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1. (rumänisches) Frühlingsfest – Festivalul Primăverii
Оглавление»Vegetarier? Vegetarier! Warum nicht gleich Veganer!« Onkel Theobalds Faust landete so heftig auf dem schweren Eichentisch, dass Tante Edeltrauds gute Kristallgläser beängstigend hohe Sprünge taten. Ich beobachtete fasziniert, wie die rote Flüssigkeit, einem sturmgepeitschten Ozean gleich, in den edlen Kelchen hin- und herschwappte. Dem Nachthimmel sei Dank ohne die blütenweiße Tischdecke zu bekleckern. Tante Edeltraud legte größten Wert auf gute Etikette. Wären die Gläser umgekippt, hätte sie uns ganz schön in die Sonne gestellt. Blutflecken ließen sich so schlecht auswaschen. Onkel Theobald war im Grunde sehr verständig. Deswegen wollte ich ihn als Ersten in meine Pläne einweihen.
»Junge! Hast du dir das auch wirklich überlegt?« Theobald raufte sich sein schütteres Haar, strich es wieder glatt und erhob sich. Er ging zum Erkerfenster und starrte in die tiefdunkle Nacht. Gleich würde der Rest der Familie zum Frühstück heraufkommen. Mein Onkel war Frühaufsteher und auch meine Tante war wie immer schon in der Küche, hatte den Morgentrunk gepresst und hörte gerade die zwanzig Uhr Nachrichten. Mir blieben noch zehn Minuten, um Onkel Theobald auf meine Seite zu bringen.
»Mir hat es eigentlich nie geschmeckt und daher dachte ich ...«, versuchte ich eine Erklärung.
Onkel Theodor drehte sich abrupt um. »Geschmeckt? Papperlapapp. Das ist doch unwichtig. Geschmack ist etwas für Warmbluttrinker. Das liegt an dem modernen Fernsehen, das ihr Grünschnäbel immer schaut. Ich war dagegen, so etwas für unser Haus anzuschaffen. Und jetzt kommst du daher mit so einem neumodischen Ferz.«
Theobald trat wieder an den Tisch, griff sich einen der mit dunkelrotem Samt bezogenen Stühle und setzte sich rittlings darauf. Der Tadel seiner Frau war ihm gewiss. »Thomas, du bist erst knapp 150 Jahre alt. Das ist doch nur so eine Laune. Die hat jeder mal. Das geht vorbei.« Onkel Theobald versuchte es jetzt mit Herunterspielen. Mit dieser Taktik hatte ich gerechnet. Aber da gab es nichts herunterzuspielen und es war wirklich keine Laune.
Jetzt waren es nur noch fünf Minuten.
»Nein. Ich meine es ernst. Bluternst. Ich habe schon lange darüber nachgedacht. Es ist mir wirklich, wirklich wichtig.«
Theobald sah mich direkt an. Der Blick aus seinen dunkelroten Augen drang tief in mich. Das Ticken der Standuhr wurde unerträglich. Er schüttelte ganz leicht den Kopf. »Du willst dich also wirklich selber ausstoßen? Denk an Großvater Hubert.« Großvater Hubert zu erwähnen, war seine stärkste Waffe. Ein dunkles Geheimnis rankte sich um ihn. Man munkelte, dass Hubert dem vampirischen Leben entsagt hatte und seitdem ausgestoßen und in einem Kanalschacht dahinvegetierte. Ich zuckte kurz zusammen, straffte aber sofort meine Schultern.
»Es ist dir wirklich ernst.«, sagte er leise.
Ich nickte und antwortete heiser: »Ja, und ich bitte dich heute nur um Eins: sag meinen Eltern noch nichts. Hilf mir, eine gute Gelegenheit zu finden.«
Die Küchentür sprang auf und Tante Edeltraud kam mit dem Frühstückstablett in den Salon herein.
»Theobald! Wie sitzt du nur da? Jetzt steh ich seit Stunden in der Küche, passiere Blutsuppe, rühre Plasmakuchen, und du? Du lümmelst hier herum. Du solltest dem Jungen ein Vorbild sein. Thomas, was machst du überhaupt schon hier? Normalerweise verschläfst du die halbe Nacht.« Sie setzte das Tablett ab und sah sich suchend um: »Hast du deine Schwester schon gesehen? Keine Ahnung, wann sie nach Haus gekommen ist. Ich will nicht, dass sie sich in der Dämmerung herumtreibt. Das ist viel zu gefährlich ...«
So ging das noch eine Weile. Theobald setzte sich ordentlich auf den Stuhl und ich half meiner Tante, die Schüsseln auf den Tisch zu stellen. Ich liebte Tante Edeltraud sehr. Sie war immer noch eine sehr schöne Frau mit ihren nachtschwarzen Haaren und den weißen Lippen. Aber sie konnte auf ihre Art auch nervig sein.
»Danke fürs Frühstück, liebe Tante.« Ich hauchte ihr einen Kuss auf den Nacken, der sie zu einem Jungmädchenquietschen verleitete, und sagte: »Aber ich hab schon gegessen. Wartet nicht auf mich.«
Ich wand mich zur Tür und hörte sie noch verwundert fragen: »Theobald, was ist mit dem Jungen? Der hat doch sonst einen tüchtigen Hunger.«
»Ach, lass ihn. Die Jugend von heute.«
»Ist er verliebt?«
Wie nahe meine Tante der Wahrheit kam, ahnte sie sicher nicht. Aber vielleicht zählte mein Onkel jetzt eins und eins zusammen. Ob es dadurch einfacher würde? Vielleicht. Ich hoffte es jedenfalls.
Zehn Minuten später fuhr ich mit meinem Motorrad in die Stadt. Durch eine schöne und trockene Frühlingsnacht. Heute wollte ich es Nadine sagen.
Nadine. Der Polarstern meiner Nächte. Das fröhlich-leuchtende Grau in der Dunkelheit. Mein Magen kribbelte bei der Vorstellung, ihr nah zu sein. Ich konnte und wollte nicht mehr ohne sie leben. Nadine arbeitete im Night Cafe und studierte tagsüber Geschichte. Geschichte war es, die uns zusammengebracht hatte. Ich war der Erste, mit dem sie sich über Geschichte unterhalten konnte. Geschichte – nicht staubig trocken in Bücher verbannt, sondern lebendig wie Breitleinwandkino. Wir erweckten Geschichte zum Leben. Sie aus Leidenschaft und ich hatte einiges davon selber erlebt. Ihre Freunde hatten sich erst ungläubig und dann sehr amüsiert zurückgezogen, als wir uns eines nachts in den Verträgen von Locarno aus dem Jahr 1925 verloren hatten. In dieser Nacht hatte ich mich auch in ihren hellblauen Augen verloren, und das bis in alle Ewigkeit.
»Hi, Thomas.« Nadine strahlte mich an und gab mir zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Sie band sich geschickt ihre langen, blonden Haare zu einem Zopf zusammen. Die feinen silbernen Härchen auf ihrem zarten Nacken brachten mein Blut in Wallung. Sie dort zu streicheln, sie dort zu küssen, sie dort zu beißen ... Stopp!
Darüber war ich hinaus. Zu Beginn unserer Freundschaft hatte ich versucht, meinen Hunger auf Nadine durch übermäßige Sättigung zu unterbinden. Ich war nicht weit davon entfernt gewesen, mir einen Blutrausch zu verpassen. Was alles hätte passieren können! Ich musste meine Strategie umstellen. Radikal und mit Erfolg. Je weniger Blut ich zu mir nahm, desto geringer wurde mein Bedürfnis. Markus, ein menschlicher Kumpel, hatte mir einmal von seiner Null-Diät berichtet. Nach anfänglichem Magenknurren hatte er irgendwann überhaupt keinen Hunger mehr gehabt. Es funktionierte auch bei mir. Aber ich wusste, dass ich so nicht ewig weitermachen konnte. Meine Kräfte würden schwinden. Nicht schnell, denn ich war jung, doch irgendwann wäre es auch bei mir soweit. Aber darüber verbannte ich alle Gedanken. Ich war verliebt.
»Du schaust so ernst? Dabei wollte ich dich überraschen. Ich habe ein Stipendium bekommen. Dann brauch ich das hier nicht mehr zu machen und wir könnten uns früher treffen.« Nadine strahlte mich an, während ich fieberhaft über die Konsequenzen nachdachte. Früher. Ausgerechnet jetzt im Frühling. Mit jeder Woche wurden die Tage länger. Ich hasste den Sommer. Durch mein vegetarisches Leben konnte ich es zwar schon etwas länger in der Dämmerung aushalten, aber irgendwann würde ihr auffallen, dass wir uns nur in der Nacht sahen. Bisher hatte ich meinen vermeintlichen Job als Chemiker vorgeschoben. Ich hatte ihr erklärt, ich müsste an den Wochenenden oft wichtige Versuchsreihen betreuen. Nadine hatte mir den Blödsinn abgekauft. Aber ich fühlte, dass sie es nicht tat, weil sie dumm war, sondern weil sie spürte, dass ich etwas verheimlichen musste, obwohl ich es nicht wollte. Ich war die Heimlichtuerei leid.
»Freust du dich nicht? Wir könnten in den Osterferien wegfahren ... Oh, meinst du, du bekommst vielleicht keinen Urlaub?«
»He, Nadine. Deine Schicht hat schon begonnen. Du kannst später mit deinem Gspusi rumflirten.«
Ich hasste ihren Chef Bernd. Er war ein Depp und ich roch, wie er Nadine – meine Nadine – begehrte. Dennoch, Nadine würde nicht lockerlassen. Aber diesmal war ich froh, um eine Antwort herum gekommen zu sein.
Ich hing eine Weile im Night Cafe herum und beobachtete die Gäste. Bernd hatte mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich nicht immer wütend dazwischen gehen konnte, wenn ein Gast versuchte, mit Nadine zu flirten. Ok, so war das Geschäft und Nadine wusste sich durchaus selber zu helfen. Sie war schlagfertig, witzig und konnte allzu aufdringliche Gäste mit deutlichen Worten in ihre Schranken weisen. Mehrmals musste ich das schon anerkennend feststellen.
Plötzlich klopfte mir jemand auf die Schulter. Ich zuckte zusammen. Normalerweise kam kein Mensch an mich heran, ohne dass ich es bemerkte. War ich einfach nur von meinen Gedanken an Nadine abgelenkt worden oder verlor ich langsam meine Fähigkeiten? Es war Karl, der sich freudestrahlend neben mich hockte.
»Hi Tom, ich hab ihn!«
»Wen?«
»Mensch, wirst du vergesslich? Den neuen Job!«
Jetzt fiel es mir wieder ein. Wie peinlich. Stundenlang hatten wir darüber geredet und ich hatte mit Karl sogar das Vorstellungsgespräch geübt. Heute war sein großer Tag gewesen. Auch das wäre mir früher niemals passiert. »Oh, cool. Das ist richtig klasse. Das müssen wir begießen.«
Ich wusste, wie Menschen einen Erfolg zu feiern pflegten und bestellte bei Nadine auch gleich Karls Lieblingsbier und Lieblingsschnaps und für mich wie immer eine Bloody Mary. Nur Nadine wusste, dass ich keinen Alkohol trank und goss mir reinen Tomatensaft ein. Meine Familie hätte sich geschüttelt, wenn sie gesehen hätte, mit welchem Genuss ich mir den roten Gemüsesaft von den Lippen leckte. Gemüse war mittlerweile mein Junkfood geworden. Am liebsten rotes Gemüse.
Gegen Ende der Nachtschicht hatte ich nicht mehr den Mut, Nadine alles zu erzählen. Außerdem blieb Karl an mir kleben wie ein Blutsauger. Er war schon ziemlich betrunken, und so nahmen Nadine und ich ihn einfach in ihre Wohnung mit. Die romantische Nacht mit Nadine konnte ich jetzt knicken. Nadine mochte Karl, und auch sie sah es als unsere Freundespflicht, ihn an seinem großen Tag nicht allein zu lassen. Schließlich schleppten wir Karl, der uns schief und laut die Ohren vollgrölte, ins fünfte Stockwerk. Wie viel lieber hätte ich Nadine auf meinen Händen die knarrenden Altbaustufen hinaufgetragen.
»Ich glaub, ich mach ihm etwas zu essen, sonst wird er so schnell nicht nüchtern. In diesem Zustand sollten wir ihn nicht zu seinem Hausdrachen zurückschicken. Ich weiß wirklich nicht, was er an ihr findet.« Nadine kicherte. »Du hast sicher wieder keinen Hunger, oder?«
Nein, ich hatte keinen Hunger, zumindest nicht auf irgendetwas zu essen. Ich versuchte, Karl so auf einen der bunt bemalten Küchenstühle zu setzen, dass er nicht gleich herunterrutschte. Da roch ich es. Blut! Obwohl ich schon seit einiger Zeit vegetarisch lebte, spürte ich, wie sich meine Fangzähne ganz langsam, schmerzlich pochend ihren Weg suchten. Verflixt. Ich musste mich ablenken. Dummerweise sah ich zu Nadine, die gerade von einem blutig rohen Rindersteak ein kleines Stück abschnitt und es sich verstohlen in den Mund schob. Da bemerkte sie meinen Blick. »Oh, ich weiß, das sollte man nicht. Aber es ist ganz frisch und Tatar isst man doch auch roh, oder nicht?« Sie leckte sich verlegen über die Lippen und legte das Steak in die Pfanne. Der Geruch von bratendem Fleisch verdrängte den Blutduft. Das war auch nicht besser. Dieser Gestank verursachte mir allergrößten Ekel. Feuer, Brennen, Sonne ... für Vampire stinkt gebratenes Fleisch wie der Tod, wie unser Tod. Ich würgte, ich schluckte und würgte wieder. Karl knallte mit dem Kinn auf die Tischplatte, als ich aufsprang und ins Bad rannte. Ich kotzte den Tomatensaft in die Kloschüssel. Rotes, schleimiges Blut. Nadine rief mir noch etwas hinterher, aber ich stürzte wie von tausend Sonnen verfolgt auf den Flur, sprang die fünf Stockwerke mit einem Satz hinunter und betete zu allen Untoten, dass Nadine meinen Sprung nicht gesehen hatte. Verdammter Mist.
Meine Freundin aß blutiges Fleisch. Sie aß es nicht nur, sie liebte es. Ich hatte es in ihren Augen gesehen. Gierig wie ein Vampir in den frühen Abendstunden. Mir wuchsen die Zähne und ich hasste den Brutzelgestank an meinem T-Shirt. Ich raste durch die Dunkelheit. Dass ich zwei Radarfallen auslöste, war mir schnurzegal. Ich fuhr das Motorrad in die Tiefgarage unter unserer Villa und stiefelte die Marmortreppe nach oben. Frustriert schlug ich die Eingangstür hinter mir zu. Kein Licht brannte. Klar, es war mitten in der Nacht und die Familie war ausgeflogen. Im Dunkeln bahnte ich mir meinen Weg in die Küche und angelte mir eine Blutkonserve aus dem Kühlschrank. AB-negativ, selten und teuer. Dass sie besonders gut schmeckte, war mir egal. Mist. Verdammter Mist. Im Wohnzimmer ließ ich mich auf einen Sessel fallen und starrte in die stockfinstere Nacht. In den stockfinsteren Park vor dem Fenster und in meine stockfinsteren Gedanken. Wegen ihr wollte ich zum Vegetarier werden.
»Na, hat wohl nicht so geklappt. Hat sie dir den Laufpass gegeben?«
Luzi! Meine kleine Schwester Luzi. Sie hockte auf der Fensterbank im Erker, nur ihre Silhouette war zu erkennen. Mit einer Handbewegung ließ ich die Tischlampe neben ihr aufleuchten. Schwarz, alles an ihr war schwarz. Die stacheligen Haare, die zerrissenen Netzstumpfhosen, die Stiefel und die Lederkorsage.
»Laufpass, wer?« Ich versuchte überrascht zu klingen.
»Na, das hübsche Mädchen aus dem Night Cafe. Ihr gefiel wohl deine Idee mit dem vegetarischen Restaurant nicht.« Luzi lachte und mir plumpste die Blutkonserve auf den Perserteppich.
»Hoffentlich war die leer, sonst weiß ich nicht, was Tante Edeltraud mit dir macht. Hast du schon gehört, dass sie einen Verein für die »Erhaltung vampirischer Etikette« gründen will? Von wegen – kein Schmatzen am Hals – und so?«
»Woher weißt du ...?«
»Das erzählt sie doch jeder ihrer Freundinnen.«
»Nein, ich meine das, was du vorher gesagt hast.« Ich überlegte kurz, vor meiner Schwester den Unwissenden zu spielen. Aber das wäre sinnlos gewesen. Luzi wusste immer alles. Als wäre sie als Kind in eine Weiß-die-Wahrheit-Droge gefallen.
»Ich hab mir den Schuppen angesehen, den du gekauft hast. Hätt ich dir nicht zugetraut. Da würde ich sogar mal mit meinen Kumpels hingehen. Da sind ohnedies Vegetarier dabei.«
Hatte ich vorher die Blutkonserve fallen gelassen, war es jetzt die Kinnlade, die mir herunterfiel.
»Kuck nicht so belämmert. Du bist nicht der einzige, der Tomatensaft trinkt.«
»Du bist auch ...?«, fragte ich verstört.
»Ne, dafür liebe ich eine zarte Kehle viel zu sehr. Am liebsten mit schlecht rasiertem Dreitage-Bart. Aber Gemüsesaft hab ich schon probiert. Törnt gut. Bei manchen wirkt es wie Ecstasy. Kann mir vorstellen, dass der Laden brummt, wenn du die richtigen Drinks hinstellst.« Luzi stand auf, streckte sich und ging zur Tür. »Hey, ich würd nicht so schnell aufgeben ... sie ist nett, deine Nadine.«
Sprachlos blieb ich hocken. Dass Luzi jemanden nett fand, war eigentlich schon sein Todesurteil. Aber meine kleine Schwester hatte unerwartet sanft geklungen.
»Luzi, warte!« Ich sprang auf und rannte ihr hinterher, aber sie war schon verschwunden. In der Nacht.
Ich grübelte zwei Tage, konnte nicht schlafen und fühlte mich scheußlich. Festivalul Primăverii stand vor der Tür. Einer der wenigen rumänischen Feiertage, die in unserer Familie noch richtig gefeiert wurden: Das Frühlingsfest. In unseren Breitengraden eher ein Abschiedsfest von den langen Nächten. Ein Umbruch, ein Neuanfang – auch das konnte es bedeuten. Sollte ich jetzt aufgeben? Nein. Endlich riss ich mich aus meinem Selbstmitleid und rief Nadine an. Sie klang etwas unterkühlt. Kein Wunder. In ihren Augen hatte ich ihr das Bad vollgekotzt, sie mit einem Betrunkenen alleingelassen, der ihr kurz darauf die Küche vollgekotzt hatte und war ohne jede Erklärung einfach abgehauen. Ich murmelte etwas von Allergie, aber das ließ sie nicht gelten. Wenigstens erlaubte sie mir, sie nach ihrer Schicht abzuholen.
Um zwei Uhr morgens schloss das Night Cafe. Es war fünf nach zwei. Fünf Minuten zu spät!
Es waren drei. Sie hatten in der Hofeinfahrt hinter den Abfallcontainern gewartet. Ich hörte Nadine schreien, roch Blut und war im Bruchteil einer Sekunde bei ihr. Ein schwerer Kerl in Lederjacke drängte sie an die Hausmauer und presste ihr ein Messer an den Hals. »Her mit den Schlüsseln«, fauchte er sie an. Währenddessen fingerte ein langer Lulatsch Nadine an der Kleidung herum. »Sei lieb, dann tun wir dir nichts.« Ich roch ihr süßes Blut und sah rot. Den Dicken riss ich mit einem Ruck von ihr weg und schleuderte ihn in einen halboffenen Müllcontainer. Der Deckel schloss sich mit einem lauten Scheppern über ihm. Nun mischte sich der dritte Schuft ein. Er zog eine Waffe und schoss auf mich. Dass ich mich duckte, war ein Reflex, denn die Kugel konnte mir nichts anhaben. So fuhr das Projektil dem langen Kerl, der Nadine immer noch festhielt, in den Rücken, durchdrang den dünnen Körper und traf sie in die Brust. Beide stürzten zu Boden. Der Kerl, der geschossen hatte, schrie: »Scheiße!«, und rannte davon, während ich seinen Kumpan von meiner Freundin zerrte. Vorsichtig hob ich sie hoch. Ein Federgewicht in meinen Armen. Blut am Hals und unter dem rechten Schlüsselbein. Oh Heilige der Nächte. Ich sprintete zu meinem Motorrad. Krankenhaus – nein, es war zu spät. Ich wusste es. Ich kannte mich aus – mit dem Hauch von menschlichen Leben. Mir blieben wenige Minuten.
Ich hielt Nadine umklammert vor mir auf dem Motorradsitz und raste mit einer Höllengeschwindigkeit durch die Stadt. Einen Polizeiwagen hängte ich mühelos ab, und noch bevor er Verstärkung rufen konnte, schloss sich das große schmiedeeiserne Tor zu unserem Anwesen hinter mir. Hoffentlich war Tante Edeltraud nicht unterwegs.
Ich ließ das Motorrad achtlos fallen, hastete mit Nadine auf den Armen die steinerne Treppe hoch, öffnete Kraft meiner Gedanken die Eichenholztür und stand nach wenigen Schritten in unserem Speisezimmer. Sie waren alle da: Festivalul Primăverii. Ich hatte es total vergessen. Die ganze Familie kam zusammen und feierte das Frühlingsfest mit einem Festmahl. In früheren Zeiten mit frisch Gezapftem ... ich drängte die Gedanken panisch beiseite.
»Wir brauchen Hilfe«, stieß ich hervor, während meine Tante, mein Onkel und meine Eltern fassungslos auf das menschliche Bündel starrten, das ich ihnen frei Haus geliefert hatte.
»Thomas!«, stöhnte meine Mutter entsetzt.
Ich wischte mit einer Bewegung die Kristallgläser vom Tisch und legte Nadine vorsichtig auf die weiße Spitzentischdecke.
»Thomas!«, rief mein Vater. Er stand auf, trat neben mich und starrte auf das Häufchen Leben vor uns auf dem Tisch. »Ein Mensch!«
Ein Häuflein Mensch auf dem Esszimmertisch zwischen sechs Vampiren, ausgerechnet zu Festivalul Primăverii.
Onkel Theobald zupfte nervös an seinem Schnurrbart. Tante Edeltraut flog in die Küche, um Handtücher zu holen. Mein Vater, der vollendete Aristokrat, schüttelte ungläubig den Kopf. Meine Schwester lehnte sich mit breitem Grinsen zurück und meine Mutter, eine durchscheinende Schönheit, löste sich auf.
»Sie hatte noch nichts gegessen«, zischte mein Vater in die plötzliche Stille. »Kannst du mir erklären, was das soll? Du wirst uns sicher kein Feiertags-Dinner mitgebracht haben.«
Peinlich für einen erwachsenen Vampir, aber ich hatte immer noch Angst vor meinem Vater. Aber noch mehr Angst hatte ich um Nadine.
»Ich liebe sie. Ich will sie heiraten. Ich will mit ihr ein vegetarisches Nachtlokal aufmachen. Ich will wie ein Mensch leben!«, platzte es aus mir heraus. Totenstille.
»Bravo! Endlich zeigst du mal Mumm in den Knochen.« Luzi stand auf und klopfte mir gönnerhaft auf die Schultern. »Dann sieh mal zu, dass deine Nadine nicht vorher stirbt.«
Meine Beine drohten unter mir nachzugeben. Ich stöhnte: »Tante Edeltraud, hilf uns! Bitte!«
»Thomas David Sokrates!«, brüllte mein Vater wutentbrannt, aber Onkel Theobald brachte ihn zum Schweigen: »Er meint es bluternst. Wie Großvater Hubert.«
»So schlimm?« Meines Vaters Stimme zitterte immer noch, war aber deutlich leiser geworden. »Gut. Du wirst mit den Konsequenzen leben müssen. Aber glaube nicht, dass deine Mutter und ich dich zum Mitternachtskaffee besuchen kommen, wenn du dich bar jeglicher Vernunft aus unserer Gesellschaft ausstößt.«
Tante Edeltraud hatte mittlerweile Nadines Wunden geschlossen. Sie besaß als Einzige der Familie die Fähigkeit der Sekundenheilung. »Thomas, es ist nicht überstanden. Dein Mädchen hat zu viel Blut verloren. Willst du ...?«
»Ja«, flüsterte ich heiser. Alle Ängste, Träume und Wünsche wirbelten einem Tornado gleich durch mein Gehirn. Aber am Ende stand nur eins: Nadine.
In dieser Nacht stand das Frühlingsfest zum erstem Mal, seit ich mich erinnern konnte, nicht für Tod und Ende, sondern für neues Leben.
Nach zwei Tagen wachte sie auf. Ich hatte ununterbrochen neben ihrem Bett gesessen, ihre Stirn gekühlt und ihre Hand gehalten. Meine Mutter hatte mich einmal zu ihr gebeten. Einem ätherischen Schatten gleich war sie dennoch eine starke Frau. Sie schüttelte den Kopf, nickte dann und drückte mir die Hand. Gesagt hatte sie nichts, ich verstand sie dennoch. Sie würde mir nicht im Wege stehen. Mein Vater hatte mich enterbt. Aber das war nichts Neues, und zum ersten Mal in meinem Leben war es mir sogar egal. Nadine war bei mir. Und ich in ihr. Mein Blut floss durch ihre Adern und hatte ihr das Leben gerettet. OK, das mit dem Blut war eigentlich nichts Besonderes. Wir Vampire amüsierten uns immer über die menschlichen Fantasien über unser Blut. Nichts von den Behauptungen aus den Vampirromanen stimmte. Es war nur einfach sehr verträglich, für jeden. Dennoch fühlte ich mich Nadine sehr nah.
Sie schlug die Augen auf.
»Wann ...«
»Nicht aufregen. Es ist alles gut. Du bist überfallen worden.«
»Wann ...«
»Ich hab dich zu meiner Tante gebracht, sie konnte dir helfen.« Jetzt galt es – ich musste es ihr endlich sagen. Spätestens, wenn sie sah, dass die Familie ihr Frühstück um acht nahm, würde sie Fragen stellen.
»Wann ...«
»Sch... nicht aufregen, aber ich muss dir etwas sagen ...«
»Himmel, Tom.« Nadine kämpfte sich aus den Kissen hoch und funkelte mich wütend an. »WANN willst du dein Restaurant eröffnen?«
»Wie?« Jetzt war es an mir, zu stammeln. »Woher ...«
»Von Luzi.«
»Woher kennst du meine Schwester? Sie ist eine ...«
»Vampirin. Ich weiß. Wenn du mich endlich mal ausreden lassen würdest«, keuchte Nadine und sank ermattet in die Kissen.
Ich beteuerte, ihr den Mond vom Himmel zu pflücken, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, ihr jeden Unhold vom Leib zu halten und sie immer ausreden zu lassen, bis sie lachen musste. Endlich strahlten ihre blauen Augen in mein verängstigtes Herz.
»Ich möchte nur, dass du deine vegetarische Nachtbar eröffnest. Und dass ich nicht vegetarisch leben muss.«
Vier Wochen später feierten wir die Eröffnung des »Festivalul Primăverii«. Onkel Theobald wagte sich an eine alkoholfreie Blood Mary und Tante Edeltraud fragte nach dem Rezept. Mein Vater ging herum und inspizierte mit kritischem Blick Einrichtung und Ausstattung. Luzi hatte ein paar ihrer Freunde mitgebracht. Es war wirklich schwer zu unterscheiden, wer von ihnen Vampir war und wer nur aussah wie einer. Meine Mutter ließ sich entschuldigen. Aber sie hatte mir einen silbernen Cocktailshaker mit meinen Initialen geschenkt. Ich wusste, dass es zu viel für sie gewesen wäre, entstammte sie doch einem jahrtausende alten Vampirgeschlecht.
Im Morgengrauen verließen die letzten Gäste unser Restaurant. Luzi zupfte kurz an meinem Arm und drückte mir verschwörerisch etwas in die Hand. Ich starrte verblüfft auf ein kleines Fläschchen mit zartrosa Kügelchen. »Globlutuli. Sie helfen bei vegetarisch verursachter Unterversorgung – hat Großvater Hubert erfunden.«
Vier Monate später wurde Nadine schwanger und wir heirateten.
Vier Jahre später schenkte ich meiner kleinen Tochter zum Festivalul Primăverii ein Meerschweinchen.
»Süß!«, rief sie fröhlich. Dann grub sie ein zweites Mal ihre zarten Milchzähne in das zappelnde Tier und trank. Mein Vater, der sich von meiner lächelnden Frau gerade einen Mitternachtskaffee einschenken ließ, prostete mir mit der Kaffeetasse zu. »Großvater Hubert lässt übrigens grüßen, er will uns bald besuchen.«