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De Voluptate Psychologica
ОглавлениеMa véritable passion est celle de connaître et d’éprouver. Elle n’a jamais été satisfaite.
Ein braver Bürger nähert sich einmal in einer Gesellschaft Stendhal und fragt höflich-gesellig den fremden Herrn nach seinem Berufe. Sofort huscht ein maliziöses Lächeln um den Zynikermund, die kleinen Augen funkeln übermütig-frech, und mit gespielter Bescheidenheit antwortet er: »Je suis observateur du cœur humain«, Beobachter des menschlichen Herzens. Eine Ironie gewiß, aus Freude am Bluff einem staunenden Bourgeois zugeblitzt, aber doch mengt sich dieser spaßenden Versteckenspielerei ein gut Stück Aufrichtigkeit bei, denn in Wahrheit hat Stendhal ein ganzes Leben lang nichts so zielhaft und planmäßig getrieben wie die Beobachtung seelischer Tatsachen.
Stendhal hat wie wenige sie gekannt, die magische Psychologenlust: »voluptas psychologica« und beinahe lasterhaft dieser Genießerleidenschaft des Geistmenschen gefrönt; aber wie beredt ist sein feiner Rausch von den Geheimnissen des Herzens, wie leicht, wie herzaufhebend seine Kunst der Psychologie! Aus klugen Nerven nur, aus feinhörigen, klarsichtigen Sinnen schiebt hier Neugier ihre Fühler vor und saugt mit einer subtilen Lüsternheit das süße geistige Mark aus den lebendigen Dingen. Nichts braucht dieser elastische Intellekt griffig anzufassen, nie preßt er gewaltsam Phänomene zusammen und bricht ihnen die Knochen, um sie einzurenken in das Prokrustesbett eines Systems; Stendhals Analysen haben das Überraschende und Beglückende jäher Entdeckungen, das Frische und Erfreuliche zufälliger Begegnungen. Seine männische, edelmännische Beutelust ist viel zu stolz, um Erkenntnissen keuchend und schwitzend nachzujagen, sie mit Koppel und Meuten von Argumenten zu Tode zu hetzen; er haßt das unappetitliche Handwerk, die Fakten umständlich zu entweiden und in ihren Eingeweiden als Haruspex zu wühlen: niemals bedarf seine Feinempfindlichkeit, sein Fingerspitzengefühl für ästhetische Werte brutalen gierigen Griffs. Das Arom der Dinge, die schwebende Aura ihrer Essenz, ihre ätherleichte geistige Entstrahlung verrät diesem Gaumengenie schon vollkommen Sinn und Geheimnis ihrer innern Substanz, aus winzigster Regung erkennt er ein Gefühl, aus der Anekdote die Geschichte, aus dem Aphorisma einen Menschen; ihm genügt schon das verschwindendste, das kaum faßbare Detail, das »raccourci«, eine herzblattgroße Wahrnehmung, und er weiß, daß eben diese minimalen Beobachtungen, die »petits faits vrais«, in der Psychologie die entscheidenden sind. »II n’y a d’originalité et de vérité que dans les details«, sagt schon sein Bankier Leuwen, und Stendhal selbst rühmt stolz die Methode eines Zeitalters, »das die Details liebt, und mit Recht«, vorahnend schon das nächste kommende Jahrhundert, das nicht mehr mit leeren und schweren, mit weitmaschigen Hypothesen Psychologie treiben, sondern aus den molekularen Wahrheiten der Zelle und des Bazillus sich den Körper, aus minuziöser Belauschung, aus den Oszillationen und Nervenschwingungen sich seelische Intensitäten errechnen wird. Zur gleichen Stunde, da die Nachfahren Kants, da Schelling, Hegel e tutti quanti auf ihren Kathedern noch taschenspielerisch das ganze Weltall unter ihren Professorenhut zaubern, weiß dieser Einsame schon, daß die Zeit der hochtürmigen Philosophen-Dreadnoughts, der Gigantensysteme, endgültig abgetan ist und nur die Torpedos der unterseeboothaft anschleichenden kleinen Beobachtungen den Ozean des Geistes beherrschen. Aber wie einsam treibt er diese kluge Erratekunst inmitten der einseitigen Fachleute und abseitigen Dichter! Wie steht er allein, wie geht er ihnen allen voraus, den biedern und schulkräftigen Seelenforschern von damals, wie läuft er ihnen voraus dadurch, daß er keine mit Bildung vollgepackten Hypothesen am Rücken mitschleppt – »je ne blâme ni approuve, j’observe« –, Erkenntnis treibend als Spiel, als Sport, nur sich selber zur wissenden Freude! Wie sein Geistbruder Novalis, gleich ihm voran aller Philosophie durch dichterischen Sinn, liebt er nur den »Blütenstaub« der Erkenntnis, diese zufällig hergewehten, aber vom innersten Sinn alles Organischen durchdrungenen Pollen, in denen keimhaft die wurzelausgreifenden weiten Systeme hypothetisch enthalten sind. Immer beschränkt sich Stendhals Beobachtung auf die winzigen, nur mikroskopisch wahrnehmbaren Veränderungen, auf die knappe Sekunde der ersten Kristallisation des Gefühls. Nur dort spürt er lebensnah jene Brautstunde von Leib und Seele, die großspurig die Scholastiker das Welträtsel nennen: gerade im Minimum von Wahrnehmung wittert er das Maximum von Wahrheit. So scheint seine Psychologie vorerst Denkfiligran, eine Kleinkunst, ein Spielen mit Subtilitäten, aber er hat die unerschütterliche (und richtige) Überzeugung, daß die winzigste exakte Wahrnehmung bedeutsamere Einsicht schenkt in die Triebwelt der Gefühle als jede Theorie. »Le cœur se fait moins sentir que comprendre«; die Wissenschaft von der Seele hat keinen andern sichern Zugang ins Dunkel als diese zufällig abgesprengten Wahrnehmungen. »Li n’y a de sûrement vrai que les sensations.« So genügt es, »ein Leben lang aufmerksam fünf bis sechs Ideen zu betrachten«, und schon deuten sich – nie aber diktatorisch, sondern nur individuell – Gesetze an, eine geistige Ordnung, die zu begreifen oder bloß zu erahnen Lust und Leidenschaft jeder echten Psychologie bedeutet.
Solcher kleiner hilfreicher Beobachtungen hat Stendhal unzählige gemacht, knappe und einmalige Entdeckungen, von denen manche seitdem axiomatisch, ja grundlegend geworden sind für jede künstlerische Seelenauslegung. Aber Stendhal wertet diese seine Funde selbst niemals aus, er wirft die Ideen, die ihm zublitzen, lässig hin auf das Papier, ohne sie zu ordnen oder gar systematisch zu schichten: in seinen Briefen, seinen Tagebüchern und Romanen kann man diese fruchtkräftigen Körner verstreut finden, dem Zufall des Gefundenwerdens sorglos anvertraut. Sein ganzes psychologisches Werk besteht in summa aus zehn bis zwanzig Dutzend Sentenzen und Romanpartien: selten nimmt er sich die Mühe, nur ein paar zusammenzubündeln, niemals aber vermörtelt er sie zu einer wirklichen Ordnung, zu einer geschlossenen Theorie. Selbst die einzige Monographie einer Leidenschaft, die er zwischen zwei Buchdeckeln uns gegeben, jene über die Liebe, ist eine Olla podrida von Fragmenten, Sentenzen und Anekdoten: vorsichtig nennt er die Studie auch nicht »L’amour«, »Die Liebe«, sondern »De l’amour« »Uber die Liebe«, oder man übersetzte noch besser: »Einiges über die Liebe«. Höchstens ein paar Grundunterscheidungen zeichnet er an, lockern Gelenks, die amour-passion, die Liebe aus Leidenschaft, die amour-physique, die amour-goût, oder skizziert eine rasche Theorie ihres Werdens und Vergehens, aber wirklich mit Bleistift nur (wie er das Buch ja tatsächlich schrieb). Er beschränkt sich auf Andeutungen, Vermutungen, unverpflichtende Hypothesen, die er mit amüsanten Anekdoten plaudernd durchflicht, denn Stendhal wollte keineswegs Tiefdenker, Zu-Ende-Denker, Für-andere-Denker sein, niemals nimmt er sich die Mühe, das zufällig Begegnete weiter zu verfolgen. Die solide Fleißarbeit des Durchdenkens, des Auswalzens und Ausbauens überläßt dieser lässige »touriste« im Europa der Seele großmütig und nonchalant den Kärrnern und Klebern, und tatsächlich hat ja ein ganzes französisches Geschlecht die meisten Motive paraphrasiert, die er leichter Hand präludierte. Aus seiner berühmten Theorie der Kristallisation in der Liebe (die das Bewußtwerden des Gefühls mit jenem »rameau de Salzbourg«, jenem längst aus Salzwasser gesättigten Ast in der Lauge des Bergwerkwassers vergleicht, der innerhalb einer Sekunde plötzlich sichtbare Kristalle ansetzt) resultieren allein Dutzende psychologischer Romane, aus seiner einen, flüchtig hingestrichelten Bemerkung über den Einfluß der Rasse und des Milieus auf den Künstler hat sich Taine eine dickleibige, schweratmende Hypothese geholt. Stendhal selbst aber, den Nichtarbeiter, den genialen Improvisator, reizt die Psychologie niemals über das Fragment, über das Aphorisma hinaus. Schüler darin seiner französischen Ahnen Pascal, Chamfort, La Rochefoucauld, Vauvenargues, die gleichfalls aus Respektgefühl für das beflügelte Wesen aller Wahrheit ihre eigenen Einsichten niemals zusammendrängen zu einer dicken, auf breitem Gesäß seßhaften Wahrheit. Er wirft nur losen Gelenks seine Erkenntnisse von sich, gleichgültig, ob sie den Menschen konvenieren oder nicht, ob sie heute schon als wahr gelten oder erst in hundert Jahren. Er sorgt sich nicht, ob sie ihm bereits jemand vorausgeschrieben hat oder andere sie ihm nachschreiben werden: er denkt und beobachtet ebenso mühelos und naturhaft, wie er atmet, spricht und schreibt. Mitläufer zu suchen war niemals dieses Freidenkers Sache und Sorge; schauen und immer tiefer schauen, denken und immer klarer denken, ist ihm Glücks genug.
Wie Nietzsche hat er nicht nur guten Denkmut, sondern gelegentlich auch einen sehr bezaubernden Denkübermut; er ist stark und verwegen genug, mit der Wahrheit auch zu spielen und die Erkenntnis zu lieben mit einer fast fleischlichen Wollüstigkeit. Wie moussiert und perlt, schaumig und leicht, dieser Geist von überquellendem Lebensgefühl, und doch sind diese einzelnen Aphorismen nur immer lose Tropfen seines seelischen Reichtums, zufällig über den Rand gesprühte; die eigentlichste Fülle Stendhals aber bleibt immer innen bewahrt, kühl und feurig zugleich, im geschliffenen Kelche, den erst der Tod zerschmettert. Aber schon diese abgesprengten Tropfen haben die helle und beschwingende Rauschkraft des Geistigen; sie beleben wie guter Champagner den lässigen Schlag des Herzens und erfrischen das dumpfe Lebensgefühl. Seine Psychologie ist nicht Geometrie eines gutgeschulten Gehirns, sondern konzentrierte Essenz eines Daseins: das macht seine Wahrheiten so wahr, seine Einsichten so hellsichtig, seine Erkenntnisse so weltgültig, und vor allem gleichzeitig einmalig und dauerhaft – denn kein Denkfleiß weiß jemals das Lebendige derart vollsinnlich zu fassen wie der unbekümmerte Denkmut einer souveränen Natur. Ideen und Theorien sind wie Schatten des homerischen Hades immer nur lose Schemen, gestaltloser Spiegelschein: erst wenn sie vom Blut eines Menschen getrunken haben, gewinnen sie Stimme und Gestalt und vermögen zur Menschheit zu sprechen.