Читать книгу Feiertage und andere Katastrophen - Stefanie Grimm - Страница 3
2. Ostern – B&B
ОглавлениеIch schmiss meine Sporttasche auf das Ungetüm von Himmelbett. Sie versank sogleich zwischen hunderten von geblümten Kissen.
»Chris, verdammt«, nörgelte Anny sofort. »Du weißt doch ganz genau, dass ich unser Zimmer erstmal fotografieren möchte. Also nimm deine Tasche vom Bett.«
Ich verdrehte die Augen, griff mein Gepäck und sah mich ratlos um. »Und wo, bitteschön wird die Starfotografin nicht von meinen Sachen gestört? Das Zimmer ist so vollgestopft mit altem Krempel, dass man gar nicht weiß, wohin mit seinem Kram.«
Entnervt riss Anny mir die Tasche aus der Hand und stopfte sie in einen wurmstichigen alten Schrank. Ich hoffte, dass die Holzwürmer wirklich schon tot waren und sich nicht an meinem Gepäck vergriffen. Dann war Anny auch schon wieder bei mir, drückte mir die Hand auf die Brust und dirigierte mich rückwärts durch eine Tür, die, wie mir ein schneller Blick über die Schulter bescheinigte, ins Badezimmer führte. Von hier aus sah ich zu, wie sie mit ihrer Spiegelreflexkamera unser Zimmer sezierte.
Das konnte länger dauern. Ich setzte mich auf den Badewannenrand und fingerte nach meinen Kippen. Da fiel mir ein, dass ich aufgehört hatte zu rauchen. Anny zuliebe. Wenn das mal kein Fehler gewesen war. Dann wenigstens frische Luft. Ich stand wieder auf und versuchte, das Fenster nach oben zu drücken. Der dicklackierte Rahmen ließ sich erst nach etlichen Versuchen bewegen. Wahrscheinlich war er genauso alt wie das ganze Anwesen. Endlich stand ich am offenen Fenster und sah hinaus in die stockdunkle Nacht über den schottischen Highlands. Von nebenan erklang immer wieder Annys begeistertes Quietschen. »Oh, wie entzückend, diese Bordüren. Chris, das musst du dir unbedingt anschauen. Ein echtes Chesterfield Sofa. Und hier, die Schminkkommode, mit klappbaren Spiegeln.«
»Ja, ja, Liebling«.
»Das ist Vintage Romantik pur. Wie bei Laura Ashley.« Mit glühenden Wangen kam sie ins Badezimmer gelaufen und küsste mich. »Danke, dass wir beide diesen Urlaub machen. Das bedeutet mir echt viel.« Ihre rehbraunen Augen strahlten mich an, und für einen Moment vergaß ich den ganzen Ärger in unserer Beziehung. Ich wollte sie an mich drücken, doch sie hatte sich schon wieder abgewandt und strich mit einer Hand langsam über den Badewannenrand. »Eine freistehende Badewanne. Sogar mit vergoldeten Löwenfüßen.«
»Ach ja? Ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Chriesssss.«
Ich schloss die Augen und zählte von zehn rückwärts. Ich kam bis acht.
»Du hast das Fenster aufgemacht!«
Ich atmete langsam aus.
»Die Mücken werden uns umbringen.«
Plötzlich klopfte es. Ich nutzte die Chance, einem Vortrag über schottische Midgies zu entkommen und öffnete die Zimmertür. Es war die grauhaarige Frau unbestimmbaren Alters, die uns bei der Ankunft die mächtige Eichentür geöffnet hatte. Sie trug eine weiße Schürze mit Spitzenbesatz über einem dunklen Kleid und balancierte ein vollbeladenes Tablett. Um zwölf Uhr in der Nacht. Alle Achtung.
»Ja bitte?«, fragte ich.
»Ich wollte Ihnen eine kleine Erfrischung bringen. Sie hatten doch eine anstrengende Reise. Frühstück wird um acht im Speisezimmer serviert. Üblicherweise essen alle Gäste gemeinsam an der großen Tafel.«
Ich musste gestehen, dass ich beeindruckt war. Der Service in dem B&B schien gut zu sein. Wahrscheinlich mussten sie sich alle Mühe geben, um überhaupt irgendwelche Gäste in die Einsamkeit zu locken. Wir hatten auf den letzten Kilometern der Taxifahrt kein einziges Licht gesehen. Weder Häuser noch Fahrzeuge.
»Oh, das ist aber nett, Mrs ...?«, versuchte Anny gleich Kontakt aufzunehmen.
»Miss, Miss Elisa. Zu Ihren Diensten.« Sie stellte das Tablett mit Sandwiches und Getränken auf ein verschnörkeltes Tischchen, von dem ich hoffte, dass es nicht zusammenbrechen würde. Es hatte mindestens 150 Jahre auf dem Buckel, besser gesagt den dünnen Tatzenfüßchen.
»Ach, Miss Elisa, darf ich fragen, wie viele Gäste im Haus sind?«, erkundigte sich Anny neugierig und ich hoffte, dass die Antwort kurz sein würde.
»Mit Ihnen sind es sieben Bewohner. Das Haus hat sieben Zimmer, drei sind noch frei.« Miss Elisa verbeugte sich, verließ rückwärts unser Schlafzimmer und schloss die Tür geräuschlos. Anny überkam ein Kicheranfall. »Oh, Chris. Ob MISS Eliiisa hier der Hausgeist ist? Hast du eine Ahnung, wie alt sie sein könnte? Benehmen tut sie sich, als wäre sie über Hundert.«
»Gott sei Dank ist sie es nicht, sonst hätte sie kaum an ein kaltes Bier gedacht.« Ich öffnete die Flasche mit einem spritzigen Plopp und nahm einen tiefen Zug. Welch ein Genuss, endlich.
Nicht zu verachten war auch das Frühstück, das Miss Elisa pünktlich um acht im Speisesaal servierte. Anny und ich waren schon etwas früher die hochherrschaftliche Treppe heruntergestiegen. Vorbei an ausgestopften Hirschen, Füchsen und Raubvögeln, die zwischen missmutig blickenden Ahnenportraits hingen. Anny nahm meine Hand und hob geziert ihren freien Arm. »Möchtest du mich bitte zu Tisch geleiten?«
Ich lachte. Es war zwar etwas albern, aber wenigstens hatte Anny wieder bessere Laune. Und es passte wirklich zu der Umgebung. Noch nie hatte ich in einem Museum übernachtet. »Oh sieh, die Kronleuchter.« Während Anny ganz begeistert war, schaute ich skeptisch zur Deckenverankerung der beiden Monster, die über der langen Tafel hingen. Dann widmete sich meine Freundin dem Geschirr, den Platztellern und Kristallgläsern. Keine Ahnung, warum Blümchenporzellan und Jagdmotive so etwas Bemerkenswertes waren. Obwohl ich insgeheim zugeben musste, dass die Ausstrahlung des Viktorianischen Herrenhauses langsam aber sicher auch mich in seinen Bann zog. Ich trat an das Erkerfenster. Dunkel bewaldete Hügel mit kargen Gipfeln erhoben sich über einem tiefblauen See. Für mich als Großstädter eine ungewohnte Einsamkeit.
»Ha, Sie müssen die neuen Gäste sein. Zimmer vier, nicht wahr? Wir wohnen in Zimmer drei. Willkommen, willkommen«, ertönte eine tiefe Stimme. Sie gehörte einem älteren Mann mit Kinnbart und Knickerbockerhosen. »Darf ich mich vorstellen? Ed Cromwell und das ist meine Frau Daisy. Wir sind Ornithologen. Aber für Vögel werden Sie junge Leute nichts übrighaben. Eher fürs Vög ...«
»Ed, das wirst du jetzt nicht sagen.« Daisy klang gleichzeitig empört und belustigt. Ihre bunte Bluse flatterte bei jeder Bewegung um ihren fülligen, aber erstaunlich beweglichen Körper. In Windeseile durchquerte sie den Raum und schüttelte unsere Hände. Wir hatten uns gerade vorgestellt, als die übrigen Gäste erschienen. Max und Paul waren zwei Mountainbiker aus London und im Gegensatz zu den durchaus witzigen Cromwells recht schweigsam. Paul wurde erst gesprächiger, als Mary an den Tisch trat. Mary – alle Achtung. Eine blonde Schönheit, und offensichtlich ziemlich schwanger. Miss Elisa erschien mit Tee und Kaffee und fragte jeden, wie er seine Eier zubereitet haben wollte und welche Beilagen er dazu wünschte. Max neben mir war als letztes an der Reihe. Er rollte etwas genervt die Augen. »Aber Miss Elisa, das müssten sie doch mittlerweile wissen. Wie immer zwei Spiegeleier, eine Scheibe Black Pudding und eine gegrillte Tomate.«
Wortlos, aber mit einem kleinen Nicken, verschwand Miss Elisa.
»Sind Sie denn schon länger hier?«, fragte Anny die Cromwells, als wir uns alle an den großen Tisch setzten. Sie war, im Gegensatz zu mir, eine Meisterin im Smalltalk.
»Das kann man schon sagen«, antwortete Daisy mit einem Lächeln, das jedoch sofort verblasste, als Max laut auflachte und Ed ihr seine Hand auf den Unterarm legte. Das Gespräch verstummte, aber genau in diesem Augenblick erschien Miss Elisa mit einem riesigen Tablett voll unserer Bestellungen. Sie schien wirklich eine Küchenfee zu sein, so schnell und echt lecker hatte sie alles zubereitet. Spiegeleier, Bacon, gegrillte Tomate und Räucherfisch. Ich langte kräftig zu. Den Seitenblick meiner Freundin auf meinen vollen Teller ignorierte ich. Schließlich hatte auch ich Urlaub.
»Lunchimbiss, sofern Sie anwesend sind, wird um ein Uhr im Salon gereicht und Dinner serviere ich pünktlich um zwanzig Uhr hier im Speisezimmer.« Miss Elisa hatte uns mit Wanderkarten versorgt und verabschiedete die Gäste nach und nach in der Eingangsdiele. Daisy und Ed waren gleich nach dem Frühstück mit Ferngläsern und ornithologischen Büchern verschwunden. Paul und Max schoben ihre Mountainbikes aus der Scheune, schwangen sich in die Sättel und fuhren davon, ohne sich zu verabschieden.
»Sie werden es nie lernen«, murmelte die schöne Mary traurig, nahm ihr Buch und »begab« sich auf die Veranda, wie sie sich auszudrücken pflegte. Sie machte auf mich einen merkwürdigen Eindruck. Etwas durchscheinend – wie ein Geist. Anny meinte dazu nur, dass ich Gespenster sehen würde und dass schwangere Frauen halt immer eine besondere Aura ausstrahlten. Sie griff nach unserem Rucksack und zog mich hinaus.
Es war ein wunderschöner Tag. Wir hatten so etwas von Glück: Späte Osterferien und ein stabiles Hoch über Schottland. Die Sonne schien, aber ein paar Schäfchenwolken sorgten dafür, dass es nicht zu heiß wurde. Wir würden dennoch UV-Schutz brauchen, um nicht gleich am ersten Tag rote Nasen zu bekommen. Der Weg um den See herum war ordentlich befestigt. Die Wanderung tat uns beiden gut. Fern ab von all dem Stress in der letzten Zeit, fanden wir Schritt für Schritt wieder ein kleines Stückchen zueinander. Vielleicht war es wirklich richtig gewesen, unserer Beziehung noch eine Chance zu geben und Anny doch nicht zu verlassen. Gegen Mittag erreichten wir wieder das Haus. Es war eine prachtvolle Erscheinung mit seinen Türmchen und Erkern. Von außen erschien es mir noch viel größer, als von innen.
Das Nachmittagslicht erwärmte den Blauen Salon, in dem uns Miss Elisa Sandwiches und Scones mit Clotted Creme servierte. Wir hockten auf stilvollen, aber durchgesessenen Möbeln, bezogen mit hellblauem Samt. Merkwürdigerweise hatte mich eine solche Ruhe erfasst, dass mich nicht einmal das sonst nervtötende Ticken der Standuhr störte. Auch hier hingen Portraits an den Wänden. Ich betrachtete die alten Bücher in den raumhohen Regalen, die für jeden Antiquar ein Schatz gewesen wären.
»Sie können sie gern lesen. Das ist erlaubt.« Mary war durch die Verandatür gekommen, setzte sich auf einen zierlichen Stuhl und bediente sich an den Scones.
»Ich liebe ihre Scones. Nur meine Großmutter hat so gute gebacken.«
»Sie sind wirklich richtig lecker. Und ich kann mir vorstellen, dass Sie jetzt auch viel essen müssen – sozusagen für zwei.« Oh Anny. Manchmal konnte sie ein Elefant im Porzellanladen sein. »Anny meint das nicht so ...«
»Doch.«
Mary lachte. »Ach, es ist ja wirklich kein Geheimnis mehr. Und mir bleibt wenigstens die Lust am Essen.«
Ich wunderte mich etwas über den melancholischen Ton, aber Anny hakte gleich nach.
»Wann ist es denn so weit?«
»Nie.«
Jetzt war auch Anny platt. »Wie meinen Sie das?«, stammelte sie.
»Ich werde vorher sterben.« Mary sagte das ganz gleichgültig, griff nach einem weiteren Scone, erhob sich und verließ den Salon.
Pünktlich um zwanzig Uhr servierte Miss Elisa Selleriesuppe, Lammkeule mit Roasted Potatoes und Minzsauce. Daisy schwärmte, dass für den kommenden Karfreitag wunderbare Forellen angekündigt seien und zum Ostersonntag selbstverständlich Lammfilet. Dass die Küche in diesem einsamen B&B so gut war, hatte ich nicht erwartet. Obwohl der Prospekt von einem Viktorianischen Zauber schwärmte.
Es schmeckte ganz wunderbar. Aber als ich Mary verstohlen beobachtete, merkte ich, dass mich ihre Worte betroffen gemacht hatten. Waren das Schwangerschaftsdepressionen? Nicht dass ich mich damit auskannte. Oder hatte sie vielleicht eine Krankheit? Selbst Anny hatte sich nicht wie gewohnt in wilden Spekulationen ausgetobt. Ich beobachtete allerdings, dass Mary recht unbeschwert ihr Essen genoss und mit Paul flirtete. Max, der Dunkelhaarige, machte hingegen ein finsteres Gesicht. Ed und Daisy plapperten fröhlich und irgendwann ließen wir uns von ihrer guten Stimmung anstecken.
»Hörst du das?« Anny rüttelte mich wach. Ich kämpfte mich mühsam aus dem Tiefschlaf.
»Was?«, murmelte ich müde.
»Auf der Treppe und über uns. Gepolter, als ob irgendjemand durch die Gänge gejagt wird.«
»Da ist nichts. Schlaf weiter«, brummte ich, aber dann hörte ich es auch. Als würden mehrere Leute die Treppe hinauf und hinunterrennen. Mit einem Satz war ich aus dem Bett, schlich zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Im Treppenhaus war es stockdunkel und der Lärm war verstummt. Merkwürdig. Hatte ich mir das eingebildet, oder hatte Anny nur schlecht geträumt?
Beim Frühstück fehlte Mary, doch außer uns schien es niemand zu bemerken. Anny fragte vorsichtig in die Runde, ob sie schon jemand gesehen hätte. Ed und Daisy schauten uns überrascht an. »Mary? Wer soll das sein?« Daisy klang nervös und Ed antwortete. »Das war doch die junge Frau, die schon vor langer Zeit abgereist ist, nicht wahr?« Ich verstand die Welt nicht mehr und Anny schien es genauso zu gehen. Die Mountainbiker verabschiedeten sich knapp und verschwanden, bevor Miss Elisa zum Abräumen erschien.
»Miss Elisa, könnten Sie mal nach Mary sehen? Vielleicht geht es ihr nicht gut«, versuchte es Anny.
»Ich kümmere mich nicht um die Geschichten der Gäste, nur um die Küche. Das Haus kümmert sich um seine Gäste.«
Was für eine Antwort. Eine solch offensichtliche Ignoranz sowohl von Seiten der Gäste als auch der Besitzerin hatte ich in diesem noblen Haus nicht erwartet. Mit einem Mal fühlte ich mich hier doch nicht mehr so wohl. Außerdem fehlten mir Fernseher, Internet und meine Stammkneipe. In unserem Zimmer fragte ich Anny, ob wir schon früher abreisen sollten, aber sie hörte mir nicht zu. Versteinert sah sie aus dem Fenster. »Chris, sieh.« Ich trat neben sie. Am Ufer des Sees trieb ein Körper im Wasser. Ganz eindeutig in einem hellblauen Kleid. Mary. Ihr Rücken war blutrot. Schnell griff ich zu meinem Handy. Kein Netz. Ich stürzte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und rannte in die Küche. Miss Elisa wetzte gerade ein langes Messer und sah mich versteinert an.
»Schnell, Mary liegt im Wasser«, keuchte ich.
»Da täuschen Sie sich, Chris«, antwortete Miss Elisa und wandte sich ab. Ich hetzte auf die Veranda und die Wiese hinunter zum Seeufer. Keine Leiche weit und breit, keine Mary.
Verwirrt saßen wir später in unserem Zimmer und besprachen die Möglichkeiten, die wir hatten. Aber wir hatten keine. Kein Funknetz und das Telefon in der Diele war ebenso tot. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und das war für mich ein sehr ungewohntes Gefühl.
Ein eisiger Schauer ergriff mich. Anny gegenüber wollte ich das nicht zugeben. Sie war beunruhigt und brauchte meine starke Schulter. Da konnte ich sie nicht auch noch mit meinen wirren Gedanken belasten.
Als wir zum Abendessen das Speisezimmer betraten, hatten wir uns vorgenommen zu glauben, dass wirklich nichts passiert sei. Dass wir einfach nur zu überarbeitet gewesen waren. Mit einer unbestimmten Nervosität sah ich mich um. Da saß Mary am Tisch, flirtete mit Paul und wurde von einem wütenden Max angestarrt. Ich musste mich getäuscht haben. Ed und Daisy erzählten wie immer und das Essen war hervorragend. So weit war alles wieder wunderbar. Als sich Mary aber erhob und umdrehte, sah ich auf ihrem Kleid einen großen blutroten Fleck, in dem ein langes Küchenmesser steckte. Ich kniff ungläubig die Augen zu und als ich sie wieder öffnete, war Mary verschwunden. Keiner der anderen, auch nicht Anny, schien es gesehen zu haben. Ich schenkte mir einen doppelten Whiskey ein.
In dieser Nacht blieb es ruhig. Ich hatte Anny nichts von dem Messer in Marys Rücken erzählt. Sie hätte sich Sorgen gemacht. Und ich selber wusste nicht, was ich überhaupt denken sollte. Ich merkte nur, dass ich fror.
Am nächsten Morgen luden Max und Paul uns zu einer Mountainbiketour ein. Da Anny darauf keine Lust hatte, fuhr ich alleine mit. Ich genoss die Bewegung. Es tat gut, sich endlich einmal so richtig auszupowern. Vielleicht hatte ich in den letzten Wochen einfach zu viel um die Ohren gehabt und musste nur mal richtig abschalten. Die Strecke war steil und anspruchsvoll. Wir kämpften uns über Wurzeln und groben Schotter. In einem Bachbett rutschte mir der Hinterreifen weg, aber es gelang mir, das Rad wieder auf Spur zu bringen. Endlich standen wir oberhalb des Waldes auf der felsigen Spitze eines der Berge. Ein grandioser Ausblick über Wald, See und Moor. Während ich die Aussicht genoss, schoben Max und Paul ihre Räder langsam weiter. Sie hatten erzählt, dass sie einen anderen Pfad für die Abfahrt nehmen wollten.
»Du hast sie geschwängert. Sie ist meine Verlobte!«, hörte ich plötzlich Paul schimpfen.
»Dann wirst du der Vater sein«, kam die lachende Antwort.
»Nein, wir haben noch nicht ... wir wollten die Hochzeit abwarten.«
»Dann bist du ein Trottel.«
»Und du bist ein Verräter.«
Es war mir äußerst peinlich, dem Streit zuzuhören und ich ging ein paar Schritte zur anderen Seite der Kuppe. Meinten sie etwa Mary? Einer der beiden brüllte hasserfüllt: »Aber du hast sie umgebracht. Du hast ihr das Messer in den Rücken gestoßen und sie in den See geworfen. Du hast meine Mary umgebracht.«
Oh Gott. Das wollte ich nicht hören. Verdammt, dann hatte ich gestern doch eine Leiche gesehen. Aber halt. Heute Morgen hatte sie munter am Tisch gesessen. Aber das Messer in ihrem Rücken? Konnte sie damit – leben ...? Dummer Unsinn. Damit konnte man nicht mehr leben, geschweige denn frühstücken. Plötzlich kam Max auf mich zu und sagte, wir müssten langsam los, um rechtzeitig zum Abendessen zurück zu sein.
»Wo ist Paul?«, frage ich vorsichtig.
»Der ist tot.« Max grinste.
Mir blieb jegliche Erwiderung im Halse stecken. Ich war einem Wahnsinnigen ausgeliefert. Einen Moment schossen mir meine Optionen durch den Kopf, doch es waren nicht viele. Ihm in den Bergen zu entkommen war aussichtslos, außerdem musste ich zu Anny. So riss ich mich zusammen und zitterte mich den Berg hinab zu unserem See.
Alle außer Paul, Max und mir saßen schon bei der Vorspeise, als wir dreckig und durchgeschwitzt durch die Diele polterten. Ich fand keine Gelegenheit, Anny von dem Mord zu erzählen. Paul wurde nicht vermisst. Keiner sagte irgendetwas. Nicht einmal Mary, die wieder recht munter am Tisch saß. Anny schien sich nicht an ihn zu erinnern. Sie lobte nur die grüne Minzsuppe mit den Kräuternockerln – es sei ja schließlich Gründonnerstag.
Wer wurde hier eigentlich verrückt?
Am nächsten Morgen saß Paul lebendig aber schlecht gelaunt wieder neben seinem Freund Max. Ich musste nicht lange nach irgendwelchen Verletzungen suchen. Er schien das rechte Bein und einen Arm gebrochen zu haben. Außerdem fiel ihm ein paar Mal sein Kopf so zur Seite, wie es nur mit einem Genickbruch möglich sein konnte. Marys Kleid war immer noch blutdurchtränkt und als ich mich Ed und Daisy zuwandte, um zu prüfen, ob sie vielleicht irgendwie irritiert waren, sah ich ein tiefes Loch in Eds Stirn. Kleinkaliber, wenn ich mich nicht täuschte. Und alle führten ein unbeschwertes Frühstücksgespräch. Ich schrak zusammen, als Ed mich anstupste und flüsterte: »Heute Abend gibt es die Karfreitagsforelle. Ich sage dir, ein Gedicht. Ein Höhepunkt der Woche. Meine Frau würde wegen der Lammkeule sterben, sagt sie. Aber mein Favorit ist eindeutig die gebratene Forelle mit Mandelblättern und wildem schottischen Thymian.«
Ich nahm einen kräftigen Schluck Kaffee und verbrannte mir dabei die Lippe. Unwichtig. Mein Gehirn versuchte verzweifelt eine wie auch immer geartete vernünftige Erklärung zu finden. Wahrscheinlich waren wir bei einem Haufen Irrer gelandet, die hier ihrer Maskeraden-Sucht frönten. Sozusagen Halloween das ganze Jahr. Wenn nicht, wurde ich langsam verrückt. Ich fröstelte. Dabei war es warm und das freundliche Gemurmel um mich herum wirkte so friedlich, so normal. Mein Magen zog sich zusammen. Irgendetwas sagte mir, dass das alles nichts mit Maskerade zu tun hatte. Ich bekam keinen Bissen mehr herunter, legte Messer und Gabel beiseite und flüsterte Anny ins Ohr: »Ich muss mit dir reden.« Ich zog sie auf unser Zimmer und verriegelte die Tür.
»Anny, ich sehe hier Verletzte, tödlich Verletzte, die leben. Gestern hat Max mir auf dem Berg gesagt, dass Paul tot ist. Und heute sitzt er mit gebrochenem Genick am Tisch.«
»Oh, Chris. Ich hatte schon befürchtet, nur ich allein wäre verrückt geworden. Oh mein Gott. Meinst du, es sind Wahnsinnige? Gestern habe ich gesehen, wie Ed Cromwell seiner Frau ein paar Tropfen in den Tee geträufelt hat. Wenige Minuten später hat Daisy sich auf dem Boden gewälzt und ist blau angelaufen.«
»Wir müssen hier weg«, flüsterte ich.
Anny fiel mir um den Hals, zitterte und schluchzte: »Du nimmst mich doch mit! Du darfst mich nie, nie verlassen.«
Ja, wir mussten hier weg. Sofort. Aber wie? Kein Handy, kein Taxi und auch kein Auto. Nur die Mountainbikes.
»Wir nehmen die Fahrräder. Morgen früh bei Sonnenaufgang«, flüsterte ich hoffnungsfroh. Es fühlte sich gut an einen Plan zu haben, wie bescheuert er auch sein mochte.
Nach einer unruhigen Nacht hatten wir schnell das Nötigste zusammengepackt und schlichen noch vor Sonnenaufgang die Treppen hinunter. Wir schafften es, ungesehen von Miss Elisa, die schon in der Küche werkelte, durch die Hintertür zu schlüpfen. Der Schuppen war nicht abgeschlossen. Kein Wunder, dachte ich bitter. Wer würde einem Haufen Verrückter etwas klauen wollen.
Fünf Stunden später standen wir erschöpft wieder am Ufer unseres Sees. Wir hatten alles versucht. Jeden Berg waren wir hochgestrampelt. Jeden Pfad hatten wir ausprobiert. Auch die Straße, die wir zu Beginn meiden wollten, weil wir mit Verfolgung rechneten, war keine Lösung gewesen. Immer wieder landeten wir am See. Anny heulte und ich fluchte, auch wenn mir mittlerweile ebenfalls zum Heulen zu Mute war.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit schlichen wir die Treppe zu unserem Zimmer hoch. Niemand war zu sehen, niemand war zu hören. Geisterhafte Stille. Morgen war Sonntag, Ostersonntag. Morgen würde uns der Taxifahrer wieder abholen. So hatten wir es zumindest vereinbart. Das würde unsere letzte Chance sein, diesem Wahnsinn zu entkommen. Anny klammerte sich an mich und zitterte am ganzen Leib. Ich durfte keine Schwäche zeigen, obwohl ich mich am liebsten in dem alten Kleiderschrank versteckt hätte. Stattdessen spielte ich den Besonnenen und gab Anweisungen. »Schließ das Fenster und hilf mir die Kommode vor die Tür zu schieben.« Während ich bereits versuchte, das schwere Möbelstück zur Seite zu rücken, schob Anny den offenen Fensterflügel nach unten. Er klemmte und sie musste ordentlich daran ruckeln. Plötzlich war es ganz still. Ich ließ von der Kommode ab und drehte mich zum Fenster. Meine Freundin stand da, mit dem Rücken zu mir und starrte in die Dämmerung. »Anny?«, fragte ich vorsichtig. Es war alles zu viel für sie, das wusste ich. Sie drehte sich langsam um und kam auf mich zu. Mit einem Messer in der Hand. »Du wirst mich doch nicht verlassen, Chris?«
Das Frühstück war wieder ausgezeichnet. Miss Elisa hatte sich selbst übertroffen. In der Mitte des Tisches lag ein duftendes Osterbrot. Schokoladeneier in allen Farben schimmerten in echten Moosnestern. In einer Bodenvase steckten Barbarazweige, gerade aufgeblüht, mit bemalten Eiern geschmückt. Miss Elisa servierte kross gebratenen Schinken und perfekte Spiegeleier. Einfach ein wundervolles Osterfrühstück. Nur Paul maulte, dass er mit einer Hand die frisch gebackenen Brötchen so schlecht aufschneiden konnte. Mit der anderen hielt er seinen Kopf in Position. Mary lachte und half ihm, weswegen sie von Max böse angefunkelt wurde. Ed und Daisy unterhielten sich darüber, ob sie gestern endlich eine schwarze Gryllteiste gesehen hatten und Miss Elisa brachte Obstsalat.
»Schatz, kannst du mir bitte den Kuchen reichen?«, bat mich Anny, die mittlerweile ganz süchtig nach Miss Elisas Früchtekuchen war. Ich reichte ihr die Platte. »Hier Liebling.« Meine Freundin sah bezaubernd aus. Der goldene Schal um ihren Hals passte gut zu ihren braunen Augen und kaschierte die blauen Würgemale. Hatte ich in den letzten Wochen wirklich daran gedacht, sie zu verlassen?
»Schatz, das Kuchenmesser fehlt.« Anny strahlte über das ganze Gesicht.
»Kein Problem, Liebling, du kannst das hier nehmen.« Ich zog das lange Messer aus meiner Brust und reichte es ihr. Die wenigen Blutstropfen, die ich verlor, tupfte ich sorgfältig mit der Damastserviette auf.
Mit einem lauten Gong hallte die Türglocke und alle Gespräche verstummten. Einen Moment später erschien Miss Elisa, strich sich die Schütze glatt und verkündete mit einem freundlichen Lächeln: »Die Gäste für Zimmer fünf sind angekommen.«