Читать книгу Anders als gedacht: Auf dem Weg ins Paradies ... - Stefan Wichmann - Страница 7

3. Dimanco (Sonntag) - Ankunft

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Die Sonne warf ihre Strahlen auf dieses Fleckchen, an dem ich stand. Aus Gewohnheit grub ich meine Zehen tief in den feinen Sand hinein. Mein Herz pumpte vor Freude, mein Blut puckerte, ich spürte es überall, so kribbelte es in mir. Ich konnte nicht erwarten, was jetzt wohl geschehen würde. Und jetzt, jetzt endlich wurde es hell um mich herum. Meinen Körper spürte ich nicht mehr. Er wurde leicht. Die Berührung mit José war verloren. Ich aber genoss diesen Augenblick, diesen herrlichen Moment des Lebens.

Vor mir öffnete sich eine neue Welt. Ich fühlte den Sand in einer Feinheit durch meine Zehen rieseln, die unbeschreiblich war. Völlig verwundert beobachtete ich das Schauspiel. Sandkorn für Sandkorn schlängelte sich durch meine Zehen und ließ diese noch tiefer in den warmen Boden hinein. Als ich einatmete, durchströmte mich eine Freiheit und Leichtigkeit, wie ich sie noch nie erfahren hatte. Tief zog ich die Luft in meine Lungen und genoss diese Frische. Langsam hob ich den Kopf und wagte einen Blick in mein neues Umfeld. Der Blick war weitläufig. Mich umgab pure Natur. Bunt, schillernd. Ich wusste gar nicht, wohin ich zuerst schauen sollte. Ein Glücksgefühl durchströmte mich in einer warmen Welle.

Ich stand auf einer großen Lichtung. Vor mir lag ein Tal mit tiefgrünen Wiesen, die bis an den Horizont reichten. Links und rechts waren sie von blühenden Sträuchern und dahinterliegend von reichhaltigen Wäldern in den tollsten Grüntönen begrenzt. Über der Wiese lag ein feiner Nebel, der schnell in einen strahlend blauen Himmel überging.

Das alles nahm mich sofort gefangen. Dieser Ausblick mit all den warmen, fröhlichen und satten Farben war unbeschreiblich! Egal wohin ich schaute, zum Himmel, zum Boden oder in die Natur: Alles erstrahlte in einem so ausgefüllten Farbton, dass ich mich gar nicht sattsehen konnte! Dabei blendete weder die Sonne, noch die Vielfalt um mich herum. Ich konnte genießen. Einfach nur genießen!

Es gab keinen Gedanken an dies oder das. Kein Bangen um irgendwas.

Erneut sog ich die Luft ein. Sie fühlte sich an wie nach einem warmen Sommerregen. Sie war so rein, ja schien tatsächlich unberührt, dass ich nicht anders konnte, als einen Augenblick innezuhalten, die Augen zu schließen und zu staunen.

„Aaaah, tut das gut", seufzte ich endlich.

Im tiefsten Innern glücklich, öffnete ich die Augen. Um mich herum nahm ich schemenhaft Gestalten wahr. Sie drängten sich nicht auf, sondern warteten. Erst als ich innerlich bereit war sie in mein Leben zu lassen, näherten sie sich und wurden mit jedem Schritt, den sie näherkamen farbenfroher.

Es waren viele, die mich in Empfang nahmen. Eine große Anzahl kannte ich nicht einmal. Vermutlich waren wir uns im Erdenleben begegnet und hatten einander geholfen, so wie man sich halt mal hilft oder im Vorbeigehen grüßt. In diesem ersten Augenblick hatte ich nur Augen für meine Eltern, für Oma, Opa, Freunde und Freundinnen. Fröhlich umarmten wir einander. Alle hatten ein nettes Wort für mich oder stellten sich vor: „Hallo! Wie schön dich zu sehen!" – „Wie lange ist das her!" – „Ich habe immer auf dich aufgepasst, für dich gehofft und gebetet!" – „Einfach nur schön, dass du jetzt auch da bist."

Die freudigen Bekundungen stürmten auf mich ein, so dass ich gar nicht antworten konnte. Sie alle nahmen mich in den Arm, drückten mich und schauten mir durchdringend in die Augen. Mein Gott, selbst diese Blickkontakte waren viel intensiver als alles mir bisher bekannten. Vereinzelt klopften mir mittlerweile manche nur noch auf die Schulter oder gaben mir die Hand. Wir fanden lediglich für kurze Gesprächshäppchen Zeit.

„Sie sind damals für mich eingetreten, wissen sie noch?"

„Nein, ehrlich gesagt, … oh warten sie …, doch. Doch ich erinnere mich!" Verwundert erkannte ich, dass ein kurzes Innehalten und mich Besinnen mir auch die Erinnerung an längst vergessene Kleinigkeiten lieferte. Dies also war es für mich: mein eigener schwarz-weißer Film mit realen Personen. An manchen Stellen mit einem Glücksgefühl, an anderen Momenten mit dem schmerzenden Erkennen, was ich einem Mitmenschen oder Lebewesen angetan hatte. Besonders dann tat mir das Schulterklopfen wohl, denn ich fühlte: Ich hatte längst Vergebung erfahren.

„Mir hast du deinen Lebtag nicht verziehen", ertönte eine tiefe Stimme. Sie war mir bekannt. Zu bekannt, als dass ich wirkliche Freude empfinden konnte. Wohl auch aus diesem Grund fühlte ich, dass ich eher ein Bild des Schreckens abgeben musste. Erstarrt, ja verstört stand ich vor meinem ehemaligen Lehrer, der mich seinerzeit mit schnell hintereinander folgenden Fragen durch meine Abschlussprüfung in die Fünf gepeitscht hatte. Sofort kam die Erinnerung wieder hoch, wie ich gedemütigt vor dem Prüfungskomitee stand.

„Sie wussten genau, wo meine Schwächen lagen!"

„Ja."

„Das Referat, das ich gehalten hatte, haben sie einfach nicht bewertet. Sie sagten: Würden sie eine Note geben, wäre es für die Ausarbeitung eine Eins! Wie sagten Sie noch?", aufbrausend äffte ich ihn nach: „Aber ich gebe diesmal keine Note."

Meiner Kehle entrann sich ein Schluchzer, über seine Gemeinheit: „Wissen sie noch?"

„Ja."

„Sie haben sogar die Nachprüfung verhindert!"

„Ja."

Beide starrten wir uns an. Ich spürte, wie er mit sich rang, aber er war überzeugt, damals das Richtige getan zu haben. Mein Leben hatte eine andere Wendung genommen. Die Wendung, das wurde mir jetzt klar, die mein Schöpfer mir als Drehbuch vorgegeben hatte. Mit Inhalt und mit Leben hatte ich das Buch gefüllt, das war klar. War er nur Mittel zum Zweck gewesen? Ich spürte sein Dilemma und er spürte meines. Wir umarmten uns. Es war gut. Mit einem mal war alles gut.

Die anderen gaben uns Zeit, auch wenn wir nichts weiter aussprachen und doch wollte keiner von uns beiden die Anderen warten lassen. Er nickte mir zu und ich puffte ihn aus einer Eingebung heraus fast freundschaftlich in die Seite, bevor ich weitere Hände schüttelte oder wieder liebevoll auf viele Schultern klopfte, so wie sie auf meine klopften. Zu überwältigt war das Wiedersehen und doch, etwas fehlte! Ich sah mich suchend um.

„Wo ist José?", entfuhr es mir.

„Dein Freund?", flüsterte eine Stimme hinter mir.

„Ja! Wo ist José?" Meine Stimme überschlug sich leicht.

Etwas stimmte nicht.

„Nun komm doch erst einmal an."

Ich drehte mich um.

Aus dem bärtigen Gesicht meines alten Schulfreundes strahlten mir seine blauen Augen entgegen.

„Frank!"

Seine Lachfalten um die Augen verstärkten sich noch. Wir umarmten uns. Es war wie damals, als er in mich verschossen war. Ich löste die Umarmung vorsichtig, aber bestimmt. Wir standen uns gegenüber. Er hielt mich mit seinen fleischigen Händen an den Schultern.

„Karina, wie lange ist das her!"

Mir fiel auf, dass sich seine Lachfalten im Laufe der Zeit tief eingegraben hatten.

„Mensch Frank. Was bist Du braungebrannt. Was ist nur aus dem alten Stubenhocker geworden?"

„Stubenhocker?", gluckste er. „Wir waren doch ständig unterwegs! Wir haben doch das Leben genossen und alle Fünfe gerade sein lassen!"

Ich nickte. „War ja auch ironisch gemeint", murmelte ich und dachte: „Etwas immer noch der Alte?"

Insgeheim befürchtete ich in diesem Augenblick, in der Hölle gelandet zu sein. Frank hatte immer Dummheiten im Kopf gehabt. In einer Clique gibt es immer einen Clown und einen Blödmann. Frank war zumindest damals der Blödmann. Er war der, der ohne nachzudenken überhastete Aktionen einläutete und einen in eine missliche Lage brachte, ehe man erfassen konnte, was geschah.

Er drückte noch einmal meine Schultern, sah mir ins Gesicht und ließ mich zögernd los. Mit einem Mal war er sehr ernst.

„Du vermisst José. Du vermisst schon jetzt deine große Liebe, kaum dass du drei Minuten hier bist."

Seine Stimmlage verriet ihn. Ja, trotz allem mochte ich Frank irgendwie, aber José liebte ich. Schwerfällig nickte ich: „Woher weißt Du das?"

Die folgende Frage kam mir schwer über die Lippen: „Frank, Du bist gestorben, ehe du ihn kennenlernen konntest!"

„Ja, Scheißmutprobe damals."

Jetzt verrieten nur noch die fest eingekerbten Lachfalten, dass er immer seinen Spaß gesucht hatte. ‚Seinen Spaß‘, wiederholte ich in Gedanken. Aber er konnte auch ernst sein. Das wusste ich noch und es machte mir Angst, wenn er so war wie jetzt. Das verhieß schon damals nichts Gutes, wenn er so war.

„José ist nicht hier."

„Was heißt, er ist nicht hier!"

Meine Stimme klang etwas schrill.

Frank senkte den Kopf. Mit klopfendem Herzen schaute ich in die Gesichter aller Umstehenden. Ich schaute in die Augen meiner Familie, bis hin zu meiner Oma und meinem Opa. Erst jetzt entdeckte ich meine Tante, die sich schon seit jeher zurückgehalten hatte. Doch in diesem Moment hatte ich keinen Nerv sie zu begrüßen. Meine Gedanken waren auf José fixiert. Ich sah in den vielfältigen Gesichtern, dass sie mit mir fühlten. Offensichtlich kannten sie mich alle durch und durch. Vermutlich waren es viele meiner Vorfahren. Wegbegleiter, die wie ich und José selbst, sich zu Gott gehalten hatten. Ja, wir hatten an ein Leben nach dem Tod geglaubt und an ein ewiges Leben. Schneller als gedacht, hatte José und mich das Schicksal ereilt und unserem Glauben zum Schauen verholfen. Nur das jetzt José fehlte!

„Er war noch überzeugter als ich", hauchte ich tonlos. „Das kann nicht sein, dass er es nicht geschafft haben sollte!"

Jetzt umklammerten meine Hände Franks Schulter. Meine Gedanken formten ein bitterböses: ‚selbst du Frank hast es offensichtlich geschafft‘!

Er wirkte mit einem mal total bestürzt. Für einen Moment fiel er in sich zusammen, als hätte er meine Gedanken gelesen. Kraftlos öffnete er den Mund, schloss ihn wieder, fasste dann aber Mut und sprach es endlich aus: „Er hat es ja geschafft", murmelte er. „Nur nicht hierher …„

„Nicht hierher?", unterbrach ich ihn. Meine Stimme zitterte und er verstummte.

„Yep, Yep", bellte ein Hund. Kaum hatte ich ihn gehört, drückte er schon seine Schnauze an meine Beine. Eine Pfote trampelte mir auf dem rechten Fuß herum und dann warf sich dieser schwarz-weiße Hund gegen meine Beine.

„Flo'chen!", freute ich mich! Fast gleichzeitig schrak ich zurück. „Sie ist doch schon vor Jahren gestorben!"

„So wie Du jetzt gestorben bist", murmelte Frank.

Ich bezwang mich, schluckte schwer und ging in die Knie, um sie zu kraulen.

„Wahnsinn", raunte ich, obwohl meine Gedanken immer noch bei José waren. Trotzdem kraulte ich meinen früheren Hund, hielt ihm wie damals verspielt die Schnauze zu und er hob fast freundschaftlich die Pfote, um meine Hand sanft zurückzudrücken.

„Wahnsinn", wiederholte ich, obwohl ich die Situation nicht so recht genießen konnte. Auch wollte ich keinen Hund mehr, das hatte ich mir schon damals geschworen. Langsam stand ich auf. Flo'chen blickte zu mir auf, dann rannte sie los und entschwand meinen Blicken. „Wo rennt sie hin?"

„Sie wollte dich wohl nur kurz begrüßen", murmelte mein Vater. Meine Mutter stupste ihn wie schon in ihren Erdentagen so heimlich in den Rücken, dass alle es mitkriegten.

„Mam?", fragte ich, aber Frank sprach schon weiter.

„Alles was ich weiß ist, dass José dein Freund ist und ihr seit jeher alles geteilt habt. Keinen Urlaub, ja keine freie Minute, habt ihr voneinander getrennt verbracht, wenn es sich nur hatte vermeiden lassen." Er nickte wissend beim Sprechen. „Was hab ich ihn beneidet."

„Frank!"

Er holte tief Luft. „Jeder hat seinen Entwicklungsstand. Er wird noch etwas brauchen."

„Was wird er brauchen? Frank, rede doch endlich in ganzen Sätzen!"

Er lächelte gezwungen. „Tue ich ja. Du meinst, ich soll hintereinanderweg erzählen."

„Himmel nochmal, ja!"

Er stutzte. „Du wirst doch hier nicht fluchen nach nur fünf Minuten?"

Es war eine rhetorische Frage, aber er brachte mich mit seiner Art zur Weißglut. Ich hatte mir den Himmel immer perfekt vorgestellt. Ohne Ärger, ohne Probleme und ohne Frank. Mit stockte der Atem.

„Ich bin in der Hölle gelandet!", rief ich ernüchtert. „Nur José hat es in den Himmel geschafft!"

Dröhnend prustete Frank los, warf seinen Kopf in den Nacken und lachte so ausgelassen, dass sein gackerndes Glucksen seinen Körper durchrüttelte.

Ich wartete, aber die Zeit zerriss mich förmlich. Endlich schüttelte er verneinend den Kopf und wischte sich eine Träne aus einem Auge. Meine Mama nahm mich in den Arm.

„Kleines. José ist nicht hier", raunte sie behutsam.

Mein Vater mischte sich ein. „Ja, vielleicht ist er ja einen Schritt weiter als wir!"

„Das ist ja wieder typisch! Du betrachtest die tollsten Möglichkeiten. Was soll denn ‚weiter‘ sein oder ‚höher‘, oder ‚schöner‘ als das Paradies?" Meine Mutter betonte die Adjektive schnippisch.

„Ganz wie in alten Zeiten", entfuhr es mir. „Also doch Hölle. Warum seit ihr noch zusammen?"

„Och, das sind wir nicht. Wir wollten dich nur begrüßen." Mein Vater strich mir über den Kopf und wartete ab.

Tränen stiegen mir in die Augen.

„Karina. Schau dich mal um. Eben noch hast du das alles genossen. Das kann nicht die Hölle sein. Beileibe nicht! Du hast es geschafft! Freue dich doch erst einmal."

Durch einen Tränenschleier hindurch starrte ich ihn an.

„Es gibt Hoffnung", redete Frank mir Mut zu. „Vielleicht ist er in einem anderen Himmel gelandet."

Ich zog die Stirn kraus, aber ehe ich fragen konnte, zog meine Mutter mich mit sich fort.

„Komm", sagte sie schlicht.

Im Fortgehen schaute ich zu Frank zurück. Was sollte dieser Spruch mit anderen Himmeln?

Anders als gedacht: Auf dem Weg ins Paradies ...

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