Читать книгу Nie wieder Fußball! - Stefan Tillmann - Страница 8

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Der Kapitän

Das ist die Geschichte von vier Männern, von vier Fußballfans, die ihr Hobby satthatten, das längst zur Sucht geworden war; die eine Selbsthilfegruppe gründeten, weil sie mehr aus ihrem Leben machen wollten, zumindest aus ihren Samstagen. Ich war einer von ihnen.

Ich erinnere mich noch genau an jenen Tag im August, als alles begann. Es war ein heißer Tag, und ich stand in Unterreichenbach in der prallen Sonne. 20 Minuten war ich dorthin geradelt, dorthin, wo mir keiner etwas konnte: in der ersten Reihe beim Testspiel Sportfreunde Blau-Weiß gegen den 1. FC Nürnberg, vor mir 22 Mann, Böse gegen Gut. Der Nürnberg-Schal an meinem Handgelenk war bei der Hitze keine gute Idee. Aber Fußballfans haben keine Chance, wenn es einmal so weit gekommen ist. Man muss sich ergeben. Und ich habe mich gerne ergeben.

Unterreichenbach ist ein Ort wie Hunderte, vielleicht Tausende in Deutschland. Ein Ort mit einem Kreisligaverein. Der Sportplatz hatte keine Tribüne, sondern nur eine Planke um den Platz. Es gab Würstchen, Nürnberger, eine Hüpfburg und später noch eine Tombola. Im Hintergrund versuchte jemand, die Frau des Platzwarts zu erreichen.

Im Vereinsheim stand ein Fernseher, der immer noch darauf wartete, mal ein Spiel der Sportfreunde übertragen zu dürfen oder zumindest eine Pokalauslosung, bei der eine abgehalfterte Nationalspielerin eine Kugel mit dem Vereinsnamen aus dem Lostopf zieht, danach den FC Bayern oder noch besser: den Club. Und dann würden sie hierher schalten, die Sportschau, Sky, einfach alle, und sie würden nichts mehr verstehen. Weil alle brüllten und fränkelten und die Welt zumindest hier auf einmal eine völlig andere wäre.

Darauf warteten sie alle, die Clowns und Helden, die es in jedem Fußballverein gibt und die sich auch an diesem Tag wieder eingefunden hatten. Da war der verhinderte Profi, der immer noch von seinem Probetraining beim Club erzählte, von der vermeintlichen Verwechslung der Trainingsjacken, weshalb sie damals nicht ihn, sondern Marc Oechler verpflichtet hatten. Das Brüderpaar in der Abwehr, das auf dem Platz schon viele Stürmer und abseits viele Frauen abgeräumt hatte. Der Co-Trainer, der – nur weil er Abitur hatte und aus Baden-Württemberg kam – einen auf Jogi Löw machte, im weißen Hemd an der Linie stand und von halben Neunen und falschen Fuffzigern erzählte – dabei hat Jogi Löw gar kein Abitur.

Der Mäzen, der immer nur so viel Dreck am Stecken hatte, dass es ihm nutzte. Und dessen Möbelhaus-Trikotwerbung sie nach längerer Diskussion zumindest in Anführungszeichen gesetzt hatten, nachdem die Polizei ihm wieder etwas andichten wollte, wie er sagte. Der Alte, der eher zum abdichten kam, der früher, ja früher mal im Tor gestanden hatte und nun durchs Leben irrte wie damals durch den Strafraum; der noch genau 90 Minuten gerade stehen konnte und bei Verlängerungen immer gestützt werden musste.

Der Jugendtrainer, den vor allem die Väter fürchteten, weil er immer nach dem Aussehen der Spielermütter aufstellte, und dessen Masche, schmutzige Botschaften in die schmutzige Mannschaftswäsche zu stecken, bei den Müttern immer noch für ein Rangeln um den Wäschedienst sorgte. Die Blondine, die sie nur „Kickertisch“ nannten, weil immer vier Männer um sie herumstanden und an ihr rumschraubten. Von der es hieß, sie habe mal ein Triple mit den Abwehrbrüdern in der Kabine gehabt, die aber immer nur Augen für den schönen Stürmer hatte.

Dazwischen ich, Daniel Hübner, gerade 27 Jahre alt geworden, aber meine Mutter sagte immer noch „Dani“ zu mir. Ich war der Typ Träumer, der auf den Rasen guckte wie andere aufs Meer, in Gedanken meist weit weg, bei nie erlebten Meisterschaften und Europapokalschlachten kurz vorm Uralgebirge. Aber nie mit der Ruhe der Seeleute, sondern immer auch voller Angst: vor dem Scheitern, vor dem Sinken, vor dem Untergang. Man könnte sagen, ich habe immer das große Ganze gesehen, oder: Ich war total bescheuert. Fußball war für mich immer Nostalgie und Fantasie. Vor der Realität bin ich geflohen.

Sportreporter nennen Menschen wie mich „eingefleischt“. Andere waren live am Bildschirm dabei, als Neil Armstrong 1969 als erster Mensch den Mond betrat oder Muhammad Ali 1974 im Dschungel George Foreman schlug. Ich war im Stadion, als Frank Baumann 1999 kurz vor Schluss aus fünf Metern nicht ins Tor traf und der Club abstieg – ich träumte manchmal noch davon. Und während andere bei 2001 an den 11. September denken, an die Türme, die Flugzeuge und die ganzen Toten, so dachte ich an die 0:2-Heimniederlage, die wir vier Tage später gegen den 1. FC Kaiserslautern kassierten und die man kaum mit Weltpolitik entschuldigen konnte. Klaus Augenthaler war damals Club-Trainer, Weltpolitik schien seine Sache nicht zu sein. Und Fernsehen guckten sie in der Pfalz ja schließlich auch.

An jenem Wochenende war ich für drei Tage bei meinen Eltern in Schwabach bei Nürnberg. Wenn mich damals jemand gefragt hätte, welche drei Dinge ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde, hätte ich wohl gesagt: meinen Vater, meine Mutter und den Club. Auch wenn ich zum Club irgendwie ein emotionaleres Verhältnis hatte. Den Freitag hatte ich mir freigenommen und war mit dem Zug runtergefahren. Von Düsseldorf aus, wo ich seit zwei Jahren wohnte. Der Freitag war mein Geburtstag und die Fahrt nach Hause ein kleiner Trick, um nicht feiern zu müssen. Auf diese Weise dachten die Düsseldorfer Freunde, nun ja, Arbeitskollegen, ich feiere in Franken. Und die Schwabacher hatten keine Ahnung, dass ich zu Besuch war.

So stand ich an besagtem Sommertag zwischen all den Freizeitfußballfans. Ihre Freunde, Söhne oder Väter spielten auf dem verdorrten Grün gegen die Großen aus der Bundesliga und verloren ihren letzten Stolz. Und das Schlimme war: Diesen Menschen machte das nichts. „Hach, guck mal, der Thorsten, fast hätte der ein Tor gemacht“, sagte einer. Fußball war für sie ein Freizeitvergnügen für die ganze Familie – meiner Meinung nach hatten diese Menschen nichts begriffen.

Zwischen den Sportfreunden und dem Club stand es schnell 10:0 für meinen Club, aber zufrieden konnte ich nicht sein: Das Verschieben der Viererkette klappte überhaupt nicht, die Räume zwischen den beiden Sechsern waren viel zu groß, und der neue Außenstürmer zog alleine seine Bahnen im Niemandsland des Fußballplatzes. Verdammt, es würde wieder eine schwierige Saison werden. Die paar angereisten Club-Fans bekamen von all dem nicht viel mit. Drüben, hinter dem haushohen Gitter des Sportplatzes, marschierte eine Gruppe von 20 Fans langsam um das Spielfeld. Der Eintritt für das Spiel kostete für Nicht-Mitglieder der Sportfreunde drei Euro, Spazieren war umsonst. Fußballbegeisterung treibt manchmal seltsame Blüten.

Meine Laune wurde währenddessen immer schlechter. Dieses Gebrabbel hinter mir war schlimmer als im Rheinland: Da Rhein, da raus, dachte ich mir manchmal. Schlimmer aber war, dass es schon 10:0 stand und der neue Koreaner erst eine Bude gemacht hatte, einen Abstauber. Ich presste meinen Bauch an die Absperrung, auf Höhe des Sechzehners. Der Koreaner: direkt vor mir. Hinter mir verteilten Alkoholiker und Freizeitler Runden voller Bierbecher an ihre Freunde. Der Koreaner lief in den Strafraum, der neue Außenstürmer schickte ihn mit seinem vermutlich ersten Ballkontakt. Aber der Schiri pfiff.

„Pass doch auf, du Blinder“, schrie ich.

Um mich herum wurde es still, ganz still.

„Das war nie Abseits! Nie!“

Der Linksaußen der Sportfreunde guckte zu mir rüber und machte den Scheibenwischer, dieser Eric Cantona von Unterreichenbach.

„Und das ist Rot!“, schrie ich, „Zuschauerbeleidigung! Ja, verdammt nochmal, wo bin ich denn hier gelandet?“

In dem Moment spürte ich eine warme Hand auf der Schulter.

„Junge, was ist denn los mit dir?“, wollte der Alte wissen. Schon ziemlich angezählt, der Gute, stand er auf wackligen Beinen vor mir.

„Verdammt“, sagte ich, „das wär’s gewesen. Sein Tor. Und was macht der Koreaner? Klagt nicht, motzt nicht, spielt den Ball seelenruhig zum Torwart zurück.“

Der Alte drückte mit seiner Hand fester zu, nickte, und ich wusste, was jetzt käme. Ich riss mich los: „Nein, nein, nein“, rief ich, „es ist nicht nur ein Spiel. Es ist auch nicht nur ein Testspiel.“

„Nein, Junge, ich weiß“, sagte der Alte mit ruhiger Stimme, „aber dein Koreaner ist Japaner.“

Ich weiß nicht, worüber ich mich mehr ärgerte: über den Alten, über den Japaner oder über mich, denn solche Faktenfehler passierten mir sonst nicht. Ich hatte genug gesehen. War ja so oder so immer das Gleiche mit den Neuverpflichtungen! Die Hoffnungen verblassten meistens sowieso, bevor man den Namen richtig aussprechen konnte.

Zwei-, dreimal im Jahr schaute ich bei meinen Eltern vorbei. Ich nutzte mein altes Zimmer auf dem Dachboden. An der Wand hing eine alte Kicker-Stecktabelle, der Club ganz vorne, Bayern Letzter in der zweiten Liga. Ehrensache. Die Stecktabelle war für mich in meiner Düsseldorfer Wohnung tabu. Klar, andere Erwachsene machten das, die fanden das cool. Aber ich bin nicht so der ironische Typ. Und wenn doch mal eine Frau vorbeikommen sollte, hatte ich auf so komische Augenzwinkereien keinen Bock. Die gehen meistens in die Hose.

Noch am selben Tag fuhr ich zurück ins Rheinland. Ich sagte meinen Eltern, ich würde dort eine Party geben, keine Ahnung, ob sie mir das glaubten. Zumindest guckten sie zufrieden, als ich das Haus verließ. Und als ob es nicht genug gewesen wäre, dass wir Unterreichenbach am Ende 14:0 geschlagen hatten, traf ich im Zug Christiane Würkl. So viel Aufregung reichte normalerweise für eine ganze Woche.

Ich hatte am Bahnhof gerade das frische Kicker-Sonderheft gekauft. Das Entfernen der Stecktabelle aus dem Heftinneren war jedes Jahr ein magischer Moment, auch wenn ich sie letztlich nicht aufhängen würde. Ich freute mich auf Stunden alleine mit den Spielern, mit ihren Gewichtsangaben, den bisherigen Vereinen und den möglichen taktischen Aufstellungen. Was sollte man auf Zugfahrten sonst auch machen? Fahrten in Zügen, in denen man die Fenster nicht mehr runterreißen konnte, hatten all ihre Romantik verloren. Das wussten vor allem Fußballfans von den Auswärtsfahrten. Stattdessen musste man sich auf einmal seine Sitznachbarn oder irgendwelche Tatort-Kommissare auf diesem Bahn-Heft angucken. Dann lieber die Zeugwarte und Medizinkoffer auf den Mannschaftsbildern.

Gerade, als ich die Vereinswappen aus der Tabelle herausknibbelte, kam Christiane Würkl mit ihrem Rollkoffer in mein Abteil und rief laut „Daaaaani“. Apropos Romantik. Wir waren beide in dieselbe Schulklasse gegangen, hatten Räuber und Gendarm gespielt. Doch spätestens, als Christiane einen Pferdeschwanz bekam und ich Akne, war mir klar, dass aus uns nichts werden würde. Später studierten wir in Erlangen. Ich Volkswirtschaftslehre, sie irgendwas mit Versicherungen.

Das letzte Mal hatten wir uns auf einer Uni-Party in der Mensa gesehen. Es lief Klaus Lages „Tausendmal berührt“. Ich hatte mich Zeile um Zeile dem Pulk, in dem Christiane tanzte, genähert. Und als die Passage mit den Büschen kam, in denen sich die beiden aus dem Lied früher versteckt hatten, zwinkerte ich ihr zu. Ab da zwinkerten mir in der Uni auch manchmal ihre Freundinnen zu, aber auf dieses Gekicher danach hätte ich gut verzichten können.

Im Zug redeten wir übers Leben: über Eheringe, Häuser und Kinder, alles Dinge, die wir beide nicht besaßen. Also wechselte ich das Thema und redete über meinen Job. Ich arbeitete damals in der volkswirtschaftlichen Abteilung einer Bank. Während ehemalige Kommilitonen von mir in London arbeiteten, sich „All-Nighter“ nannten, wenn sie in einer Nacht nicht mehr als eine Stunde geschlafen hatten, und ihre Mails mit „Another day in paradise“ unterschrieben, arbeitete ich, wenn es hochkam, 50 Stunden in der Woche, schmierte mir abends Butterbrote und hatte sexuelle Fantasien, während ich Maybrit Illner guckte. Das nannte ich dann „bunte Stunde“. Alles in allem nicht das Leben, mit dem man Mädchen beeindrucken konnte – weder im Bahnabteil noch irgendwo sonst. Dass ich leicht fränkelte, machte die Sache nicht besser. Wäre ich wenigstens Stürmer bei den Sportfreunden geworden, aber dafür war ich immer schon viel zu schmächtig.

Auf meiner Visitenkarte stand immerhin „Junior Researcher“, das klang irgendwie ganz gut, fand ich. Leider hatte bis dahin noch niemand danach gefragt. Nachdem auch Christiane nicht wahnsinnig angetan von meinem Job schien, schob ich ihr meine Karte einfach unaufgefordert zu. Sie sagte nur „Danke“ und „Jürgen Klopp“ und deutete auf mein Kicker-Sonderheft.

Ich sagte, dass ich als „Glubberer“ so meine ganz eigene Meinung zu Borussia Dortmund hätte. Und dann sagte Christiane etwas, was sie besser nie gesagt hätte. Etwas, was besser überhaupt niemand jemals irgendwo sagen sollte: „Es ist ja auch nur ein Spiel.“ Ich versuchte, ruhig zu bleiben, ich guckte auf meine Visitenkarte, auf meine Stecktabelle, auf die Vereinswappen, überall hin, nur nicht in ihr Gesicht. Ja, dachte ich, wenn das Leben nur das Leben und der Tod nur der Tod ist, dann ist vielleicht Fußball auch nur Fußball. Aber es ist sicher niemals nur ein Spiel. Aber das konnte ich ihr unmöglich sagen.

„Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst“, sagte ich. Ich fand es wichtig, auch in brenzligen Situationen sachlich zu bleiben.

Sie sagte „okay“ und dass sie sich mal einen Kaffee holen müsse, ganz schnell, und ob ich bei Facebook sei. Dann zog sie mit versteinerter Miene und ihrem Rollkoffer davon. Ich wusste, dass ich wohl lieber meine Klappe gehalten hätte. Aber was wäre die Alternative gewesen? Mit ihr über die Champions League zu reden und am Ende noch über die Fünfjahreswertung? Dann doch lieber über Bausparverträge oder Eheringe. Mein Motto war immer: Lieber ein Auswärtsspiel verlieren als den Stolz. Bei Heimspielen wiederum hing das ganz vom Tabellenstand ab. Man kann nicht alles haben, das hatte ich schon früh kapiert. Die Sportfreunde schlagen und am selben Tag noch Christiane Würkl abschleppen – nein, es gab Grenzen.

Christiane war an diesem Tag sowieso nur das Warmmachen, das Pflichtspiel stieg in Würzburg zu. Ein Hippie-Mädchen, so ganz anders als Fräulein Würkl mit ihrem Rollköfferchen und eigentlich viel eher mein Typ. Vermutlich war dieses Hippie-Mädchen der letzte Auslöser, der mich derart durcheinanderbrachte, dass am Ende nichts mehr so sein sollte, wie es mal war.

Dieses Mädel hatte einen Anti-AKW-Aufkleber auf dem Backpacker-Rucksack, ihr Kopf hing tief über einem Buch von Albert Camus, und natürlich beachtete sie mich nicht. Atomkraft war mir immer egal gewesen, aber irgendwie wollte ich mit ihr reden. Ich hatte eine Idee, ich war ja nicht blöd.

„Camus?“, fragte ich.

Sie schaute hoch: „Ja.“

„Ich lese gerade was über Fußball“, entgegnete ich und hob das Sonderheft nur ganz kurz hoch.

„Interessant.“

„Nicht wahr?“, entgegnete ich. „Alles, was ich über Pflicht und Moral weiß, verdanke ich dem Fußball.“

„Na, wenn das alles ist …“

„Das war Camus!“, schob ich hinterher.

Sie guckte mich immer noch gelangweilt an.

„,Alles, was ich über Pflicht und Moral weiß, verdanke ich dem Fußball‘, das ist ein Zitat von Albert Camus.“ Ich lächelte, eine intelligentere Anmache war mir noch nie eingefallen.

„Na klar“, sagte sie.

„Doch, echt!“ Ich musste hart bleiben.

„Ja?“

„Ja.“

„Selbst wenn.“

In Frankfurt stieg sie aus. „Sorry, ich muss jetzt. Eine Freundin holt mich ab, wir fahren zum See.“

Ich wartete, bis sie das Abteil verlassen hatte, und rief in Richtung der sich schließenden Abteiltür: „Hey, Hippie! Kennst du denn das Zitat hier: Erst wenn der letzte See bevölkert, das letzte Sommerloch gestopft, das letzte Hemd verschwitzt, die letzte Bierbank besetzt und der letzte Schaffner gut gelaunt ist – werdet ihr merken, dass man den Sommer in Deutschland nicht ertragen kann.“ Sie war schon weg und hörte nicht, wie ich leise sagte: „Das ist von Daniel Hübner.“

Als der Zug wieder losfuhr, dämmerte es mir: So nicht, Leben. Nicht der ständige Loser sein oder allenfalls Unterreichenbach-Besieger. So scheiße war ich ja auch nicht drauf. Ich dachte an die zwei, drei Leute, die ich am Wochenende immer zum Fußballgucken traf, sonst aber nie. An die Gespräche über Fußball, über was auch sonst? An die letzte Saison, an die kommende. Nein, ich war immer ein Kämpfer gewesen, ein Sechser, nicht hübsch, aber ein feiner Kerl, der Guido Buchwald aus Schwabach.

In Düsseldorf angekommen, lief ich vorbei an den Bahngleisen, an gläsernen Hochhäusern und grauen Wohnblocks. Ich trat in Pfützen wie dieser Verliererjunge in der Sanostol-Werbung früher. Und ich ging meine ganz persönliche Saisonvorbereitung durch. Wenn Nürnberg nicht spielte, schaute ich oft Bayern-Spiele, um zu sehen, wie der FC Bayern verlor. Das ging natürlich meistens schief. Und schon hatte ich wieder einen halben Nachmittag in einer Kneipe gesessen, um mich zu ärgern. Na ja, und wenn Nürnberg spielte, war das eben genau umgekehrt – und trotzdem dasselbe.

Klar, ich hätte es mir leicht machen können, mit Fußball hätte ich problemlos zwei Drittel aller Wochenenden des Jahres bestreiten können, vor der Glotze oder auch im Stadion, so hatte ich es mir ja gedacht, als ich nach Nordrhein-Westfalen gezogen war. Dazu noch die Spiele unter der Woche, zweite Liga, internationale Wettbewerbe, ich hätte mich nie wirklich langweilen müssen – und nebenbei wäre ich bei einem echten Trend mal richtig vorn dabei gewesen. Die Tippspielrunde in der Firma gewann ich jedenfalls immer locker. Immer 2:1, immer auf den Favoriten, außer beim Club, der gewann bei mir immer. Früher muss alles besser gewesen sein, dachte ich. Der Club war viele Jahre lang Rekordmeister, Karl-Heinz Rummenigge verlor sein erstes Bundesligaspiel bei Kickers Offenbach mit 0:6. Doch diese Zeiten hatte ich nicht erlebt.

Ich wurde wütend, auf den FC Bayern, auf alles, auf mich. Ich dachte an Frank Baumann, unseren alten Fanklub „Rot für die Welt“, an Christiane Würkl, Albert Camus und die Tussi mit dem Anti-AKW-Aufkleber. Ein paar Straßen vor meiner Wohnung blieb ich stehen, holte das Sonderheft aus der Tasche und schmiss es in eine Mülltonne. „Scheiß auf Fußball“, sagte ich halblaut. „Der Club ist ein Depp“, das sagt man in Nürnberg so, weil immer alles irgendwie schiefläuft. Ich habe das nie gesagt. Der Depp war immer ich selbst. Aber das sollte jetzt ein Ende haben. Es musste ja wohl ein Leben ohne Fußball zu schaffen sein.

Ich lief weiter und dachte an all die Dinge, die ich bis dahin geschafft hatte: den Wechsel aufs Gymnasium, den Umzug mit meinen Eltern in die neue Siedlung, das Abitur, das Studium und den ersten Job ohne große Überbrückungszeit. „Walk on, Daniel“, rief ich in eine Seitenstraße. Ich marschierte weiter, dachte an die Zeit bei der Bundeswehr. „Nie wieder Krieg! Nie wieder Fußball“, sagte ich mir. Mit 27, in einem Alter, in dem viele Musiker sterben und zu Legenden werden, war es an der Zeit, mal wirklich etwas Neues zu wagen.

Nie wieder Fußball!

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