Читать книгу Anders als gedacht: Auf dem Weg ins Paradies ... - Stefan Wichmann - Страница 6
Оглавление1. Sonntag (Erdenzeit) – Wie in Zeitlupe
Sonntag, 09 Uhr Weltenzeit.
Ich fasste mir auf den Bauch: „Boah, bin ich satt! Drei Brötchen zum Frühstück waren wohl doch etwas übertrieben. Dazu sind wir auch noch ganz schön spät dran!“
José lächelte mir zu: „Na, wir sind ja nicht im Kirchenchor. Da ist es egal, wenn wir etwas zu spät kommen.“ Trotzdem setzte er zum Überholen an. „Drei Brötchen?“ Er beschleunigte weiter, die Tachonadel erreichte langsam den roten Bereich. Endlich schaltete er. Wir flogen förmlich um die Kurve. Das machte am meisten Spaß, wenn wir in die Sitze gedrückt wurden und die Gurte uns hielten. Das gab uns einen Kick. Jedes Mal. Wir gingen in eine Linkskurve und überholten den blankpolierten Wagen vor uns. Ich sah kurz hinüber zu diesem hirnlosen ‚Sonntagsfahrer‘, wie ich diese trödelnden Wagen immer nannte, die mit lediglich 45 Stundenkilometern die Fahrbahn blockierten. José scherte vor der Kurve wieder ein. „Weißt Du das die Zahl drei eine göttliche Zahl …„
Ein Krachen und Bersten übertönte seine Worte. Die frontale Gewalt eines entgegenkommenden LKW drang in unseren Wagen, zersplitterte die Scheinwerfer, schob unseren Motor zu einem Blechhäufchen zusammen und zerfetzte in einem Sekundenbruchteil unseren Fahrgastraum. Das letzte was ich sah, war meine Brille, die mir vom Gesicht entfleuchte, als mich der Körpergurt zurückriss, sich der Airback aufbauschte und mir die Brille in`s Gesicht zurück schleuderte. Geile Technik!
Ich wusste nicht, wie mir geschah. Es ging so schnell. So unheimlich schnell. Was mich betraf, spürte ich nicht einmal einen Schreck oder Schmerz im Gegenteil: Meine üblichen Kopfschmerzen waren weg, mein Körper nicht mehr so vollgefressen schwer wie eben noch. Vielmehr war ich in einer aufgeregten Neugier gefangen.
So schwebte ich durch den Raum und hielt Ausschau nach José, der ebenfalls aus dem Auto geschleudert worden sein musste.
So wie ich ihn kannte, grübelte er gerade darüber nach, wie viel PS der LKW wohl hatte. Aber wohin ich mich auch schaute: Er war nicht da!
„José!“ Hektisch schaute ich mich erneut nach allen Richtungen um. „Nein! Nein, nein, nein, nein!“ Erst realisiert ich, dass ich nicht schwebte oder noch immer flog, sondern, dass mein Körper, da unten im Autowrack eingeklemmt war. Neben mir saß José. Blutüberströmt klemmte er zwischen Sitz und Lenkstange. Etwas fehlte. Mr wurde schlecht vor Erschrecken, als ich realisierte, dass das Lenkrad nicht mehr da war. Das konnte doch nicht in José stecken? Er war gefangen im Metall unseres Wagens. So wie ich. Eine Hand war durch das Metall fixiert und ließ ihn sie ihn in unnatürlich verrenkter Position wie zum Gruß erheben. Wahrscheinlich hatte er die Hände noch abwehrend vom Steuerknüppel hochgerissen. Sein Körper war durch den Steuerknüppel auf dem Fahrersitz fixiert. Der Anblick war grausig. Und noch etwas stimmte hier nicht: Ich hörte jemanden schreien!
José konnte es ja nicht sein! Erst nach einigen Sekunden realisierte ich, dass die Stimme aus dem LKW kam.
Durchdringend. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte in den LKW zu schauen. Schrie der Fahrer? Wo war er überhaupt? Mein Blick wanderte zum Fahrerhaus. Jaaa, richtig. Dort saß er. Der Träumer, der Blödmann, der Mörder! Unwillkürlich kniff ich die Augen zusammen, aber hassen konnte ich ihn nicht. So sehr ich es mir in diesem Moment auch wollte. Es klappte nicht. Sein LKW klebte rechtsseitig an unserem zerborstenen Wagen. Aussteigen konnte er also nicht.
Was mir auffiel war, dass ich immer weniger menschliche Gefühle spürte, sondern verstärkt so etwas wie verzeihende Liebe.
Unvorstellbar. Ich weiß noch genau, wie mir dieser Zwiespalt meiner Gefühle durchs Hirn schoss. Da ich diesen fetten, blöden, LKW fahrenden Klops in seinem gepolsterten Autosessel in diesem Moment nicht hassen konnte, schaute ich ihn mir wenigstens einmal an. Wie es aussah, war auch er völlig überrascht.
Zumindest riss er seine Augen vor Schreck und Grauen weit auf. Ein Mund, eine Nase, zwei Augen und komische dünne Strähnen auf dem Kopf. Unwillkürlich fuhr ich mir mit meiner Hand über meinen Kopf. Er war glatt und Höher geformt als der Kopf von diesem Blödmann. Und er hatte Angst. Das war ja schon mal etwas. Er starrte aus seiner Kabine herunter. Starrte durch seine Scheibe. Starrte auf unsere Leichen. An meiner linken Hand krabbelte etwas. Ich zog sie weg und schaute nach links. „Haaa“, machte ich vor Schreck als José vor mir stand. Verwirrt schaute ich zum Auto. Da hingen unsere Körper. Erst jetzt realisierte ich, dass ich nicht mehr in meinem Körper war. Wer war ich? Ein Geist? Eine Seele? Der LKW-Fahrer starrte noch immer auf die fleischlichen Körper, auf Karina und José. Ein junges Paar. 21 und 22 Jahre alt, verheiratet, ein Goldfisch, kein Kind. Gestorben eine Woche vor Totensonntag. Mit schossen komische Gedanken durch den Kopf: Sie würden immer eine Woche zu spät für uns beten; die Gläubigen aus unserer Kirchengemeinde. Wirklich komische Gedanken, die mir da durchs Hirn fleuchten.
Mir fielen Banalitäten auf: Die Scheibe des LKW spiegelte nicht, ich konnte alles superscharf erkennen. Das Gesicht des Blödmanns war aschfahl, die Augen panisch und sein Mund geschlossen. Dann konnte er aber nicht geschrien haben! Erst jetzt realisierte er wohl wirklich, was geschehen war. Wie in Zeitlupe erhoben sich seine Hände, verließen das Lenkrad, während sich sein Mund zu einer runden verzerrten Öffnung verzog und sein Gesicht zur Fratze werden ließ. Jetzt gesellte sich sein Schrei dumpf abgeschwächt durch seine metallene Fahrzeugkabine zu dem Schrei, der mir schon die ganze Zeit in den Ohren klang. Sie überlagerten sich, wurden eins. Aufmoduliert, hätte mein früherer Musiklehrer jetzt gesagt und ich hätte wie immer genörgelt, dass dies ja eher eine physikalische Sache wäre, das mit den sich überlagernden Frequenzen.
Mir wurde in diesem Moment klar, dass ich bereits seinen Schrei gehört hatte, als er noch Gedanke gewesen, noch unausgesprochen war. Ich konnte also in die Zukunft hören! Es erstaunte mich nicht, ich nahm es einfach hin, überwältigt von der ganzen absurden Situation, dass ich überhaupt noch denken, beobachten, Nicht-Hassen konnte. Diese Genauigkeit all der Bewegungen, mit denen er seinen breiten Hintern schwerfällig zur Seite drehte, aus der Kabine wuchtete und seinen Körper hinterherzog, überraschte mich und schien mir gleichzeitig vollkommen logisch. Hinaus ins Freie! Klar, dass bei seinem Gewicht die ganze Fahrgastkabine ins Schaukeln geriet. Dies führte wiederum dazu, dass ein weiterer Splitter seines Scheinwerfers absprang und seinerseits fast wie in Zeitlupe einen kleinen Bogen beschreibend auf die Straße hüpfte, zweimal aufschlug und leise klirrend liegen blieb. Auch dies erfasste ich ruhig, ja, gelassen. Fast war ich enttäuscht, als das Dopamin in meinem Hirn die Botschaften wieder in Realzeit abspulte und weitere Splitter gewohnt schnell zur Erde purzelten.
Moment mal! Ich stand hier und beobachtete mich selbst? Meinen Körper?
Viele Gedanken schossen mir durch den Kopf. Wie konnte ein Botenstoff wie Dopamin noch auf mein Gehirn wirken, wenn ich bereits tot, nein, Geist war? Wie konnte ich einen Schrei hören, der sich erst noch durch das Vibrieren der Stimmbänder zu dem Laut formen würde, der schließlich durch die Bewegung von Gasmolekühlen den Druckunterschied bewirken konnte, auf den ein Ohr reagiert, in dem es den Schall einfängt und in die Gehörschnecke leitet? Hatte ich überhaupt noch eine Schnecke, wenn ich doch jetzt tot war? Warum spiegelte die Windschutzscheibe nicht, sodass ich sogar das Gesicht des Truckfahrers so genau hatte erkennen können? Mein Blick ging genau dorthin: zur Windschutzscheibe. Jetzt spiegelten sich die Schatten darin und verhüllten den Blick in das Fahrerhaus. War da noch eine zweite Person drin, fragte ich mich und war umso erstaunter, dass sich der Blick in das Innere sofort wieder freigab.
Meine Gedanken überschlugen sich. Ich kam nicht in Hektik, ich bemerkte lediglich die Vielfalt, die mich mit einem Male zu vollständig umgab, dass ich den Eindruck erlangte, einen neuen Körper und viel mehr Aufnahmekraft, ja fast schon mystische Fähigkeiten entwickelt zu haben. Wahnsinn!
Hier stand ich nun und ließ mich gefangen nehmen von neuen Eindrücken. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich noch viel mehr als José von dem „Leben danach" gehört und gelesen hatte. Doch wo war das letzte Ereignis, das einen am Ende des Lebens bevorstand? Eigentlich erwartete ich jetzt einen Tunnel, in den ich gehen sollte und in dem mir mein Leben in Farbe mit meinen Taten vorgeführt würde. Und natürlich mit meinen Verfehlungen, um mich noch einmal so richtig schämen zu können für üble Nachrede und für dies und das. Einzig: Er kam nicht. Weder Tunnel noch Film.
Auch das Licht, in das ich eintreten sollte, erschien mir nicht. Während der Blödian fleißig schrie, drückte José meine Hand. Gemeinsam standen wir einfach neben den verunfallten Wagen und sahen zu, was passierte.
„Schau mal“, raunte er. Sein Finger zitterte leicht, als er auf ein kleines Wesen zeigte, das sich am Rande des Geschehens an den Metallsplittern ergötzte. Zärtlich strich es über die Oberfläche, doch das war es nicht, was uns so erstaunte. Denn es war kein Mensch. Durchsichtige Flügel hielten es in der Luft, der Körper war schlank und anmutig, die langen blonden Haare flatterten im Wind, wie auch das angegraute Gewand, das es trug.
„Eine Fee, glaube ich“, flüsterte ich. „Wir sind gestorben. Wir bewegen uns im übernatürlichen Raum.“
„Was ... Wo?“, flüsterte José zurück.
Sie sprang auf eines der verbogenen Enden, bis dieses abbrach und scheppernd zu Boden fiel.
Gefasst schauten wir uns an. Unsere Hände tasteten zueinander und wir hielten uns so, wie wir uns die ganzen Jahre über festgehalten hatten.
Wann immer möglich, durchlebten wir alles gemeinsam, sofern die Arbeitszeit uns nicht trennte. Ansonsten aber genossen wir das Leben, die Sonne, die Natur! Jetzt sogar dies, den Übergang in die neue Welt, ins Totenreich, ins Paradies.
„Das im heiligen Buch beschriebene tausendjährige Friedensreich ist längst vorbei und erscheint vielen wie ein Mythos. Viele hatten sich wieder abgewandt von der Lehre der Priester. Viele, das hieß nach Hochrechnungen etwas die Hälfte der Menschen, die dem Glauben nach nicht in eine glückliche Ewigkeit ziehen würden. Aber ehe du in das Paradies oder in die Hölle kommst, bist du wie auf einem Zwischenbahnhof“, erklärte ich José.
Bei diesem Gedanken tat sich etwas. Wir entschwanden. Ich sah, wie José sich in einem Nebel langsam auflöste. Sicher tat ich es ihm gerade nach. Wir wurden in eine Ewigkeit gezogen, daran glaubte ich fest. Fast schade, dass ich nicht mehr erfahren würde, wie es mit dem LKW-Fahrer weitergehen würde. Und doch fühlte ich, das etwas nicht stimmte. José’s Neugier hielt ihn gefangen. Ich fühlte gleichzeitig, dass mich dieses Geschehen binden würde. Binden an die Normalität. Binden an dieses Leben. Ich würde nicht eintreten können in das Ziel, das meinen Glauben ausmachte, weil wir etwas Neuem begegnet waren und José seine Neugier befriedigen musste. José blickte sich noch einmal zu mir um. „Lass los“, sagte ich sanft, doch ich wusste, er konnte nicht anders. So blieb ich auch, als Geist zwischen den Welten und wusste noch nicht, welche Rolle wir spielen würden.
2. Dimanco (Sonntag) - wo ist José?
Der harte Untergrund wich einem sandigen Boden! Erstaunt schaute ich nach unten. Ja, dort war jetzt warmer, sandiger Boden. „Das passt", dachte ich, „weil wir ja jetzt in das Paradies kommen!" Wieso ich gerade auf das Paradies kam, vermochte ich nicht zu sagen. Ich fühlte Glück und Frieden, als sich um mich herum die Welt änderte. Mit einer unvorstellbaren Behaglichkeit schaute ich zu José, dessen Gesicht sich zu einer Fratze verzog. Er reckte seine Hand zu seinem Körper, als wolle er wieder in ihn hinein. „José, lass los. Du must das alte Leben loslassen“, sagte ich sanft. Ich spürte die Kraft, die an mir, an meiner Seele zog, um mich endgültig vom Fleisch zu trennen. Ich musste hierbleiben und José helfen! Es begann wehzutun, als ich mich gegen diese Kraft stemmte, die mich mitnehmen wollte, in die Ewigkeit an die ich zeitlebens geglaubt hatte. Mir wurde bewusst, dass mein wohliges Lächeln erstarb. Es rauschte um uns herum und gleichzeitig blieben die Blätter auf dem Boden der Erde reglos liegen. Ich kann es nicht anders beschreiben, als Sturm in einem Wasserglas. Wir waren drinnen gefangen und außerhalb war das bisherige Leben. Ich musste eine Entscheidung treffen. Jetzt!