauen Schlafwagen hinter die beige-rot lackierte Schnellzug-Lok, in der er saß, und fuhr und fuhr.
Der Druck in den Ohren bei einer Tunneldurchfahrt, das Kitzeln in den Gehörgängen, er berauschte sich jedes Mal am Stroboskop-Effekt der Tunnelbeleuchtung. Claudine fuhr nicht gern durch Tunnel. Tunnel und Brücken machten ihr Angst. Das Fliegen liebte sie. Er jedoch hatte Flugangst.
Drei Jahre lang war er regelmäßig nach Wien gefahren. Er konnte bei einer Freundin übernachten, die in der Nähe vom Augarten wohnte. Christina hatte er in Hamburg kennengelernt. Sie war damals mit einem seiner Studienfreunde zusammen. Die beiden waren längst getrennt. Jens war mit Christina in Kontakt geblieben.
In Wien hatte er sich verliebt. Auf den ersten Blick, mit einem spöttischen Lächeln, aber freimütig glänzenden Augen. Diese Beschwörung imperialer Erhabenheit; wie viel Kitsch, per Sandstrahl aus den Sedimenten von Jahrhunderten herausgelöst; dieses steinerne Bühnenbild, wie albern war das, verrückt, ja, und genial anders als die Stadt aus der er kam – die war zusammengeflickt aus Kriegstrümmern mit hässlichen Lückenfüllern. Wien, so anders, so schizophren. Zwischen den protzigen Kulissen das ganze lässige Leben, selbstbewusstes 21. Jahrhundert, die jungen Leute, die – wie hieß das noch – vielen „Frauenzimmer“, so „fesch“ und charming mit ihrem Schmäh und den Stimmen, die irgendwie eine Spur tiefer klangen und wärmer.
Wenn er durch die Straßen flanierte, schaute er wahlweise den Frauenzimmern nach und an den Fassaden hoch. Ihn beeindruckte die Leistung der Architekten, die all das mit Stift und Papier bewerkstelligt hatten – das nennt man Tragwerke für die Ewigkeit.
Jens war Prüfingenieur für Baustatik, Fachrichtung: Steinbeton, Stahlbeton, Holzbau. Mit seinem Freund Wolfgang hatte er ein eigenes Büro gegründet. Sie wollten unabhängig sein und hatten Großes vor. Zunächst berechneten sie vor allem Standsicherheitsnachweise in der Bauklasse I: Einfamilienhäuser, die hochgezogen wurden auf geschleiften Militärsiedlungen, aufgelassenen Äckern am Stadtrand und Industriebrachen. Häuser, die aussahen wie aus dem Modellbahn-Baukasten, aber für ihre Bewohner Paläste waren. Traumschlösser, die sie vor langer Zeit für sich in Gedanken entworfen hatten und für ihre Partner und die Kinder, den Golden Retriever und den Bonsai-Baum: Junischnee auf der Fensterbank.
Wolfgang und er rechneten nach, ob die Architekten an ein stabiles Gleichgewicht gedacht hatten, ob sich alles tragen würde und den Lasten standhalten.
„Nur Wolkenkuckucksheime brauchen keine Statiker“, hatte Wolfgang einmal gesagt, als nichts mehr zu tun war und sie an einem Nachmittag einfach losgezogen waren, um ein Bier zu trinken.
„Ist was dran. Trotzdem schön für unser Konto, dass es so viele Bausparermetastasen gibt“.
„Weißt du, was das Verrückte dabei ist?“ Wolfgang grinste.
„Nein, und ich ahne es nicht mal.“
„Wir wissen, wie die Verhältnisse sein müssen, damit alles steht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag …“
„Das ist unser Job.“
„Aber darum wissen wir auch ganz genau, wo man das Dynamit anbringen muss, damit alles mit minimalem Aufwand fein säuberlich in sich zusammenklappt.“
„Du meinst ratzeputz weg?“
„Staub zu Staub.“
Jens wusste damals nicht, ob Claudine es ernst gemeint hatte, ob sie mit jener Arglosigkeit sprach, die Teil ihres Charakters war. Oder ob sie ihn hochnahm mit jener Ironie, die auch in dieser Frau wohnte als ebenbürtige Nachbarin der Naivität. Er war verliebt in das eine wie das andere.
„Monsieur Statique …“, fing sie an und machte weiter in Deutsch mit einem grazilen Akzent, „… bau uns ein Haus. Ein langes niedriges Haus, mit bauchigen Wänden und runden Fenstern und vielen Zimmern und viel Platz für alle Dinge, die man ansammeln kann, auch wenn man sie nicht braucht, ein Haus mit einem Strohdach, das nicht wackelt. Bau uns ein Hobbithaus.“
Er war Claudine im Leopold-Café im Museumsquartier begegnet. Am Vormittag hatte er sich eine Ausstellung mit Bildern amerikanischer Fotografen angeschaut. Im Café wollte er etwas essen, etwas Schweres. Er hatte Hunger, er wollte ein großes Bier trinken, um dann wieder allein durch die Stadt zu streifen. Er fand einen Platz auf der verglasten Brücke. Claudine saß schräg gegenüber auf einer Bank. Sie trug ein verwaschenes T-Shirt, bauchfrei mit einem roten Stern auf der Brust. Claudine hatte sich breit gemacht an dem Vierertisch, als wäre sie dort zuhause. Bücher, ein Block, zwei Magazine lagen auf dem Tisch, Geschirr von einem großen späten Frühstück war fahrlässig gestapelt. Vor ihr stand ein halbvolles Glas Wein. Sie hockte auf der Bank, ein Bein untergeschlagen, und beugte sich über ein Buch. Auf der abgewandten Seite fielen ihre dunklen Locken über die Schultern, auf der ihm zugewandten Seite hatte sie das Haar nach hinten gestrichen. Ihr Halbprofil lag im Schein der Nachmittagssonne, die sich langsam, aber sicher auf den kommenden Winter einrichtete.
Er schaute sie an. Immer wieder und jedesmal länger. Sie hatte es bemerkt. Sie sah auf, legte den Kopf schräg und schaute von unten zu ihm herüber: Das ist ein Blick wie aus Fernost, wer will dem widerstehen – ein Blick aus Fernost, so anders.
Ihr Vater war Georgier, erfuhr er später, die Mutter Französin. Schmale Augen unter hochgezogenen Brauen funkelten ihn an. Das sind die schwärzesten Augen der Welt. Aber zittern nicht ihre Wimpern? Könnte sie ärgerlich sein? Dafür sollte sie keinen Grund haben.
Was starrst du so? Ihr Blick, eine Frage. Er sah die Sehnen und Muskeln an ihrem schlanken Hals hervortreten. Aber ihr gespitzter tiefroter Mund stellte wortlos fest: Ich interessiere dich also.
Plötzlich eingeschüchtert, aber entschlossen zeigte er auf das Buch, machte eine interessierte Handbewegung.
Sie hob das Buch hoch, hielt es ihm mit ausgestreckten Armen entgegen: Der kleine Hobbit in einer Originalausgabe. Über das Buch hinweg fixierte sie ihn frech, aber mit leiser Ironie. Er lächelte und nickte stumm.
Tolkien also, ist das nicht ein Kinderbuch?
Es war Claudines Lieblingsbuch. Dann zog er eine schwarzweiße Postkarte, die er im Museumsshop gekauft hatte, aus der Jackentasche und schrieb: Im Nordwesten der Alten Welt, östlich des Meeres.
Kühn und kämpferisch stand er auf, ging drei Schritte und legte die Karte mit einer tiefen Verbeugung vor sie hin, ein gewissenhafter Diener in einem alten Film. Oder ein Ritter, der das alles entscheidende Turnier gewonnen hat.
Er rechnete mit nichts. Oder einer bösen Bescherung. Einem Platzverweis. Sie las, lachte, winkte ihn mit zwei Fingern heran. Er nahm sein Bierglas und setzte sich ihr gegenüber.
Claudine jobbte in der UNO-City.
„Wusstest du, dass die Gebäude dort so gebaut sind, dass sie sich nicht gegenseitig in den Schatten stellen?“, hatte er sie gefragt.
„Klar, ich muss es ja den Touristen erklären und allen, die es sonst noch wissen wollen.“
Claudine war einunddreißig, sie machte Führungen im Vienna International Centre, informierte über die Arbeit der Vereinten Nationen und die Aufgaben der in Wien tätigen Organisationen. Sie hätte dort auch als Dolmetscherin arbeiten können.
„Wenn, dann am liebsten beim Flüchtlingskommissariat. Oder bei denen mit den Weltraumfragen.“ Aber sie wollte sich nicht festlegen, noch nicht, nicht so. „Ich will Alltag ohne Alltäglichkeit. Nichts Einförmiges, so wie bei mir zu Hause. Meine Eltern sind Lehrer. Sie sind gerecht, aber geordnet. Wenn du weißt … Jedes Jahr sind wir für drei Wochen in ein kleines Haus gefahren im Süden … Jedenfalls, ich will, dass sich was verändern kann … Ich will was sehen von der Welt. Konkret, aber auch in einem übertragenen Sinne, wenn du weißt … mein Leben soll anders sein …“
Er wusste. Jeden Sonntag hatte es bei ihm daheim um dreizehn Uhr das Essen gegeben. Pünktlich zu den Nachrichten hatte Vater das Radio eingeschaltet, danach kam eine Sendung, in der bedeutende Menschen aus ihrem Leben erzählten und klassische Musik einspielen ließen, die ihnen gefiel oder etwas Besonderes aussagte. Nach dem Nachtisch spülte Mutter das Geschirr, Vater machte einen Mittagsschlaf. Lokomotivführer Jens ging dann in sein Zimmer, zog den alten Drehstuhl an die Eisenbahnplatte. Der „Trans Europa Express“ wartete am Bahnsteig. Als er älter wurde und stärker, ging er bei Wind und Wetter hinaus, um zu joggen, mit einem Ball Kunststücke zu vollführen oder auf Händen zu laufen in der Garageneinfahrt.
„… Ich bin noch jung, weißt du.“
Claudine kam aus Straßburg, sie hatte Politik, Anglistik und Germanistik studiert. Sie sprach vier Sprachen verhandlungssicher und ein wenig Georgisch. Sprachen faszinierten auch ihn. Er beherrschte Englisch fließend, hatte es im Rekordtempo perfektioniert, als Brandi aus Toronto eines Tages in der Pausenhalle seiner Schule aufgetaucht war.
Für Jorid hatte er begonnen, Schwedisch zu lernen. „Ich liebe Dich ….“ – „Jag älska Dig“. „Gifta sig“ – „Heiraten“.
Er hatte sie auf einer Silvesterparty in Luxemburg kennengelernt. Eine Schulfreundin hatte ihn eingeladen, die dort bei einer Bank arbeitete. Jorid machte ein Praktikum in der Personalabteilung. In Stockholm auf der Brücke, unter der das süße Wasser schäumend und sprudelnd vom Mälarsee in die salzige Ostsee floss, unter einem Reiseprospekt-Himmel, hatten sie sich das erste Mal geküsst: „Jag älska Dig.“
Sie sahen sich alle drei Wochen. Sie telefonierten jeden Abend, sie mailten jeden Mittag. Sie brauchten keine geprüfte Standsicherheit durch erfolgreiche Fernsehabende auf der Couch und stressfreien Hausputz. Jens kannte sich aus. „Stress analyst“, die englische Bezeichnung für Statiker. Nach einem halben Jahr trennten sie sich. Irgendwie schade, aber es war alles auch etwas anstrengend gewesen, Vorwürfe machen musste man sich jetzt ja nicht, es war wunderbar anders gewesen als bei so vielen Pärchen.
„If I can't love you tonight, maybe tomorrow …” Jorid hatte ihm kommentarlos das mp3 gemailt. Eine Live-Version von Willy DeVille, heimlich von ihr aufgenommen. Jens gefiel besonders das Saxophonsolo.
Claudine hatte ihn das erste Mal auf Bahnsteig sieben, Westbahnhof Wien, geküsst, ganz leicht nur und freundschaftlich. Sie hatte ihn zum Zug gebracht, war um ihn herumgelaufen wie eine Kamerafrau, tat, als wäre er ein frisch Verliebter, der bangend im Strom der Ankommenden nach jener Hälfte Ausschau hält, die er ein Leben lang gesucht hat. Warum da nicht mitspielen? Er spielte mit.
„Zu dir passt keine, nicht mal ich, warte also nicht.“ Claudines Ironie.
„Aber du wartest trotzdem das nächste Mal hier, wenn ich komme?“
„Sehr wahrscheinlich.“
Dann fiel sie ihm einfach um den Hals, war ein junges naives Frauenzimmer. Aber nein, sie blieb die Französin mit dem Blick aus Fernost. Ihre rote Kunstlederjacke knarzte, als sie sich an ihn drückte und ihm zuflüsterte, wo er hinschauen sollte. Zu dem Mann am Steuer des elektrischen Kofferwagens, der einen sensationell gezwirbelten Schnauzbart trug; zu dem Kind, das aus der Bahnhofshalle kam und an seinem Hotdog-Würstchen leckte wie an einem Eis. Claudine achtete auf Kleinigkeiten. Und sie liebte an ihm, dass er sehen wollte, was sie sah, und dass er manchmal aus dem Stand kuriose Dinge tat. Zum Beispiel auf Händen über den Bahnsteig laufen. Der Junge hatte vor Schreck seinen Hotdog fallen lassen.
„Als du mir die Karte hingelegt hast, im Café … Du hast dich verbeugt wie ein russischer Diener. Als würdest du Anna Karenina einen Brief von ihrem Geliebten überreichen.“
„Habe ich das? Und wer ist diese Frau Karenina?“
„Es war lustig. Und sehr schön.“
Neben ihm lachte jemand. Ein Glatzkopf mit sanftem Gesicht. Er hatte einen ungarischen Akzent. Er unterhielt sich mit einem jüngeren Mann am Fenster. Nein, ein Paar sind sie nicht, da fehlen die kleinen versteckten Gesten, sie müssen sich nicht darum kümmern, genug Abstand zu halten. Der jüngere Mann am Fenster freute sich darauf, seine Frau wiederzusehen. Die beiden kamen von einem Kongress. Etwas mit Medizin, Immunologie, eine Koryphäe hatte dort gesprochen. Der Jüngere zeigte dem Glatzkopf Familienfotos.
„Das ist Leon.“
Es war ein warmer Novembertag, an dem er Claudine kennengelernt hatte. Sie hatte es ihm leicht gemacht. Sie redete viel und fragte wenig. Aber das war gut so, denn er konnte sich in den schwärzesten Augen der Welt verlieren. Immer wenn er in Wien war, hatte sie ein Programm vorbereitet.
„Kennst du St. Marx?“
„Ich wusste gar nicht, dass man den heiliggesprochen hat.“
„Den Friedhof, Monsieur, den Friedhof.“
„Nein, ich kenne Wien ein bisschen, aber den kenne ich nicht.“
„Monsieur Mozart wurde dort begraben. Drittklassig, wie die Österreicher eben sind. Das wäre uns nie passiert.“
„Nachdem das hitzelige Frieselfieber ihn dahingerafft hat, oder war es das frieselige Hitzelfieber?“
„Weder noch, Sie Schlaumeier …“
Claudine lachte und warf wild ihre Locken aus dem Gesicht: „… nachdem er hinterhältig vergiftet worden ist.“
„Wie auch immer, da hatte es sich ausgegeigt.“
„Du nimmst mich nicht ernst.“
Sie lachte laut, lachte mit zügellosem Temperament. Er hatte alle seine Pläne für den Tag über den Haufen geworfen und war mit ihr rausgefahren in der „Bim“, der Straßenbahn. Sorgfältig überzog die untergehende Sonne alles mit Rotgold. St. Marx, erklärte sie mit der übertrieben gespielten Professionalität der Fremdenführerin, war längst stillgelegt.
„Sehen Sie gleich den denkmalgeschützten Biedermeierfriedhof, ein Paradies für Melancholiker.“ Außer ihnen war niemand in dem kleinen Park. „Das ist meine Zeitmaschine. Hier kann ich zurückreisen“. Claudine schaute einen Moment in die Sonne. „Wenn sich der Boden unter mir schneller dreht, als ich mich bewege, wenn es dann wackelig, so sagt man doch, wenn es wackelig wird, steige ich ein.“
Sie hob ihre Arme und nahm ihre Locken nach hinten zusammen, aber sie sah ihn immer noch nicht an. Efeu rankte an Grabsteinen herauf, die von Wind und Wetter ausgewaschen waren. Kopflose Engel thronten im Gewirr der Äste, amputierte und halbierte Figuren harrten aus, so gut es ging, seit über hundertfünfzig Jahren. Eine Frau aus Stein, ungewöhnlich gut erhalten, fasste sich bekümmert an die Stirn, als könne sie es immer noch nicht fassen. Im Grab daneben ruhte Anton Herder.
„Bedauert von seinen ihn liebenden Eltern“, las sie.
„Stein ist geduldig.“
„Hey, ich glaube, sie haben Josef geliebt. Es muss schlimm sein, wenn die Kinder vor einem sterben. Wäre ich er gewesen, wäre ich schon seit vier Jahren tot.“
„Na, eigentlich schon seit etwas mehr als hundertfünfunddreißig Jahren.“
„Monsieur Statique. Sie Haarezerspalter. Ich meine vom Alter her. Er ist kurz vor seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag gestorben. Ich habe schon vier Jahre mehr geschafft. Hipp hipp hurra!“
„Ob vor vier oder vor hundertfünfunddreißig Jahren. Es wäre schade gewesen um dich.“
„Merci, très charmant.“
„Reiner Egoismus. Ohne dich wäre ich nie hierhergekommen. – Woran er wohl gestorben ist?“
„An gebrochenem Herzen.“
„Ein Mann? Starben die damals nicht im Krieg?“
„Wo ist der Unterschied?“
Sie las die Inschrift auf dem restaurierten Grabstein vor:
„Ihr weint weil ich von euch geschieden
Weinet nicht
Des Himels Frieden
Des Ewigen Vaterlandes Heil
aus Gottes Hand ward mir zu theil.“
Dann lachte sie. „Ob es im Himmel damals wirklich okay war?“
„Wie kommst du darauf?“
„Damals hatte der Himmel nur ein M!“
Sein Lachen mischte sich mit dem Rauschen des Verkehrs. Direkt hinter der Friedhofsmauer lag ein Knäuel aus Autobahntrassen. Auf der Südosttangente konnte man weiter Richtung Süden fahren. Oder den Bogen nehmen hinein in die Stadt. Ein Sattelschlepper schepperte vorüber und drückte unwiderruflich das Rascheln und Knistern der Blätter weg. Claudine war still geworden, ihr Körper versteinert, ihre Locken bewegten sich, als seien sie das noch einzig Lebendige an ihr: Luftwurzeln im leichten Wind. Mit einem Ruck kehrte sie zurück und fand jenen Blick wieder: „Ich bin eine lustige Melancholikerin, das musst du wissen.“
Er schwieg.
„Anderes Thema: Frierst du leicht?“
„Nein, ich mag große Kälte. Und ich mag große Wärme.“
„Bon, dann fahren wir jetzt an den Nordpol.“
Am Nordpol war ihre Lieblingskneipe. Ein Wirtshaus mit abgewetzten Holztischen und böhmischer Küche. Sie teilten sich eine Portion Blinis, dann schaufelten sie süßes Kraut und Grammelknödel in sich hinein. Sie tranken dunkles Bier, und Claudine hielt mit und rauchte, als gäbe es kein Morgen mehr. Sie stellten fest, dass sein Quartier nur ein paar Straßen entfernt von ihrer Wohnung war. Aber nicht nur das stellten sie fest, eingehüllt in den Dunst aus Wacholder, Zwiebeln und Kümmel.
Am nächsten Tag fuhr er zurück mit dem Eurocity aus Budapest, fuhr über Linz und Passau. Schon bei Plattling telefonierte er mit ihr, die Verbindung brach andauernd ab, aber er wählte immer wieder ihre Nummer.
Ein paar Tage später holte er sie am Flughafen ab. „Das ist mutig von dir, einfach zu kommen.“
„Mutig wäre es, wenn ich Flugangst hätte.“ Sie lächelte und küsste ihn auf beide Wangen.
Ab diesem Moment kamen sie über das Land als eine geballte Luftmasse, Jens und Claudine, ein ineinander verhaspeltes Wolkenknäuel am Himmel, auch als verschlungenes Gewächs rankten sie durch den Dschungel der Tage und Wochen, sie lebten überwölbt von einer kristallenen Glocke in einer Biosphäre der Zweifellosigkeit, sie waren Philemon und Baucis, die Lieblinge der Götter. Sie waren nicht vermögend, aber reich. Sie waren gastfreundlich. Sie hatten das Glück eingeladen. Ihre Sprache wandelte sich in einen zweistimmigen Gesang und gebar „Un“-Worte. Hätte man sie getrennt voneinander verhört, sie hätten das Geschehene in identischen Sätzen „unbegreiflich“ und „unfassbar“ und „unbeschreiblich“ genannt. In alle Welt mailten sie ein digitalisiertes Doppelporträt aus dem Passbildautomaten am Flughafen. „Glück“, schrieben sie in die Betreffzeile, und der Text lautete: „No comment.“ Sie hatten Recht und sonst niemand, denn es war anders.
Dabei waren sie, hatte sein Partner Wolfgang berechnet, von den dreiundvierzigtausendzweihundert Minuten eines Monats meist nur neuntausendneunhundertsechzig zusammen. Aber so stimmte es natürlich nicht. In den übrigen dreiunddreißigtausendzweihundertvierzig Minuten lebten sie ihren Alltag für sich, hielt Jens entgegen, sie atmeten und schliefen für sich, aber ständig wussten sie, was der andere tat, „wo er turnte“, wie sie sagte, „wovon er in Anspruch genommen war“, wie er sagte. Sie existierten auf den Funkstrecken ihrer Mobilfunkanbieter und in den magischen Kabeln des Internets.
Der Zug bremste stark ab. Hoffentlich keine Betriebsstörung, so hieß das doch, wenn … jetzt nicht anhalten. Jens drückte seinen Kopf in die Lehne und hörte den alten Damen zu.
„So wie man das Leben sehen will, so schaut es einen an“, sagte eine der beiden. Dann machte sie eine Pause. „Das hat Franz mir bei unserem ersten Rendezvous gesagt. Ich fand es so schön, dass ich ihn gebeten habe, mir das aufzuschreiben. Er hat dann heimlich ein Stück Rand abgerissen von der Zeitung in dem Café und hat dann mit dem Bleistiftstummel … Ach, Franz hat ja immer noch so eine schöne Schrift.“
Franz saß auf der anderen Seite des Ganges. Von dort hörte man ein kleines Grunzen und kurzes Röcheln. Franz war eingenickt und träumte vielleicht von diesem Tag in dem Café: wie er mit seiner Herzallerliebsten am Fenster sitzt und auf die Trümmer des Turmes schaut, der zu jener Kirche gehört, in der sie ein Jahr später heiraten werden.
„Durch den Krieg hatte ich ja keinen Abschluss, aber Franz hat gesagt, ich solle mich einfach bewerben bei der Hauswirtschaftsschule. Damals hatte ich schon meinen Franz.“
Franz und sie, sie schauten mittwochs immer die Wiederholungen vom Ohnesorg-Theater.
Franz und seine Frau kamen aus einer Zeit, die Jens sich nur schwarzweiß vorstellen konnte. In der alles in kleinen Maßen gemessen wurde und seine Grenzen hatte. In der man, wenn überhaupt, einmal im Jahr mit dem Zug fuhr. Mit dem Reisebüro-Sonderzug, der Menschen wie Franz und seine Frau und die beiden Kinder an den Wörthersee brachte, wo man einen Wanderurlaub machte.
Mindestens einmal im Monat war Jens von Nord nach Süd gependelt und zurück. Donnerstags stieg er um kurz nach zwölf in den Zug nach Wien, montags reiste er meist zurück, manchmal musste er schon am Sonntagmittag los. In der allgemeinen Sonntagsstille klang der Abschied lauter. In der Geschäftigkeit einer beginnenden Woche bricht es sich einfach besser auf, ganz klar, egal, ob die Sonne scheint oder ob es regnet.
Regen. Aus dem Gedächtnis konnte er das Muster malen, mit dem Regen die Zugscheiben masert, wenn er durch ein Tiefdruckgebiet rast. Er ahnte mittlerweile voraus, wann der grauschwarze Streifen Wald begann, ein ausgefranstes Fries in jener Kulisse, zu der auch die Deutschlandfahne gehörte, die er geradezu antizipierte. Ein riesiges Ding in einem süddeutschen Garten an einem Mast, wie er selbst vor einem Ministerium mehr als verstiegen gewirkt hätte.
Er hatte Claudine davon erzählt, und sie hatte sich eine Geschichte ausgemalt zu der Fahne und ihrem Besitzer, die er fast für die Wahrheit hielt, so wie er zu erkennen glaubte, wenn sich in den Ortschaften, an denen er vorbeifuhr, etwas veränderte. An das Tempo gewöhnt, konnte er die Eindrücke für sich verlangsamen. Die wichtigen Passagen zeichnete er auf und spielte sie sich verlangsamt ab. Manchmal ging er auf Standbild, ein Blick in einen Garten: eine schief aufgehängte Kinderschaukel, ein roter Sandkasten, dessen Füllung zu großen Teilen auf einer Gänseblümchen-Wiese verstreut war. Heimstätten, hatte man das nicht mal so genannt?
Manchmal konnte er auch am Montag noch in Wien bleiben, wenn er vorgearbeitet hatte und Wolfgang einverstanden war. Claudine musste dann wieder in der UNO Führungen machen. Also bummelte er zum Naschmarkt, kaufte ein, kochte italienisch mit großem Geschick.
„In Rom“, sagte Claudine, sobald sie die erste Nudel elegant um ihre Gabel gewickelt hatte, „da würde ich auch gern leben.“
Alle zwei Wochen besuchten sie sich. Jens und Claudine ließen alle Fragen daheim und reisten nur mit leichtem Gepäck. Sie hatten ihren Rhythmus. Den Abend nach der Ankunft verbrachten sie allein zu zweit. Sie gingen essen, sie planten die nächsten Tage, obwohl die meisten Vorhaben schon skizziert waren. Wann traf man wen? Kam man noch rechtzeitig zum Konzert mit Adam Green, wenn man am Nachmittag die Ausstellungseröffnung besuchen wollte? Am ersten Abend gingen sie früh zu Bett. Erschöpft von der Nacht begannen sie am Morgen damit, alles in die Tat umzusetzen: Er lernte ihren Freund Hans aus dem Innenministerium beim Lunch am Samstag kennen und am Sonntag ihre Freundin Marie, die in einem kleinen Kabarett schauspielerte und in einer Bar kellnerte. Waren sie in seiner Stadt, verbrachten sie Abende mit Wolfgang und dessen Frau Hanna und mit seinem Nachbarn, der als DJ so prominent war, dass er sie in die neuen angesagten Clubs hineinbringen konnte.
Der Zug verlangsamte die Fahrt, legte sich in eine Kurve, neigte sich einer Siedlung zu. Er sah in den größeren Straßen das Orange der Quarzlampen, die opalisierenden Carports und erhellten Fassaden. Er sah Fenster, geschmückt mit roten Herzen, illuminiert mit Lichterketten: kitschig glänzende Adventskalender-Türchen. Würde man sie öffnen, fände man friedvolle Szenen. Ein Junge oder Mädchen mit Zahnschmerzen, schlaflos, aber beruhigt in den Armen der Mama. Hinter anderen, den abgedunkelten Fenstern passieren andere Dinge, unzarte Kämpfe, das Tier mit den zwei Rücken.
Claudine hätte ihn aufmerksam gemacht auf den blinkenden Stern von Bethlehem in einem Vorgarten: „So hat sich die Lage verändert, Monsieur Statique.“
„Wie?“
„Damals war der Stern oben und blinkte, und die Könige sind auf der Erde hinterhergewandert.“
„Und jetzt …“
„Jetzt sind die Sterne unten und morsen nach oben.“
„Und was morsen sie?“
„Vielleicht ist es ein Notruf, S.O.S. Hilfe, befreit uns …“
„Wovon?“
„Von allem …“
„Und wer soll es sehen, da oben?“
„Denk es dir aus.“
Vor etwas mehr als sechs Wochen waren sie zum ersten Mal zusammen verreist. Mit dem Zug. Er hatte versprochen, dass es keine Tunnel und Brücken gab. Claudine hatte sich einen gemeinsamen Urlaub gewünscht und immer wieder davon gesprochen. Er hatte versprochen, alles zu organisieren. Hatte es immer wieder verschoben. Etwas hatte sich plötzlich getan in der Wirtschaft, die Konjunktur frischte auf, eine gute Stimmung manifestierte sich, man baute wieder und brauchte die Expertisen der Statiker, damit alles Bestand haben würde. Claudines Wunsch ließ er immer wieder hinunterkollern auf der Tagesordnung, wie ein Steinchen, das man auf einem steilen Pfad losgetreten hat. Bis sie nicht mehr erreichbar war für zwei Tage.
Bis er ihre SMS las: Du liebst mich nicht mehr.
Er schrieb zurück: Ich liebe Dich mehr denn je.
Ihre Antwort: Nicht was wir sagen, was wir tun, ist entscheidend.
Claudine wollte auf eine Insel im Meer, eine kleine, von Wellen umtoste Insel mit einem Namen, der rau und schroff klingen sollte. Sie wünschte sich nächtliche Strandspaziergänge und das Aroma der Gischt in der Nase, das in der Luft gelöste Salz, das einen schon nach ein paar Stunden husten ließ. Sie stellte sich eine Pension vor, die aussah wie das Hobbithaus. Er hatte für drei Tage eine kleine Ferienwohnung gebucht mit Namen Dornröschen.
Sie waren am frühen Abend angekommen. Claudine hatte es kaum ausgehalten und während der Fahrt ernsthaft in Erwägung gezogen, ihn auf die Zugtoilette zu ziehen, um mit ihm, wie sie versprach, „unartige Dinge zu tun“, die sie nun tun konnten, bis ein anderer Hunger größer wurde. Sie hatten verpasst, sich etwas zu essen zu besorgen. Das einzige Restaurant in Dornröschens Nähe war winterfest verschlossen. Sie fanden eine Fischerkneipe und setzen sich mit voller Absicht nebeneinander an die gleiche Seite des Tisches. So machten alte Paare das gern, hatte sie beobachtet, Paare, denen es wichtiger geworden war, in die Welt schauen zu können. Claudine behauptete, diese Paare machten das, weil es in den Augen des anderen nichts mehr zu entdecken gab. Vielleicht ist das eine große Erleichterung, nichts mehr entdecken zu müssen, hatte er geantwortet. Und sie hatte prompt eine Ohrfeige angedeutet. Zusammen mit Männern, die stolz waren auf Wind-und-Wetter-Gesichter, tranken sie ein Bier ums andere und träumten von Fischbrötchen, die sie zum Frühstück am Stand an der Hauptstraße verschlingen wollten.
Am Morgen hatten sie Glück, eine Brise hatte den Himmel aufgerissen für eine protzende Nordsee-Sonne, die auch noch schien, als sie in den Dünen Pause machten mit Schinken-Käse-Toasts und einer Thermoskanne. Eine Sonne, die sich langsam, aber sicher verabschiedete und Wolken mit schwarzen Rändern den Horizont überließ, als Jens nicht wusste, ob er Claudine in den Arm nehmen sollte.
Sie hatte ihre frostig rosaroten Wangen abgewendet und schluchzte gegen den Wind: „Als hätte ich ein Schild am Kopf … Baise-moi, baise-moi, baise-moi …“
Sie hatte Männernamen aufgezählt, in absteigender Chronologie, Namen von Liebhabern und Affären. Er zählte mit in Gedanken, an imaginären Fingern – bis zwei Hände nicht mehr ausreichten.
„So lange wie mit dir, Monsieur Statique, war ich noch nie mit jemandem zusammen, verrückt oder …“ Sie wandte sich ihm wieder zu, lächelte, wischte die Tränen fort, stand auf, nahm seine Hand. „Komm, gehen wir, bevor wir den Weg zurück nicht mehr finden. Es wird dunkel, und es sieht nach Regen aus. Und wir haben keinen Schirm dabei.“
Sechs Wochen später hatte er Claudine noch einmal weinen sehen.
Am Nachmittag waren sie aus dem Museumsquartier zurückgekommen vom Brunch mit Claudines besten Freunden, mit Hans, dem Katastrophenschützer aus dem Innenministerium und Marie, der Teilzeitschauspielerin. Abends wollten sich alle wieder sehen auf einer Party im siebten Bezirk, die seine Freundin Christina gab. Claudine sagte, sie sei müde und wolle noch schlafen. Sie hatten sich hingelegt, aber er war derjenige, der schnell weggedämmert war. Seltsame Traumbilder zogen vorbei, von endlosen heruntergekommenen Zimmerfluchten. Irgendwo hörte er ein Schluchzen, das kein Traumgespinst war. Es weckte ihn. Claudine hatte in der entgegengesetzten Ecke des Zimmers gekauert, die Knie fest angezogen saß sie auf dem Boden. Kein Wind, der ihr ein frostiges Rosarot auf die Wangen gemalt hatte. Sie hatte sich geschminkt. Der Mund leuchtete in einem Blutrot, das er an ihr nicht kannte. Sie trug eine Theaterperücke, ein drahtiges graubraunes Ding mit Plastikhaaren, toupiert zu einer, so stellte er sich das vor, Karikatur einer Hausfrauenfrisur aus den 60ern. Claudine hatte die Perücke tief in die Stirn gezogen, der Pony reichte bis an die Sonnenbrille. Er sah den Glanz der beiden Tränenspuren, die darunter auftauchten und sich an ihrem Kinn wieder trafen. Claudine rauchte Kette. Was zum Teufel war da los, so anders sieht sie aus, will etwas sein, eine Filmfigur, eine Geistererscheinung, eine zitternde Botschaft, die man nicht übersehen soll; aber was war der Grund, dass sie so hässlich weit abrückte von ihm …
Endlich schaute sie auf. Ruhig sagte sie: „Ich habe irgendwo gelesen …, wer sich erfüllen kann, was er mag, weiß bald nicht mehr, was er sich wünschen soll.“
Sie kamen pünktlich zur Buffet-Eröffnung. Claudine schritt durch die Räume und streifte Mann um Mann, auf dass die Frauen nervös wurden. Ihr schwarzes Kleid ärmellos, hauteng. In einem abgrundtiefen Ausschnitt trug sie ein Collier aus Perlen, Bernsteintropfen und Muschelblättern, das er ihr geschenkt hatte. Ihre Locken hatte sie straff nach hinten gebunden. Sie bewegte sich auf denkbar hohen Absätzen in vollständiger Harmonie mit der Erdrotation. Claudine, furchtlos, gierig. Sie tanzte um Jens herum, ließ ihn stehen. Er nahm mit Hans ein Gespräch vom Mittag wieder auf über die Folgen des Klimawandels, nickte monoton einer großen, breiten aufgedonnerten Frau zu, die tiefgefrorenes Fleisch verdammte und die chinesische Fünf-Elemente-Küche pries. Rein und dynamisch könne der Körper werden. Rein und dynamisch … Noch ein Glas Wein trank er, nein, er stürzte es hinunter. Anders, etwas war anders an diesem Abend, sehr anders.
In diesem Moment tauchte Claudine auf, sie lachte, fiel ihm um den Hals, küsste ihn, drückte ihn in einen Sessel und setze sich auf seinen Schoß, um ihm dann ins Ohr zu flüstern: „Und, amüsierst du dich? … Eine wunderbare Party … tolle Leute.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Wie ich’s sage. Ich lerne gerade jemanden kennen.“
„Aha, aber du kennst doch schon jemanden.“
„Aber noch nicht Gordon.“
„Wer ist Gordon?“
„Un vétérinaire. Und er interessiert sich sehr für mich.“
„Da ist er hier sicher nicht der einzige.“
„Monsier Statique, er gefällt mir. Er stellt mir Fragen.“
Sie machte sich los, schnappte sich mit einer filmreifen Bewegung ein neues Weinglas vom Buffet und verschwand im Nachbarzimmer. Er ging ihr nach, blieb aber an der Tür stehen. Claudine lehnte an der Wand, hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt, sie zeigte ihre glatten schönen Achseln, neigte das Gesicht und fragte mit einem Blick aus Fernost den Tierarzt: „Gefalle ich dir?“
Irgendwann ließ Jens ein Taxi kommen und fuhr mit Claudine zurück in ihre Wohnung.
„Weißt du eigentlich, dass ich dich entdeckt habe, lange bevor du mich gesehen hast mit meinem Buch. Ich dachte, du bist es. Ich dachte, jetzt wäre es endlich so weit. Aber dann … Du bist etwas wie …, wie, ich weiß nicht, ich kann es ja nicht mal so lange festhalten, um darüber nachzudenken. Dabei dachte ich, ich wäre in dich verliebt.“
Viel musste Jens nicht zusammenpacken, es war ohnehin der frühe Morgen vor seiner Abreise am Nachmittag. Draußen hörte er Amseln singen, mitten im Dezember. Sie pfiffen und trällerten, als würde an allen Fronten der Frühling durchbrechen.
Claudine hatte ihn zum Haustor gebracht, um aufzuschließen. Die Jugendstil-Deckenlampe ließ ein trübes Licht über sie sickern. Als wolle sie ihnen ein für allemal das Mädchenhafte austreiben, zog Claudine ihre Locken glatter und glatter. Die rote rund gewölbte Unterlippe hatte sie eingesogen, den Mund presste sie zusammen.
„Na dann“, hatte er einen Satz begonnen, ohne die Absicht, ihn zu beenden.
„Ja, dann“, hatte Claudine ihm geantwortet.
Als er sie an sich ziehen wollte, hatte sie sich an die Tafel mit der Hausordnung und der Werbung eines Schlüsseldienstes gelehnt, hatte ihre linke Hand auf ihre rechte Schulter gelegt, den Arm vor die Brust gepresst. Er war nach links in die Gasse gegangen, im Schlepp den Rollkoffer, dessen Klackern sich an den bröckelnden Fassaden brach. Er ging vorbei an dem Drogeriemarkt, in dem er sich damals eine Zahnbürste besorgt hatte, nachdem er seine vergessen hatte: die erste Übernachtung bei Claudine. Aus dem Schaufenster der Bäckerei mit den entsetzlich weichen Brötchen lachten ihn drei Weihnachtsmänner an, die eine blinkende Lichterkette hielten. Dritter Advent.
Der Zug nahm wieder Fahrt auf. Die alten Damen hinter ihm schienen eingenickt zu sein. Aus seinem Rucksack holte Jens den kleinen Karton mit dem Spielzeugboot aus Blech, das er auf dem Weihnachtsmarkt am Spittelberg gekauft hatte. Claudine hatte eine Bekannte getroffen: Klatsch und Frauengeschichten waren hin und her gegangen und er hatte ihr das Boot nach der Party schenken wollen. Ein Kerzendampfboot nach altem Vorbild. Er legte das stilisierte, bronzen schimmernde Boot auf seine Handfläche. Man fülle Wasser in ein Rohr im Bootsrumpf, zünde dann in dem beigelegten Löffel den Docht und einige Wachsreste an, schiebe das Flämmchen vorsichtig unter den Kessel, der im angedeuteten Dach der Kajüte steckt; jetzt würde sich das Wasser in dem winzigen Röhrensystem erwärmen; nach ein paar Sekunden konnte die Fahrt beginnen. Bis das Flämmchen heruntergebrannt ist und noch ein Stück darüber hinaus wird die Dampfkraft das Boot vorantreiben am Rand der Schüssel: immer im Kreis.
Welcher Bahnhof war das? Würzburg? Jens sah die glücklichen Damen und Fritz auf dem Bahnsteig. War es nicht so gewesen: Die Freundin von Fritz’ Gattin hatte Angst, nicht rechtzeitig aussteigen zu können, schon viel zu früh hatte sie aufstehen wollen, aber die Freundin hatte von Fritz gesprochen und davon, dass er das mit den Taschen immer noch mit links mache, das werde sie schon sehen.
Langsam rollt der Zug an, findet seinen Weg über die vielen Weichen am Ende des Würzburger Hauptbahnhofs, beschleunigt allmählich. In etwas mehr als einer Stunde wird Jens in Frankfurt ankommen. Wolfgang wartet dort bereits in einem Hotel. Sie haben einen Termin mit einem bedeutenden Kunden. Der Vertrag ist nahezu unterschriftsreif. Er wird viel Geld bringen und eine große Herausforderung.
Jens hat nicht bemerkt, wie sie hinter dem dicken Schaffner durch den Gang gekommen ist. Sie schaut nach rechts und nach links und vergleicht die Schilder mit der Sitzplatz-Nummer auf ihrer Reservierung. Auf seiner Höhe bleibt sie stehen und lächelt. Sie hat in der Vierergruppe den Platz am Gang, ihm schräg gegenüber.
„Pardon, Sie können mir helfen? Ist Koffer schwer.“
Was für hellblaue Augen sie hat, so anders als jedes Blau, das man sich vorstellen kann. Und das Haar, honigblond, wie es wippt auf ihren Schultern. Wie hat man damals mal gesagt: ein „Mannequin“.
Jens steht auf und verbeugt sich wie ein gewissenhafter Diener in einem alten Film. Oder ein Ritter, der das alles entscheidende Turnier gewonnen hat. Mit leichter Hand hebt er ihren schweren Koffer auf die Ablage.
„Guten Abend, meine Name ist Daina. Bin ich auf Weg nach Riga, aber mache ich Stopp in Frankfurt bei Freundin. Reisen Sie wohin?“