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IX. Der ewige Weg
Оглавление»Denn ich weiß wohl, was für Gedanken ich über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, dessen ihr wartet. Und ihr werdet mich anrufen, und ich werde euch erhören. Denn so ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr, und will euer Gefängnis wenden.«
Jer. XIX, 11–14.
Der gleiche große Platz vor dem Tempel wie im ersten Bilde, doch nun mit allen Zeichen der Vernichtung und Zerstörung.
Auf dem Platze stauen sich in wirrem Geschiebe Karren mit Hausrat beladen, aufgezäumte Tragtiere, Wagen und Gefährte, dazwischen der strömende Schwarm der flüchtigen Menschen, die zum großen Aufbruch rüsten. Immer neue Gruppen drängen aus den Gassen her, immer lauter wird das Geschwirre der Stimmen. Auf den Stufen hocken teilnahmlos Greise und Frauen, indes die Männer die Maulesel zäumen; chaldäische Krieger in voller Rüstung schreiten stolz und herrisch durch das Getümmel, sich Platz mit den Speeren stoßend, und wachen über die Vertriebenen.
Über dem wirr geschäftigen tragischen Treiben hängt das Dunkel einer mondverwölkten Nacht, die allmählich in das Ungewiß der nahenden Dämmerung übergeht. Manchmal löst sich ein Glanz von Licht weißlich aus den Wolken los und erhellt das Bild der Verwirrung, indes von Osten schon als rötlicher Rauch der Frühschein des Morgens sich kündet.
STIMMEN:
Hier ist der Platz… wie viele ihrer schon sind… haltet euch zusammen, Söhne Rubens… wie es doch dunkel ist… hier voran, daß ihr die ersten seid…
ANDERE STIMMEN:
Was drängt ihr… unser ist die Stelle… seit Abend stehen unsere Mäuler hier gegürtet… Unser ist die Stelle… immer will Ruben voran sein…
EIN ALTER:
Nicht streitet… lasset Ruben voran, so will es das Gesetz…
DIE ANDERN STIMMEN:
Es gibt kein Gesetz mehr… verbrannt ist die Schrift… wer bist du, daß du uns gebieten willst… die Priester ruft, die Priester… Es gibt keine Priester mehr… alle raffte sie das Schwert… Hananja ist entkommen… nein, am Pfahle verdarb er… führerlos sind wir… verlassen von allen… wer wird uns gebieten… oh, Qual der Knechtschaft… wer wird die Opfer empfangen zu Babel… wer uns deuten das Wort… ausgerottet ist Aarons Geschlecht… weh uns Verwaisten… daß wir die Lade doch hätten und die Rolle des Gesetzes… sie ist verbrannt… nein, Gottes Wort verbrennt nicht… selbst sah ich sie kohlen im Feuer, wie eine Schlange sprang sie hoch… wehe, sie ist verbrannt… verbrannt das Gesetz… nein, es kann nicht wahr sein, Gottes Wort verbrennet nicht… ist sein Haus nicht verbrannt, sein Altar nicht gestürzt… ließ er nicht sinken seine heilige Stadt… Ja… ja… hat er nicht uns in Knechtschaft gegeben… ja… ja… gebrochen hat er den Bund, vernichtet die Verheißung… lästert nicht… lästert nicht… ich fürchte ihn nicht mehr… lästert nicht… wer gebietet mir… führerlos sind wir… daß doch Mose uns erstünde… daß ein Richter unter uns wäre… der König, wo ist er… der Geblendete… blind ist er immer gewesen… er hat uns hinabgestoßen… oh, Ende Israels, Ende Jerusalems… was ziehen wir aus ohne Gott und Gesetz, ohne Führer, der uns weise… oh, Simson, Simson… warum kommt er nicht, der uns ausführet mit starker Hand… nie war größer die Not… ach, er kommt nicht, verloren sind wir… Gott ist gesunken mit seinem Tempel… lästere nicht… lästere nicht… daß er doch käme, der Verkünder, der Befreier…
EINE NEUE GRUPPE (aus dem Dunkel):
Hier ist des Marktes Mitte… wer seid ihr… Benjamin sind wir… die Letzten, reihet euch an… nein… nein… wir wollen nicht fressen von eurem Staube… und wir nicht den euren… fort mit den Tieren, führt sie am Zaume… ihr tretet die Frauen… weichet aus… wehe, was stoßet ihr… es ist so dunkel… ach, daß es schon Morgen würde, daß ausginge diese Nacht… wehe, wie Arges wünschest du, bete, daß ewig sie währte, denn die letzte ist sie auf Zions Berge… ja… ja… segne die Nacht, sie birgt unsere Tränen, sie hüllt unsere Schmach… die Sonne von morgen wird uns entblößen und unsere Scham den Heiden zeigen… wehe… betet, daß der Morgen nie komme über unser beladen Haupt… ich kann nicht beten mehr… meine Seele ist starr geworden in Schrecken und mein Herz steinern vor Grauen… selig die unten liegen im Dunkel für ewig und Ruhe haben, selig die Toten Israels, sie dürfen weilen im Schatten der Heimat… ins Diensthaus müssen wir ziehen… ach, bräche doch nie dieser Tag über uns… wehe uns, weh unsern Kindern, den Knechten der Fremde…
(GELÄCHTER UND TUMULT aus dem Palast. Heraus treten, beleuchtet von Fackeln, die trunkenen chaldäischen Fürsten, grölend und lachend. In ihrer Mitte haben sie einen, den sie fortstoßen, einer zum andern, daß er zwischen ihnen schwankt und immer zu fallen droht.)
DIE CHALDÄISCHEN KRIEGER (durcheinander):
So geh doch wider Nabukadnezar… Auf, Erstürmer Babels… nicht falle, du Säule Israels… geh… stoßt ihn weg… er ödet uns… nicht kann er tanzen, wie David, der König… nicht schlägt er die Psalter… lasset ihn… kommt zurück zum Weine… an seinen Weibern erletz ich mich lieber… lasset ihn Dunkel trinken, und trinken wir Wein… kommt… kehret… laßt ihn…
(DIE KRIEGER kehren lachend und lärmend in den Palast zurück. Der Verlassene bleibt unsicher im Dunkel über der Treppe stehen. Ein matter Strich verwölkten Mondlichtes läßt seinen Schatten schwarz hinter ihm aufstehen, daß er groß und gespenstig scheint.) (DIE MENGE, unten in Schrecken und Staunen wogend, leise flüsternd.)
STIMMEN:
Wer ist es… warum haben sie ihn fortgestoßen vom Mahle… wer ist er… wie ein Felsen steht er schwarz… warum spricht er nicht… seine Blicke sind verschnürt… wie er die Hände hebt… wer ist er… nicht nahet ihm… wer mag es sein… ich will sehen…
(EINIGE der Beherzten sind die Stufen emporgeklommen.)
EINER (plötzlich aufschreiend):
Zedekia!
DIE MENGE (durcheinander):
Der König… der Geblendete… Gottes Gericht… Zedekia…
ZEDEKIA (unsicher):
Wer ruft mich?…
STIMMEN:
Keiner ruft dich… Fluch ruft dich und Gottes Gericht… Wo sind die Ägypter… wo ist Zion…
ANDERE STIMMEN:
Schweiget!… Der Gesalbte ist er des Herrn… geblendet haben ihn unsere Feinde… Ehrfurcht dem Könige… ehret den Dulder…
ANDERE STIMMEN:
Nein, er soll nicht sitzen unter uns… wo sind meine Kinder… gib sie mir wieder… Fluch über den Mörder Israels… sein ist die Schuld… fort mit ihm… warum lebt er, da Bessere starben?
ZEDEKIA (zu einem, der emporgestiegen ist und ihn leitet):
Wer sind jene, die wider mich rufen? Ist es Israel, das mir feind ist?
DER FÜHRENDE:
Herr, Unglückliche sind es!
STIMMEN:
Nicht führe ihn her, gesondert sei unser Los von dem seinen!… abseits möge er sitzen… Gott hat ihn gestraft… Fluch liegt auf ihm…
ZEDEKIA:
Fort… führe mich fort… in den Tempel, daß er mich berge vor ihrem Hasse… ich will ihre Stimmen nicht hören… ihr Haß brennt auf meine Wunden… in den Tempel.
DER FÜHRENDE:
Herr, der Tempel ist nicht mehr.
ZEDEKIA:
Ist der Tempel gefallen… dann falle auch ich… wehe, wer tötet mich, den Blinden… geh… sage ihnen, rufe sie, die mich schmähen, daß sie ein Ende machen.
DER ÄLTESTE:
Weichet vom Könige! Ehrfurcht dem Gesalbten des Herrn! Was zerfleischet ihr einander, da der Feind uns würget?
STIMMEN:
Ein Fluchbringer ist er… er hat Gottes Haus stürzen lassen… er brach den Eid… nein, lasset ihn… man hat seine Söhne geschlagen… ein Blinder ist er… aber er soll nicht mehr König sein… nein… nein… was soll uns ein Blinder… eine Last ist er… nein, er soll nicht König sein… nein…
ZEDEKIA (fast weinend in seiner Hilflosigkeit):
Führ mich fort… meine Augen sind mir genommen… die Krone noch reißen sie mir ab… birg mich… verbirg mich vor ihnen.
EINE FRAU: Hier ruhe aus… mein König, bette dich hin.
(ZEDEKIA wird an der Treppe hingebettet, Neugierde drängt um ihn.)
DER ÄLTESTE:
Weichet vom Könige! Ehrfurcht dem Gesalbten des Herrn! Unser Führer ist er von Gott.
STIMMEN:
Nein… ein Blinder ist kein Führer… wie kann er König sein in Jerusalem, da Zion fiel… Knechte sind wir alle, wir brauchen keine Führer… oh, wir bedürfen eines Erretters… oh, daß Mose uns erstünde… ein Tröster wäre vonnöten, kein Bedrückter… ein Erleuchteter und kein Blinder… niemand kann uns helfen… rüstet zur Reise… sehet das Dämmern… wehe der Tag… oh, Auszug ins Fremde… wehe wir Vertriebenen… wehe uns Führerlosen…
(EIN LAUTES KLINGENDES TÖNEN von ferne.)
STIMMEN:
Wehe, die Posaune… die Posaune… hört ihr sie tönen… nein, es ist die Posaune nicht… wie von Zimbeln klingt es und Pauken… Gesang, hört ihr Gesang… es jauchzen unsere Feinde… oh, Schmach… oh, Qual…
(DAS LAUTE KLINGENDE TÖNEN kommt näher.)
STIMMEN:
Pauken und Zimbeln… sie rufen… sie jauchzen… sie kommen, uns fortzutreiben… Gesang schwillt her… wehe, wehe, wenn unsere Feinde jauchzen… ihren Sieg jubeln sie… verschließet die Ohren… weh, ihrer ist das Frohlocken und unser die Trauer… Schmach, es hören zu müssen… wohin flüchten vor ihrem Hohn… sie danken ihrem Gotte… wem sollen wir klagen?
(DAS TÖNEN ist ganz nah, man hört einzelne Rufe und Zimbelschläge. Aus dem Dunkel sieht man eine Gruppe Menschen schreiten, die sich jubelnd um eine hohe Gestalt drängen.)
EINER (aus der Menge):
Sehet… sehet… der Unseren welche sind es, die nahen…
STIMMEN:
Es ist nicht wahr… wie könnten sie jauchzen… Fluch dem Sohn Israels, der frohlockte an diesem Tag… Trunkene müssen es sein… die Unsern sind es… ich erkenne sie… Wer ist es, den sie umschreiten… was geschieht hier… was jauchzen sie… was schlägt die Zimbel das rasende Weib…
(DIE GRUPPE der Nahenden, mit Jeremias in der Mitte, ist aus der Tiefe ins fahle Morgenlicht getreten. Sie schreiten wie die Trunkenen einher im Taumel, einige ekstatisch, andere wieder ernst und feierlich.)
STIMMEN DER NAHENDEN:
Hosianna… Verkündigung… ewig währet Jerusalem… oh, selige Heimkehr, oh, ewige Wiederkehr!… Gesegnet der Tröster, gesegnet die Tröstung… Hosianna… ewig währet Jerusalem…
STIMMEN DER MENGE (in wilder Erregung):
Sie sind rasend… was ist geschehen… höret… höret! Hosianna rufen sie… was bringet er… was ist seine Botschaft… er rede auch zu uns… wer ist es… auch zu uns sprich, Verkünder… Oh, Tröstung, wer gibt uns Tröstung…
EINER:
Sehet, ist dies Jeremia nicht, den sie umschreiten?
STIMMEN:
Ja… nein… dunkel war jenes Gesicht… ein Leuchten ist aber um diesen… doch, sehet, er ist es… er ist es… wie ist er gewandelt… wehe der Flucher… wie kann Süßes kommen von dem Bittern… was folget er uns, der uns verfolgte…
BARUCH:
Höret die Tröstung, Brüder, lasset euch speisen mit dem Worte Gottes, mit dem Brote des Lebens!
STIMMEN:
Wie kann Tröstung kommen von dem Verfluchten… wie die Geißel schlägt er zu… er wird uns würgen mit dem Wort… genug der Profeten, sie haben uns verredet mit ihren Worten… nein, dieser hat gewarnet… hart ist sein Mund wie ein Schwert… Salz streut er in unsere Wunden… hebe dich fort, Unbarmherziger!
BARUCH:
Nein, höret ihn! Das Herz hat er uns erhoben, oh, lasset euch trösten, ihr Gottesbrüder!
DER KRANKE:
Ich zeuge für ihn, ich bezeuge ihn! Im Brand meiner Wunde lag ich, ein Siecher, und er hat mich erhoben. Ich zeuge für ihn, ich zeuge…
STIMMEN:
Wer ist dieser… höret ihn an… Wunder verheißet er, und wir bedürfen der Wunder… Tröstung will mein Herz… mich trösten einzig Zions Tale… wie kann er trösten… kann er wecken die Toten, kann er aufbaun die zederne Burg… nein, höret ihn… wehe uns…
DAS WEIB:
Bileam! Bileam! Bileam! Heil dir, der du kamest zu fluchen Israel, und dreimal hast du uns gesegnet.
BARUCH:
Meister, sieh ihren Widerstreit! Mache einig ihr Herz, mache fruchtbar ihre Seelen, hebe auf, hebe auf zu Gott ihre Trauer!
JEREMIAS (aus dem Kreise vortretend an die höchste der Stufen):
Meine Brüder, im Dunkel fühle ich eure Nähe und des Dunkels voll eure Seelen. Aber, meine Brüder, warum verzaget ihr, warum klaget ihr?
STIMMEN:
Hört ihr den Lästerer… ich habe gewarnt vor ihm… er höhnt uns… er fragt, warum wir klagen… Salz streut er in unsere Wunden… sollen wir jauchzen am Tage unseres Ausgangs… sollen wir vergessen der Toten… er spottet unserer Tränen… schweige… nein, höret ihn… lasset ihn reden…
JEREMIAS:
Oh, höret mich, ihr Brüder, höret mich an! Ist denn alles verloren, daß ihr klaget? Sehet und fühlt es mit den Sinnen: das Leben ist euch geschenkt…
EINE STIMME:
Wehe, welch ein Leben!
JEREMIAS:
Und ich sage euch, wes das Leben ist, dessen ist auch Gott. Nur der Toten ist es, zu schweigen und zu klagen derer, die zur Grube fahren, doch der Lebendigen ist es, zu hoffen. Oh, meine Brüder, nicht klaget und verzaget, solange euch Atem vom Munde fließt, nicht tut auf euren Mund der Empörung und nicht schließet euer Ohr der Tröstung!
STIMMEN:
Ach, Trost der Worte, er wärmet nicht… willst du uns aufrichten, so richte auf die Mauern Jerusalems… baue Zions Burg… wehe, er sieht unsere Not nicht… er erkennet unsere Leiden nicht…
JEREMIAS:
Ich schaue, meine Brüder, in euer Leiden wie in ein geöffnet Buch, und eurer Schmerzen Schrift ist mir aufgetan; doch, meine Brüder, auch unseres Leidens Sinn sehe ich: ich sehe den Gott darin. Seine Prüfung nur ist diese Stunde, so lasset sie uns bestehen!
STIMMEN:
Warum prüfet uns Gott… Warum gerade uns, seine Auserwählten… warum ist so hart diese Prüfung…
JEREMIAS:
Damit wir ihn erkennen, sendet Gott uns die Prüfung. Andern Völkern ist klein Zeichen und gering Erkennen gegeben, in Hölzern und Steinen meinen sie des Ewigen Gesicht zu erschauen. Doch unser Gott, unserer Väter Gott, ein verborgener Gott ist er, und erst in der Tiefe des Leidens werden wir seiner gewahr, nur in der Prüfung tut er sich auf seinen Erwählten. Segen, wem sie begegnet, denn was wäre Israel unter den Völkern, prüfte es nicht ewig sein Gott? Wen er liebet, den stößt er hinab in die Tiefe des Lebens, daß er ihn erprobe, und, ihr Brüder, immer hat Gott sein Volk geliebt, immer hat er es hinabgestoßen.
STIMMEN:
Ja, er redet recht… nein, gütig ist Gott… verstehet ihn recht… ja, es steht geschrieben: »Selig der Mensch, den Gott strafet, darum weigert euch der Züchtigung des Allmächtigen nicht«… Ja, ja… so steht es geschrieben… nur die Sünder strafet er… was haben wir getan… Vergessen haben wir seiner in Hoffart… nie rief ich ihn an wie jetzt in der Not… wahr redet er… Tröstung ist in seinen Worten…
JEREMIAS:
Nur die Geprüften hat er erwählet, und nur den Leidenden gilt seine Liebe. So lasset uns die Geprüften sein und lieben sein Leid, ihr Brüder! Er hat uns brüchig gemacht, daß er tiefer sich senke in unseres Herzens Scholle und wir fruchtend würden seines Samens, er hat uns geschwächet am Leibe, daß er uns stärkte in der Seele. Oh, willig lasset uns eingehen in die Schmelzfeuer seines Willens um der Läuterung willen. Tut, wie eure Väter taten, und weigert euch der Züchtigung des Allmächtigen nicht!
STIMMEN:
Geben wir uns hin seinem Willen… gepriesen die Prüfung… ich will die Klage zerschlagen in meinem Munde… ja… auch sie waren in Knechtschaft, und er hat sie erlöset… auch uns wird er hören… ja… ja… oh, daß er unser sich erbarmte… sage, du Verkünder, wird er uns wieder aufnehmen… gibt er uns Erhebung… erlöst er uns von Babel… laß es uns glauben…
JEREMIAS:
Glaubet an die Erstehung, ihr Brüder, und ihr seid schon erstanden. Denn wer sind wir, wenn wir nicht gläubig sind? Nicht ward uns wie andern Völkern Scholle gegeben, daran zu kleben, Heimat, darin zu verharren, nicht die Rast, darin unser Herz fett werde! Nicht zum Frieden sind wir erwählet unter den Völkern: Weltwanderschaft ist unser Zelt, Mühsal unser Acker und Gott unsere Heimat in der Zeit. Aber nicht neidet sie darob, nicht klaget! Lasset den andern ihr Glück und den Stolz, lasset ihnen Haus und die Heimstatt der Erde, du aber lasse dich prüfen, du Leidensvolk, und glaube, du Gottesvolk, denn das Leid ist dein heilig Erbe, und ihm einzig bist du erwählet um deiner Ewigkeit willen.
STIMMEN:
Oh, Wahrheit des Wortes… unser Erbe ist das Leid… ich will es auf mich nehmen… ich glaube an seine Barmherzigkeit… er wird uns ausführen, wie er uns führte aus Mizraim… Segen auf dein Wort… Gott wird uns erlösen, wie er erlöste unsere Väter…
JEREMIAS:
So steh auf, du Volk, aus deiner Klage; wie einen Stab nimm deinen Glauben, und du wirst schreiten aus deinen Nöten, wie du geschritten tausend und tausend Jahre! Selig die Besiegten, die wir sind um seinetwillen, selig unsere Vertriebenheit! Selig, daß wir alles verlieren, um ihn zu finden, selig unser hart Schicksal, selig unsere Plage und Prüfung! Denn zur Dauer sind wir erwählt durch das Leid und zur Ewigkeit durch die Erneuung! Könige, die uns Herren waren, sind vergangen wie Rauch; Völker, die uns geknechtet, zerstreut und zertreten ihr Samen; Städte, darin wir dieneten, geborsten und der Schakale Hausung; doch Israel lebt und veraltet nicht an den Zeiten, ist doch das Leid seine Kraft und der Sturz seine Stufe. Durch Leiden haben wir die Zeit bestanden, immer war Untergang unser Anbeginn, doch aus allen Tiefen hub er uns immer an sein heilig Herz! Gedenket, gedenket der einstigen Mühsal und gedenket, wie wir sie bestanden; gedenket, gedenket Mizraims, des Diensthauses, der ersten Prüfung! Rühmet die Plage, ihr Geplagten, rühmet die Prüfung, ihr Geprüften, rühmet den Gott, der uns ihr erwählte in alle Ewigkeit!
(DAS VOLK gerät in mächtige Erregung. Aus den einzelnen Stimmen heben sich rhythmisch die Chöre.)
STIMMEN:
Knechte Mizraims
Waren die Väter,
Eiserne Zäume
Preßten und banden
Israels Stirn.
Knechte und Vögte
Schlugen die Klage
Auf dienendem Rücken
Mit Peitschen entzwei,
Schlugen die Kinder
Mit tödlichem Erz.
HELLERE STIMMEN:
Doch in dem Dunkel, das uns umwölkte,
Fand uns Gottes erbarmender Blick,
Einen Befreier in niederem Schoße
Weckt’ er dem Volke, eh es zerbrach.
In seine Zunge ergoß er die Rede
Und in seine Hände der Zeichen Gewalt.
Aufhub Mose das Volk, das bedrückte,
Aus seiner Rede glänzte uns Heimat,
Und wir ließen das bittere Land.
JUBELNDE STIMMEN:
Und die Siebzig dereinstens gekommen,
Tausend und Tausend kehrten darwider,
Gehäufeter Habe mit Knechten und Tieren,
Ein starkes Geschlechte zogen wir aus.
Säule des Rauchs und Säule des Feuers
Zogen voran den seligen Blicken,
Engel des Herrn flogen hell vor uns her.
Oh, erster Auszug! Oh, Anhub des Glückes!
Oh, erste Einkehr und Wiederkehr!
JEREMIAS:
Doch neue Nöte waren Israel bereitet, Prüfung um Prüfung!
Entsinnet sie, entsinnet die brennenden Tage der Bitternis! Entsinnet sie!
STIMMEN:
Hinter uns jagten,
Schäumender Nüster,
Rosse und Wagen
Pharaos Heer.
Über uns schollen
Schon Schreie der Rache,
Vor uns war Meerflut
Und hinter uns Tod.
HELLERE STIMMEN:
Da aber ging Sturm von Gott aus der Höhe,
Weit voneinander riß er die Fluten,
Wasser ward Mauer, die Tiefe ward Gang,
Hausung der Fische, sie ward uns zum Pfade,
Und wir wandelten trockenen Fußes
Zwischen der Wasser getürmeter Schlucht.
JAUCHZENDE STIMMEN:
Klirrend folgten die gierigen Feinde,
Prasselnd jagten sie hin durch die Gasse
Wartender Wasser, schon fing uns ihr Schrei,
Da aber fiel Sturmwind des Herren hernieder,
Brandend zerschäumten die wassernen Mauern,
Über sie stürmte das blaue Verhängnis,
Rosse und Wagen erwürgte das Meer!
ERNSTE STIMMEN:
So zerbrach der Herr die Gefahren,
Heil entriß er das Volk seiner Haft.
Oh, großer Anhub der wunderbaren,
Selig unseligen Wanderschaft!
JEREMIAS:
Doch nochmals und nochmals goß er des Todes Bitternis über uns und der Prüfung Kelch, damit wir geneseten auf immerdar! Besinnet sie! Besinnet sie, die heißen Tage der Wüste, die vierzig Jahre Mühsal vor dem Gottesland!
STIMMEN:
Brach die Kehle,
Leer die Lippen,
Ausgedürstet
Und verschmachtet
Wankten wir
Im leeren Land.
JAUCHZENDE STIMMEN:
Da reckte Mose, der Gottesgesandte,
Den Stab und schmetterte ihn wider den Stein.
Aufbrachen der Felsen marmorne Flanken,
Wasser netzte die lechzende Lippe,
Kühlung umspülte den staubigen Fuß.
HELLERE STIMMEN:
Wann wir müdeten, wurde uns Tröstung,
Wunder durchrauschten den brennenden Tag,
Bittere Bronnen wurden zu süßen,
Würzige Wachteln herblies der Wind,
Und als Hunger feurigen Eisens
Unsere Eingeweide zerriß,
Brach aus dem Morgen blendende Weiße:
Manna fiel nieder, das himmlische Brot!
JEREMIAS:
Niemalens aber war Sicherheit uns gegeben. Ewig warf er uns nieder mit seiner heiligen Hand! Immer erneute er die Gefahren seinem Volke! Besinnet sie! Besinnet sie!
STIMMEN:
Völker standen
Auf in Waffen,
Neid und Habsucht
Sperrten Wege
Unsrer Fahrt,
Städte schlossen
Turm und Tore,
Speere starrten
Trotz und Tod.
HELLERE STIMMEN:
Da gab uns Gott Gewaffen zu Händen
Und in die Herzen die Schärfe des Schwerts,
Wider Tausend gab er uns Stärke,
Wider Zehntausend gab er uns Sieg.
JAUCHZENDE STIMMEN:
Posaunen bliesen, es stürzten die Mauern,
Moab zerknickte, Amalek verging.
Mit dem Schwerte schlugen wir Wege
Durch den Zorn der Völker und Zeiten,
Bis unser Herz die Prüfung bestand,
Bis wir ihn fanden, den Acker der Ruhe,
Kanaan, unser verheißenes Land.
Heimat durften die Schweifenden haben,
Segnend lösten wir Gürtel und Schuhe,
Rebe entgrünte dem Wanderstabe,
Israel blühte, und Zion erstand.
ALLE STIMMEN:
Immer waren wir Pflüger im Joche,
Immer gebeugt und in Dienstbarkeit,
Doch ewig hat er das Joch uns zerbrochen,
Aus allen Kerkern uns heimbefreit,
Wo immer sie Not und Drängung uns schufen,
Immer hat er uns heimgerufen,
Und unsern Samen zur Blüte erneut!
JEREMIAS:
Und nie wird geschehn, daß er unser vergißt.
Bedenket, bedenket,
Daß, wenn er uns niedrigt, daß, wenn er uns kränket,
Dies Leiden nur Brand seiner Liebe ist.
So beugt euch, ihr Brüder, dem Joch in Ergebung,
Segnet die Schickung, so uns geschah,
Leiden ist Prüfung und Prüfung Erhebung,
Erniedrigung macht uns nur gottesnah,
Jeder Sturz führt höher in seine Reiche,
Denn nur die Besiegten wissen um ihn:
Ihr Brüder, auf denn! Auf, ihn zu erreichen!
Auf, Brüder, lasset uns gotteswärts ziehn!
STIMMEN (ekstatisch):
Ja, auf, zur Wanderschaft… führe uns an… wie die Väter wollen wir leiden… oh, Auszug und ewige Wiederkehr… auf… auf… hebet an… es ist nahe gen Tag… ziehen wir aus… ziehen wir aus in die Knechtschaft… Gott wird uns erlösen, wie er immer uns erlöset… Alle wollen wir gehen… alle… ja, wir alle…
DIE STIMME ZEDEKIAS:
Wehe, wehe! Wer wird mich führen? Nicht lasset mich zurück! Wehe, wehe, wer hebet mich auf?
JEREMIAS:
Wes Ruf ist dies?
STIMMEN:
Laß ihn… er bleibe… Spreu ist er und verworfen… Du führe uns an, du, Gesegneter… Du sei uns Herr… Laß den Verworfenen…
JEREMIAS:
Keiner ist verworfen! Wer rufet, muß erhört werden um unserer aller willen!
STIMMEN:
Nicht er… nicht er… Aussatz ist er unseres Volkes… alles Unheils Quelle… Laß den Verstoßenen Gottes… Laß den Verfluchten!
JEREMIAS:
Auch ich war ein Verstoßener Gottes, und er hat mich erhört; auch ich war ein Verfluchter, und er hat mich gesegnet! Wo ist er, der aufschrie aus seiner Not, daß ich ihn tröste, wie ich selber getröstet ward?
STIMMEN:
Im Dunkel ist er… auf den Stufen… dort, sieh den Gebückten… Gottes Zorn ist auf seinen Hochmut gefallen.
JEREMIAS:
Warum naht er nicht? Warum weilet er abseits?
STIMMEN:
Sieh doch… seine Sterne sind erloschen… seine Schritte sind irr… er weiß nicht seinen Weg mehr, blind ist er, der Verblendete…
JEREMIAS (näher tretend, in heißem Erschrecken):
Zedekia! Mein König!
ZEDEKIA:
Bist du es, Jeremias, der mir nahet?
JEREMIAS:
Ich bin es, mein König, dein Knecht und Diener Jeremias! (Er beugt sich in die Knie vor dem Könige.)
ZEDEKIA:
Wehe, nicht höhne mich, nicht stoße mich fort, wie ich dich von mir stieß! Zu Asche hat dein Wort mich gebrannt, du Gewaltiger, nun schone mein; nicht wirf mich fort, nicht laß mich allein in der Stunde des Schreckens! Sei bei mir, wie du geschworen vor Gottes Antlitz in der Stunde, der letzten, die ich schaute auf Erden.
JEREMIAS (zu seinen Füßen):
Ich bin bei dir… mein König Zedekia.
ZEDEKIA (nach ihm ins Leere tastend):
Wo bist du? Ich fühle dich nicht!
JEREMIAS:
Zu deinen Füßen bin ich, dein Diener und dein Knecht.
ZEDEKIA (zitternd):
Nicht höhne mich vor dem Volke, nicht beuge dich dem Gebeugten! Das Salböl ward zu Blut auf meiner Stirne und meine Krone zum Staube.
JEREMIAS:
Doch des Leidens König bist du geworden, und nie warst du mehr königlich! Zedekia, mein Herr und König, starr stand ich vor dir, da die Macht in dir war und die Stärke, doch dem Gebeugten Gottes beuge ich mich, des Leidens niederster Knecht. Der Erste hast du getrunken den Kelch unserer Bitternis, der Erste wärest du des Duldens, so mögest du der Erste sein unseres Volkes in alle Ewigkeit und seiner Erlösung Anbeginn. Oh, du König der Leiden, Gesalbter der Prüfung, Israels Herr, erheb deine Stirne, daß sie uns glänze, führe, der du Gott nur schauest und nicht mehr die Erde, führe, führe dein Volk!
JEREMIAS (aufstehend, zum Volke):
Sehet, sehet,
Leidensvolk, Gottesvolk,
Gott erhörte euer Begehr,
Er hat euch einen Führer gesandt!
Der Schmerzengekrönte,
Der Menschenverhöhnte,
Wer mag wie er,
König der selig Besiegten sein?
Gott hat ihm den irdischen Blick verschlossen,
Daß er besser schaue sein ewiges Reich,
Oh, Brüder, wer war je von Davids Sprossen
Diesem als König der Duldenden gleich?
ZEDEKIA:
Wohin führest du mich? Was geschieht mir?
JEREMIAS:
Hebet ihn auf,
Den Hingesenkten,
Ehrt den Gekränkten
Mit sorgender Liebe!
Hüllet um ihn
Königsgewande
Und erneuet
Der Zeichen Gewalt,
Ehret, oh ehret
In ihm euer Leiden,
Als der Erste schreite er aus.
Zäumet die Rosse,
Rüstet die Sänfte,
Fürchtigen Armes
Hebet ihn hoch,
Denn er ist
Heiligste Bürde,
Israels Hort und königlich Haus.
(EINIGE führen mit allen Zeichen der Ehrfurcht den König hinab und betten den Blinden in eine Sänfte.) (EINE POSAUNE schallt mächtig aus der Ferne her als ungeheurer Ruf, der gleichsam von der Stadt selbst auszutönen scheint. Der Tag ist inzwischen angebrochen und überleuchtet mit rötlicher Glut die geschwärzten Mauern. Eine große Helle geht, immer sich steigernd, vom morgendlichen Himmel aus.) (DIE MENGE in mächtigem Aufschwall beim Ruf der Posaune, die Hände gen Osten gereckt, flutet ekstatisch durcheinander.)
STIMMEN:
Die Posaune… die Posaune… Gott ruft uns… der Tag ist angebrochen… der Tag unserer Prüfung… die Sonne nahet Jerusalem… rüstet die Tiere… rüstet die Herzen… Gott ruft uns… wir kommen, wir kommen… Auszug… Auszug… oh Einkehr und Wiederkehr… Jerusalem… Jerusalem!
JEREMIAS (gewaltig auf der Höhe der Stufen aufgerichtet. Alle um ihn sind zurückgetreten, so daß er, einsam auf der Höhe, noch gewaltiger scheint. Seine Arme sind erhoben, seine Stimme bebend in Überraschung):
Auf, ihr Verstoßenen,
Auf, ihr Besiegten,
Rüstet zur Reise!
Wandervolk, Gottesvolk, welterwähltes,
Hebe dein Herz!
(DIE MENGE gerät in gewaltige Bewegung.)
JEREMIAS (zur Stadt hingewandt):
Zum letztenmal glänzen
Jerusalems Zinnen
In eure Tränen,
Leuchtet euch Höhe
Des heiligen Bergs!
Einmal noch hebet
Brennende Blicke,
Trinket der Heimat
Verlorenes Bild!
Trinket die Zinnen,
Trinket die Mauern,
Trinket die Türme
Der ewigen Stadt,
Trinket das Dürsten,
Sie wieder zu schauen,
Trinket, oh trinket Jerusalem!
STIMMEN:
Glüh ein in uns, daß wir entbrennen… wie könnt ich dich vergessen, Bild der Bilder… möge darren meine Rechte, wenn ich dein vergäße, Jerusalem… oh, Heimat unserer Herzen… Zion, Zion, du heilige Stadt!
JEREMIAS:
Einmal noch beuget
Fromm euch der Erde,
Einmal noch rühret
Die Grube der Väter
Fürchtiger Hand!
Erde, oh Erde, die ich verlasse,
Du blutgetränkte,
Du tränenversengte,
Sehet, ich fasse
Sie fromm mit liebenden Händen an.
Erde, Erde, ich schlinge dich,
Erde, Erde, durchdringe mich!
Bitteren Kloß
Würg ich die schluchzende Kehle hinab,
Doch deine Bitternis innen im Leibe
Entbrenne mir Seele und Eingeweide,
Daß ich ewig deiner gedenke,
Ewig deiner teilhaftig werde!
Erde, du heilige Vätererde,
Schenke
Mir ewig Begehren und ewigen Brand,
Ewigen Hunger und Heimverlangen
Nach Zion, unserm verlorenen Land!
DIE MENGE (sich niederwerfend und wie Jeremias von der Erde einen Kloß schlingend):
Oh, teure Erde, Scholle der Väter… dring ein in mich… würg meine Seele, wie ich dich würge… oh, verloren Land… Sarg meiner Väter… oh, dich lassen… Erde, Erde, du heilige Erde…
JEREMIAS (sich erhebend):
Doch nun du gespeiset
Bittere Sehnsucht,
Doch nun du getrunken
Brennendes Bild,
Wandervolk, Gottesvolk, hebe dich auf!
Lasset die Toten,
Sie haben den Frieden,
Lasset die Mauern,
Sie stehen nicht auf,
Du doch erstehest
Ewig und ewig
Aus deinen Tiefen
In deinem Gott.
Auf,
Wandervolk, Gottesvolk, rüste zur Reise,
Blick in die Ferne,
Blick nicht zurück!
Die verweilen,
Haben die Heimat,
Doch die wandern,
Haben die Welt!
Auf, ihr Gebeugten,
Auf, ihr Besiegten,
Hebet die Stirnen
Über die Nöte
Wider die ewigen Morgenröten
Und der Gestirne
Wanderndes Zelt.
Gott hat die Straßen,
Die ihr beschreitet,
Wissend bereitet,
Wandervolk, Gottesvolk, auf in die Welt!
(DIE MENGE rüstet ringsum zur Wanderung, Getümmel der Menschen und Tragtiere, erregte, eifernde Bewegung.) EINER (vortretend):
Doch sage, du Führer, dulde die zage Klagende Frage,
Werden die Tale uns wieder gehören,
Wird einstens Israel wiederkehren,
Sag, schauen wir wieder Jerusalem?
STIMMEN:
Ja… sage… künde, verkünde… schauen wir wieder Jerusalem?
JEREMIAS:
Ewig wird inwendig es schauen,
Wes Seele nicht Knecht seiner Knechtschaft ist,
Und mit dem Maß seines Gottvertrauens
Die Tiefe allirdischen Leidens durchmißt.
Ihm glänzet urmächtig, am innersten Grunde
Des Herzens Zion zu jeglicher Stunde,
Schöner als wir es vordem gekannt,
Jede Fremde wird ihm das Gottesland!
Oh, wer vertrauet, dem ist es erbauet,
Wer glaubt, schaut immer Jerusalem!
STIMMEN:
Wir glauben… wir glauben… ewig werden wir es schauen… Der Glaube ist unser Jerusalem!
EIN ANDERER (vortretend):
Doch sage, du Führer, wer wird es uns bauen?
JEREMIAS:
Die Inbrunst des Sehnens, die Nacht unsrer Kerker,
Und das Leiden, das euch gelehrigt hat,
Ihr selber werdet die heiligen Werker,
Umschafft ihr die Seelen zur seligen Stadt.
Aus euern Trauern erhebet die Mauern,
Und je tiefer die Völker euch niederbeugen,
Um so höher werden sie gottwärts aufsteigen,
Um so schöner erstehet Jerusalem!
STIMMEN:
Ja, laßt es uns bauen… das Senkblei niederwerfen in unsere Leiden… laßt uns die Steine bebauen unseres Schmerzes… zu Gott die Richtschnur erhoben… bauen wir Jerusalem.
EIN ANDERER:
Doch sage, du Führer, wird es dann dauern?
JEREMIAS:
Steine bröckeln, es stürzen die Mauern
Irdischer Werke, die Reiche veralten,
Städte verschwemmen im Strome der Zeit,
Doch was die Seelen in Leiden gestalten,
Dauert in Gottes Allewigkeit.
Wer kann sie zerstören,
Die unsichtbaren,
Innen geschauten,
Tränenerbauten
Zinnen der heiligen Zuversicht,
Wer kann ihn uns rauben
Den seligen Glauben,
Wer stürzet des Herzens Jerusalem?
STIMMEN:
Ewig währet Jerusalem… wer kann es zerstören… heilig, heilig unsrer Herzen Haus… heilig die Stätte unsrer Not… oh, Tröstung… oh, Zuversicht…
EIN ANDERER:
Doch sage, du Führer, wo sollen wirs finden,
Wo schauet die Seele Jerusalem?
JEREMIAS:
Wo immer ihr euch in euch selber aufrichtet
Und feurig von Furcht und Fremdnis erhebt,
Da ist es aus Wunsch in die Welt gedichtet,
Da ist der Traum unseres Heimwehs erlebt,
An jeglichem Orte,
Wo euch Glaube inwohnet,
Überwölbt euch hell seine mauerne Krone:
Wer glüht, sieht ewig Jerusalem!
STIMMEN:
Oh, Tröstung des Glaubens… Gottes selige Knechtschaft… zerstört hat er die Stadt, daß sie uns ewig in den Herzen erstehe… überall wollen wir sie finden… laßt sie uns aufbauen in den Herzen… ewig ist unser Jerusalem… Oh, ewiger Auszug und Wiederkehr…
(DIE POSAUNE schallt mächtig zum zweiten Male. Es ist ganz hell geworden, offen regt sich der unübersehbare Tumult der wanderbereiten Massen, die mit einem gewaltigen Schrei der Ungeduld und der Erhebung das Zeichen des Auszuges grüßen.)
JEREMIAS (hoch über ihnen):
Wandervolk, Leidvolk – im heiligen Namen
Jakobs, der von Gott einst dir Segen entrang –
Hebe dich auf, in die Welt zu fahren,
Rüste und schreite unendlichen Gang!
Wirf deinen Samen
Willig ins Dunkel der Völker und Jahre,
Wandre dein Wandern und leide dein Leid!
Auf, du Gottvolk! Beginn deine wunderbare
Heimkehr durch Welt in die Ewigkeit!
(DIE MENGE gerät in mächtige Bewegung. Schweigend ordnet sich ein ungeheurer Zug. Voran tragen sie den König in einer Sänfte, dann schreiten ernst und feierlich, Geschlecht um Geschlecht, die geordneten Gruppen den Weg gegen die Tore. Ihre Blicke sind aufwärts gerichtet, sie singen im Schreiten, und ihr Ausziehen hat die ernste Feierlichkeit einer Opferhandlung. Keiner drängt sich vor, keiner bleibt zurück, ohne Eile und Hast schreiten die Reihen dahin und schwinden im Vorbeigehen. Immer neue kommen ihnen nach, und es ist, als ginge eine Unendlichkeit hier aus dem Dunkel in die Ferne.)
STIMME DER SCHREITENDEN:
In fremden Häusern werden wir wohnen
Und brechen ein tränensalzenes Brot.
Auf Schemeln der Schande werden wir sitzen
Und ängstend schlafen an feindlichem Herd.
Dunkel der Jahre wird über uns fallen,
Der Könige Fron und der Herrschenden Haft,
Doch unsere Seelen entwandern der Fremde
Und ruhen allzeit in Jerusalem.
ANDERE STIMMEN DER SCHREITENDEN:
Aus weiten Wassern werden wir trinken,
Die bitter brennen dem sehnenden Mund,
Mit Fremdnis werden uns Bäume umschatten
Und Stimmen des Ängstens wehen der Wind,
Doch keine Fremde wird uns zur Ferne,
Denn von den Sternen wehet uns Tröstung;
Träume der Heimat enttauchen den Nächten,
Und unsere Seele erstehet gekräftigt
Von der heiligen Zehrung Jerusalem!
ANDERE STIMMEN DER SCHREITENDEN:
Auf fremden Straßen werden wir fahren,
Durch Land und Länder stößt uns der Wind,
Heimat um Heimat reißen die Völker
Uns von den brennenden Sohlen fort,
Nirgends ist Wurzel dem stürzenden Stamme,
Wanderschaft stets unsere wandelnde Welt,
Doch selig, selig wir Weltbesiegten,
Denn sind wir auch nur Spreu aller Straßen,
Nirgends verschwistert und keinem genehm,
Ewig doch geht unser Zug durch die Zeiten
Zu unserer Seelen Jerusalem!
(EINIGE CHALDÄER, unter ihnen ein Hauptmann, sind halbtrunken aus dem Palaste herausgekommen. Ihre Stimmen fahren laut und grell über das dunkle Sprechen der Schreitenden hin.)
DER HAUPTMANN DER CHALDÄER:
Hört ihr sie murren? Sie wollen nicht ausziehen! Mit der Peitsche schlag unter sie, wenn sie trotzig sind!
EIN CHALDÄER:
Herr, siehe, sie ziehen schon ohne Geheiß! Und sie murren nicht!
DER HAUPTMANN:
Wenn sie klagen, schlag die Klage entzwei in ihrem Munde.
DER CHALDÄER:
Herr, sie klagen nicht.
EIN ANDERER CHALDÄER:
Siehe… wie sie schreiten… wie die Sieger gehen sie einher… es leuchtet in ihren Blicken.
DIE CHALDÄER:
Was ist mit diesem Volke… sind sie die Besiegten nicht… hat sie einer genarrt mit falscher Botschaft der Befreiung… hört, was sagen sie… was singen sie… seltsam ist dies Volk… unverständlich in seinem Trotz und seiner Ergebung… wer begreifet dies Volk… in dieser Milde ist eine Kraft, die gefährlich ist… ein Einzug ist dies eines Königs und nicht Auszug der Geknechteten… nie sah die Welt ein Volk wie dieses…
STIMMEN (vereint sich ablösend, in immer neuen, weiterschreitenden Zügen, in die auch Jeremias unscheinbar eingegangen ist):
Wir wandern durch Völker, wir wandern durch Zeiten
Unendliche Straßen des Leidens entlang,
Ewig sind wir die ewig Besiegten,
Hörig dem Herde, an dem wir ausrasten,
Niedrige Knechte niedrigen Frons,
Doch die Städte, sie sinken, es gleiten
Völker ins Dunkel wie stürzende Sterne,
Und die hart unsere Rücken zerschlugen,
Werden zuschanden Geschlecht um Geschlecht.
Wir aber schreiten und schreiten und schreiten
Tiefer hinein in die eigene Kraft,
Die sich aus Erden die Ewigkeiten
Und aus ihrem Leiden den Gott entrafft.
DER CHALDÄISCHE HAUPTMANN:
Sieh… sieh… wie die Tänzer schreiten sie her… ein Taumel ist über sie gekommen… haben wir sie denn nicht besiegt… sind sie nicht in Schande… warum klagen sie nicht…
EIN CHALDÄER:
Ein Geheimnis muß in ihnen sein, das sie verwandelt, ein Unsichtbares, das sie verzückt…
EIN ANDERER CHALDÄER:
Ja… sie glauben an das Unsichtbare… das ist ihr Geheimnis…
DER CHALDÄISCHE HAUPTMANN:
Wie kann man das Unsichtbare schauen, wie glauben, was man nicht sieht… ein Geheimnis muß in ihnen sein wie in unsern Sterndeutern… man müßte es lernen von ihnen…
DER CHALDÄER:
Man kann es nicht lernen. Man kann es nur glauben, und sie sagen, es sei ihr Gott.
DIE STIMMEN DER AUSZIEHENDEN (sich mächtig erhebend, da nun die Letzten unter ihnen auszuschreiten beginnen):
Wir wandern den heiligen Weg unserer Leiden,
Von Prüfung und Prüfung zur Läuterung,
Wir ewig Bekriegte und ewig Besiegte,
Wir ewig Verstrickte und ewig Befreite,
Wir ewig Zerstückte und ewig Erneute,
Wir aller Völker Spielball und Spott,
Wir einzig Heimatlosen der Erde,
Wir wandern in alle Ewigkeiten,
Die Letztgebliebnen
Unendlicher Schar
Heimwärts zu Gott,
Der aller Anfang und Ausgang war,
Bis daß er uns selber die Heimstatt werde,
Der ruhlos wie wir mit Sternen und Jahren
Die Welt umwandert und leuchtend umkreist,
Und wir ganz aufgehn im Unsichtbaren:
Verlorenes Volk, unsterblicher Geist.
DER CHALDÄER:
Siehe, siehe, wie sie in die Sonne schreiten! Es ist ein Glanz auf diesem Volke, ein Morgenrot auf ihren Häupten. Mächtig muß ihr Gott sein.
DER CHALDÄISCHE HAUPTMANN:
Ihr Gott? Haben wir nicht seine Altäre zerbrochen? Haben wir nicht gesiegt über ihn?
DER CHALDÄER:
Man kann das Unsichtbare nicht besiegen! Man kann Menschen töten, aber nicht den Gott, der in ihnen lebt. Man kann ein Volk bezwingen, doch nie seinen Geist.
(DIE POSAUNE schallt zum dritten Male. Die Sonne ist aufgegangen über Jerusalem und strahlt über dem Auszug des Volkes, das aus der Stadt in die Zeiten schreitet.)