Читать книгу Vom Falken getragen Teil 1 - Stefanie Landahl - Страница 4

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Neue Heimat?

Marie hatte lange geschlafen. Als sie wach wurde, hörte sie die Vögel munter zwitschern und roch den Duft von Kaffee und frischen Brötchen. Erstaunt bemerkte sie, dass in ihrem Zimmer der Tisch mit eben diesen Dingen gedeckt war. Sie öffnete weit die Balkontür, setzte sich an den Tisch und genoss das wunderbare Frühstück. Die Mahlzeit, dieser ruhige Ort, der weite Blick und die Musik der Vögel versetzten sie in eine fast himmlische Harmonie. Sie vergaß Zeit und Raum. Gerne würde sie sich immer so fühlen, ging es Marie durch den Kopf. Ruhe. Wie lange hatte sie keine Ruhe mehr gefühlt?

Sie war jetzt so nah bei sich, irgendwo hier draußen. Es war ein schönes Gefühl, dass es fast schon wieder unheimlich wurde. Was wäre, wenn ich einfach hier sitzen bleiben würde?

Früher hatte sie manchmal in ihrem Baum die Ruhe gesucht, dorthin war sie oft geflüchtet. Dort fand man sie nicht. Der Baum stand auf dem unbewohnten Nachbargrundstück und hatte in seinem breiten Stamm ein großes Loch. Es war wie eine Höhle. Ihre Höhle. Sie hatte sich jedes Mal gewünscht, in seinem Schutz bleiben zu können und doch hat sie ihn immer wieder verlassen müssen.

Seufzend erhob sich Marie, um ausgiebig duschen zu gehen. Im Anschluss würde sie die Gastgeberin suchen gehen. Vielleicht konnte diese ihr sagen, wo sie eine Zeitung finden würde. Sie wollte sich die Stellenanzeigen heraussuchen. Irgendwann würde ihr Erspartes verbraucht sein, und zurück, wollte sie auf gar keinen Fall! Niemals!

Gerade wollte sie nach der Pensionsinhaberin klingeln, da diese nirgendwo zu finden war, als Marie eine Zeitung links neben sich liegen sah. »Das ist ja ein tolles Haus«, murmelte Marie im Selbstgespräch. »Hier scheint alles wie von selbst zu funktionieren.« Mit dem Blatt in der Hand ging sie wieder in ihr Zimmer und setzte sich auf den Balkon. Verwundert stellte sie fest, dass nicht weit von ihr der Falke auf einem Baumstumpf saß. Sie freute sich darüber, ohne genau zu wissen, warum. Es fühlte sich an, als wäre er so etwas wie ein alter Freund. Eine innere Stimme sagte ihr, dass dieser Falke vielleicht etwas mit ihren jahrelangen Träumen zu tun hatte. »Ach Marie«, schalt sie sich, »sei nicht blöd. Das ist ein Vogel, einfach nur ein Vogel.« Zurzeit träumte sie nicht diesen Traum, dafür schien der Falke stets in ihrer Nähe zu sein. Schon irgendwie komisch, aber von mir aus, soll er mich halt begleiten, ging es Marie durch den Kopf. Ob nun im Traum oder real ist eigentlich unwichtig. Marie widmete sich wieder der Zeitung. Die meisten Anzeigen waren unbrauchbar, aber diese hier klang ganz ansprechend:

»Suchen Verkaufshilfe in unserer Backwarenabteilung. Bitte wenden Sie sich an unseren Personalchef Herrn Strack, Kaufhaus Morten.«

Das wäre vielleicht das Richtige, dachte Marie. Sie brauchte diese Arbeit und wollte lieber persönlich hingehen. Wenn da nur nicht diese verdammte Angst wäre. Maries Blick glitt suchend zum Baumstumpf, aber der Vogel war weg. Schade. Eine leichte Traurigkeit erfasste Marie. Sie wunderte sich und fand keine Erklärung dafür. Hörbar atmete sie aus, um das Gefühl wegzubekommen.

Marie stöberte in ihren Sachen nach etwas Ordentlichem zum Anziehen. Etwas, das für das bevorstehende Gespräch geeignet wäre, wenn sie schon nicht den üblichen Weg, mit Lebenslauf und schriftlicher Bewerbung, nutzen konnte. Anschließend lief sie nach unten. Sie wollte die Dame fragen, wie sie in die Stadt käme und wann der entsprechende Zug fuhr.

Nach fast einer Stunde Fahrtzeit war sie endlich angekommen. Sofort fühlte sie sich unwohl. Es war fürchterlich laut und stressig, und es gab kaum Luft zum Atmen. Marie quälte sich ungefähr fünfzehn Minuten durch dichtes Gedränge, bevor sie vor dem Eingang des Kaufhauses Morten stand. Die vielen Menschen überall verunsicherten sie. Mit zittrigen Knien und ziemlich blass um die Nase fuhr sie die Rolltreppen bis in den vierten Stock hinauf. Sie war sehr froh über diese Beförderungsart – die Enge in einem Fahrstuhl hätte sie nicht verkraftet.

Hinter der letzten Glastür lag ein langer Flur, an dessen Ende ein Schild mit der Aufschrift Personalbüro stand. Den Namen Herr Strack – Personalleiter fand sie schließlich zwei Türen weiter.

Noch einmal holte Marie tief Luft und strich den Rock glatt, bevor sie an die Tür klopfte.

»Ja, herein, bitte«, kam eine Stimme von drinnen.

Marie straffte sich und öffnete mit leicht zittriger Hand die Tür zum Büro.

»Guten Tag, Herr Strack. Ich komme wegen Ihrer Anzeige im Regionalblatt. Sie suchen eine Verkaufshilfe und ich würde gerne bei Ihnen anfangen. Ich weiß, dass Sie normalerweise eine schriftliche Bewerbung wünschen, aber das …«

Plötzlich wusste Marie nicht weiter und eine leichte Röte überzog ihre Wangen.

Herr Strack schien sichtlich amüsiert. Oder war er beeindruckt? Nun, zumindest lächelte er.

»Setzen Sie sich bitte, Frau? Wie darf ich Sie ansprechen?«

Marie errötete noch ein wenig mehr. »Entschuldigen Sie, ich bin Marie, Marie Weber.«

»Gut, Frau Weber. Haben Sie denn einen Lebenslauf mitgebracht, damit ich mir ein Bild von Ihnen und Ihren beruflichen Kenntnissen machen kann?«

Marie bemühte sich, nicht auf den Boden zu schauen, während sie antwortete: »Nein, es tut mir leid. Ich habe keine Vorkenntnisse, ich war im Internat und …«

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Aber ich kann alles lernen, ganz bestimmt!«

Herr Strack war ein sensibler Mensch, auch wenn er das in seinem Job nicht zu sehr zeigen durfte. Prüfend, aber nicht unfreundlich, schaute er Marie an. Sie machte auf ihn einen verletzlichen Eindruck und er ahnte, dass ihr der direkte Weg hierher bestimmt nicht leicht gefallen war. Das rührte ihn irgendwie. Seine Menschenkenntnis sagte ihm, dass er dieser zurückhaltenden, jungen Frau eine Chance geben sollte. Auch wenn er gewisse Bedenken hatte. Ob sie dem rauen Betriebsklima im Backshop standhalten würde? Aber davon sagte er ihr nichts.

»Okay, Frau Weber, wir versuchen es miteinander. Kommen Sie bitte am Montag früh, um acht Uhr, in mein Büro. Ich werde Sie direkt ins Geschäft bringen und Herrn Braun, dem Abteilungsleiter der Bäckerei, vorstellen. Die Arbeitskleidung bekommen Sie von uns gestellt. Bitte besorgen Sie sich zeitnah noch ein Gesundheitszeugnis. Das Vertragliche regeln wir ebenfalls am Montag. Haben Sie noch Fragen?«

Marie schüttelte verneinend den Kopf. »Gut, wir sehen uns nach dem Wochenende. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Frau Weber, und bedanke mich für Ihren Mut, hier persönlich zu erscheinen.«

Freundlich lächelnd schüttelte Herr Strack ihr die Hand und begleitete Marie zur Tür.

Marie strahlte vor Erleichterung und ein großer Stein fiel ihr vom Herzen. Sie verabschiedete sich mit einem herzlichen Danke.

Ein schönes Gefühl, dachte Marie und sie war unheimlich stolz auf sich selbst. Erst lief sie von ihrem Zuhause fort, das keines gewesen war, und nun hatte sie sich durch die Menschenmassen getraut und beim ersten Anlauf einen Job bekommen. Fast hüpfend und neugierig auf ihren neuen Arbeitsplatz bummelte sie zur Bäckerei. Dort angekommen, schaute sie sich verstohlen um und kaufte übermütig gleich einen ganzen Kuchen. Diesen wollte sie zur Feier des Tages zusammen mit der Pensionsbesitzerin genießen. Dass sie ein unangenehmes Bauchziehen bekam, während sie den Kuchen kaufte, versuchte Marie zu ignorieren. Mutig und glücklich schlenderte sie durch das Gewimmel der Stadt zurück zum Bahnhof und fuhr schließlich zur Pension.

»Hallo, wo sind Sie?«, rief Marie, während sie durch ihr derzeitiges Zuhause lief. Marie fand die Hausherrin draußen am Kräuterbeet, das hinterm Haus angelegt war. »Da sind Sie ja, ich habe Kuchen mitgebracht und würde diesen gerne mit Ihnen teilen, wenn Sie möchten. Ich war gerade in der Stadt und habe eine Arbeit gefunden. Montag fange ich bereits an.«

Die Frau schaute lächelnd zu Marie und meinte: »Das ist ja wunderbar, Fräulein Marie, dass Sie das geschafft haben. Ich bewundere Ihren Mut und setze mich gerne zu Ihnen. Ich werde uns schnell einen frischen Kaffee aufbrühen.«

Sie tätschelte Marie liebevoll die Schulter und schlurfte davon.

Marie setzte sich auf die Bank hinterm Haus und schaute glücklich in die Weite der Natur vor sich. Wo war denn ihr Vogel? Fast hatte sie sich schon an ihn gewöhnt.

Seltsam, die Wirtin hatte eben ihren Mut angesprochen, doch woher wusste sie denn, dass es für Marie Mut erforderte, in die Stadt zu gehen? Irgendwie eigenartig war diese Frau schon, aber instinktiv wusste sie, dass sie keine Angst vor ihr haben musste. Eigenartig war sie doch selber, dachte sie schmunzelnd. Oder sonderbar, wie viele Leute sie immer betitelt hatten. Sonderbar war noch der freundlichste Begriff von allen. Von Hexe über Hure, Flittchen, Verrückte bis Bekloppte war alles dabei. Sie hatte nie verstanden, warum alle Ehefrauen der Umgebung scheinbar Angst um ihre Männer hatten, wenn Marie aufgetaucht war, als ob sie diese verführen würde. So ein Blödsinn! Bei dem Gedanken schaute Marie eher ärgerlich und verwirrt aus. Männer waren für Marie doch gleichbedeutend mit Schmerz, Angst und Ekel. Daher ging sie sicherheitshalber allen Menschen aus dem Weg.

Marie war so in Gedanken versunken, dass sie etwas erschrak, als die Pensionsbesitzerin mit dem Kaffee zurückkam. Das duftende Getränk stand vor ihr auf einem mit Blumen geschmückten Tisch. Der Kuchen war bereits angeschnitten und diese Frau saß da und lächelte Marie freundlich an.

»Marie, so darf ich Sie doch nennen?« »Ja, natürlich.«

»Sie können mich Minnie nennen, damit Sie nicht ›Hallo Sie‹ rufen müssen«, meinte die Dame zwinkernd. »Wir haben also heute etwas zu feiern. Sie haben einiges geschafft, das ist gut so.«

Marie nahm einen Schluck von dem wunderbar duftenden Kaffee.

Schließlich antwortete sie: »Ja, und ich fange schon Montag an, der Personalchef war wirklich sehr freundlich. Obwohl ich nichts an Berufserfahrung vorzuweisen habe, gibt er mir trotzdem eine Chance, das finde ich wirklich nett von ihm.«

»Das finde ich auch. Und wie war es in der Stadt?«

»Oh, das war fürchterlich laut und voll. Die Luft stickig und so viele Menschen. Ich bin, glaube ich, kein Stadtmensch«,

meinte Marie mit entschuldigendem Schulterzucken. »Aber ich habe im Moment keine andere Wahl, ich muss ja Geld verdienen!«

Schon wieder dieses komische Bauchgefühl. Marie schob es darauf, dass sie vielleicht zu viel Kuchen gegessen hatte.

Minnie nickte verstehend und meinte: »Ich mag das Gewühl in der Stadt auch nicht so besonders, irgendwann sind mir die Menschen fremd geworden. Ich bin kein Menschenfeind, nein, ganz und gar nicht, aber mir sind die Menschen zu kompliziert geworden. Mir kommt es auch so vor, als würde es immer mehr Oberflächliche geben. Aber vielleicht täusche ich mich. Viele sagen doch gar nicht, was sie denken. Definieren sich über Geld und Macht und verlieren dabei ihr eigenes Ich, ohne es überhaupt zu bemerken. Da es von dieser Art viele gibt, befinden sie sich in bester Gesellschaft. Irgendwann war es für mich fast unerträglich und ich entschied mich, in und mit der Natur zu leben. Ja, nun bin ich schon seit über dreißig Jahren hier, mein Kind. Hier werde ich auf meine alten Tage auch bleiben!«

Minnie hatte einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht und doch lächelte sie leicht, während sie sprach.

Marie war verblüfft. So hatte sie noch niemals jemanden reden hören. Es klang so ehrlich. Marie ahnte, dass auch in Minnies Leben wohl nicht immer alles so einfach war. Dabei klang es überhaupt nicht verbittert. Außerdem sprach diese Frau mit ihr, als wenn sie ganz normal wäre. Minnie schien sie ernst zu nehmen. Das war für Marie ein neues Gefühl. Sie fing an, die Frau zu mögen, was ihr eigentlich Angst machte. Es war nicht gut, jemanden zu mögen.

Verdammt Marie, lass das bloß sein. Immer wenn du jemanden gern hattest, wurdest du nach Strich und Faden verarscht. Oder man hat dir richtig wehgetan. Marie wusste nicht mehr, wie Vertrauen funktionierte. Sie versuchte, sich mit aller Macht gegen dieses Gefühl zu wehren. Sie könnte Minnie ja nett finden, aber bloß keine Gefühle investieren.

»Minnie, ich möchte Sie etwas fragen. Woher wussten Sie, dass ich in der Stadt Mut brauchte? Ich hatte nun schon öfter das Gefühl, dass Sie etwas wissen, was eigentlich gar nicht sein kann. Aber vielleicht spinne ich auch wieder.«

Minnie lächelte und sagte: »Nein mein Kind, du spinnst überhaupt nicht! In meinem Alter weiß man manche Dinge einfach so. In gewisser Weise kann ich es vielleicht erfühlen oder sehen. Weißt du, mein Leben hier draußen und auch meine vorherigen Erfahrungen haben mich viel gelehrt. Besonders auch über die Menschen. Was ich bei dir sehe, du bist ein hübsches und sehr liebenswertes Mädchen. Ich weiß, dass dir Menschen sehr wehgetan haben. Sei dir sicher, du bist keine Spinnerin!«

Marie war sprachlos und sie spürte einen dicken Kloß im Hals. Woher wusste diese Frau von ihrem Schmerz? Sah man ihr das wirklich an? Wieso waren daheim alle so grausam gewesen? Wieso war hier alles anders? Sie war den Tränen nahe, weil noch nie jemand so nette Worte zu ihr gesagt hatte. Ihr Vater, ja, der hatte es ihr mal zugeflüstert. Doch das war lange her. Sie war verwirrt, da sie einerseits das unbändige Verlangen hatte, einmal alles zu erzählen, und gleichzeitig war da die unglaubliche Angst. Angst, doch wieder verhöhnt zu werden. Angst davor, die eigenen Gefühle nicht ertragen zu können. Minnie strahlte so viel Ruhe und Frieden aus, bestimmt war sie total lieb und doch traute sich Marie nicht, über ihren Schmerz zu sprechen. Mehr als ein schlichtes Danke kam nicht über ihre Lippen. So saßen sie einfach noch eine Weile dort und genossen die Stille, während Marie versuchte, Ordnung in ihr inneres Chaos zu bringen.

Nach einiger Zeit stand Minnie auf.

»Marie, gutes Kind, ich muss mich noch ein wenig um meine Kräuter kümmern. Wenn du magst, kommst du einfach nach hinten. Habe keine Scheu, du störst mich nicht. Ruhe habe ich hier doch immerzu.«

Im Vorbeigehen strich sie Marie kurz über die Wange. Minnie spürte, wie die junge Frau leicht zusammenzuckte, was sie nicht erstaunte. Maries ganze Körpersprache verriet viel. Obwohl sie anmutig und leichtfüßig lief, wirkte sie wie ein scheues Reh. Jederzeit zum Sprung bereit. Während Minnie dabei war, ihre Kräuter zu gießen, überlegte sie, ob es möglich sein würde, Marie zu helfen. Ihr zu zeigen, dass nicht alle Menschen gleich sind. Irgendwann bemerkte sie, dass die junge Frau sie beobachtete.

»Komm gerne her. Wenn du möchtest, zeige ich dir meine Kräuter.«

Marie kam langsam, fast zögernd, näher.

»Morgen werde ich welche ernten, ich verkaufe sie hier in der Umgebung auf dem Markt. Schau, das hier ist Salbei, daneben wächst der Baldrian. Hier ist Blutwurz, eine wunderbare Heilpflanze. Dort vorn beginnt schon das Johanniskraut zu blühen. Petersilie, Dill, Majoran und weitere Küchenkräuter. Der große Strauch dort hinten ist Zitronenmelisse. Sie riecht so schön. Komm, lass uns mal hingehen.«

Marie tat es Minnie gleich und schnupperte an den Blättern der Pflanze. Wirklich angenehm. Wofür diese wohl gut sein mag?

Minnie erzählte weiter: »Man kann sie bei Asthma sowie bei Problemen mit Magen und Darm einsetzen, aber auch fürs Herz ist sie gut. Auf dem Markt geht sie weg wie warme Semmeln und die Apotheke im Ort nimmt mir auch häufig Kräuter ab. Sie verarbeiten diese zu Teeaufgüssen.«

»Oh, das ist ja schön«, meinte Marie. »Lebst du denn nur vom Kräuterverkauf und von der Zimmervermietung?«

Marie wurde etwas rot, als sie bemerkte, dass sie die Frau geduzt hatte.

»Ja, Marie, ich lebe nur von diesen Einkünften, aber ich brauche ja nicht viel. Ich baue mein Gemüse an und Brot backe ich ebenfalls selbst. Beim alten Kurt, ein Bauer hier in der Gegend, bekomme ich hin und wieder mein Fleisch und er erhält dafür Kräuter und selbst gemachten Kuchen. Das funktioniert ganz gut. Nur mein Haus macht mir etwas Sorgen. Es müsste mal wieder renoviert werden und das Dach sollte ausgebessert werden. Aber, kommt Zeit, kommt Rat, sage ich immer. Marie, ich fände es schön, wenn du mich duzen würdest.«

Dabei zwinkerte sie Marie schelmisch zu.

»Minnie, ich möchte mich für vorhin entschuldigen. Ich glaube, ich habe etwas blöd reagiert, als du … also, als du mir so über … über die Wange gestreichelt hast.« Mist, warum muss ich jetzt stottern? Marie ärgerte sich über ihre Reaktion. »Es ist nicht so, dass ich es nicht mag oder so, es hat nichts mit dir zu tun. Nimm es bitte nicht persönlich. Ja?«

Verlegen schaute sie in die Ferne, wohlwissend, dass sie dadurch abweisend wirkte. Marie wollte nicht verletzen, aber sie hatte sich so sehr in ihre eigene Welt zurückgezogen, dass es ihr schwerfiel zwischenmenschliche Beziehungen zuzulassen. Dabei mochte sie diese mütterlich wirkende Frau. Bei ihr fühlte es sich irgendwie so an, als könnte man ihr tatsächlich vertrauen. Marie drehte sich zu Minnie um und sah, wie diese sie liebevoll anlächelte.

»Kindchen, mach dir keine Gedanken darum. Ich nehme es dir weder übel noch habe ich es persönlich genommen. Ich denke, du bist es nicht gewöhnt, so berührt zu werden und dass es auch eine schöne Art der Berührung geben kann.«

Marie schwieg. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Minnie akzeptiere ihr Schweigen. Dunkle Wolken zogen auf.

»Komm Marie, lass uns ins Haus gehen, es scheint ein Gewitter auf uns zuzukommen, außerdem möchte ich das Abendessen vorbereiten.«

Etwas später saßen sie in der Stube am Tisch und aßen Hühnerfrikassee. Es schmeckte köstlich. Stumm lauschten sie dabei dem kurzen Gewitter. Anschließend in ihrem Zimmer, sah sie noch etwas fern. Als Marie im Bett lag, dachte sie an ihre neue Arbeit. Sie spürte ein unangenehmes Kribbeln im Bauch. Marie versuchte, die Aufregung, die die Regie übernehmen wollte, beiseitezuschieben. Doch die Müdigkeit gewann und sie schlief kurz darauf ein.

Das Wochenende verbrachte sie viel in der Natur. Marie saß stundenlang unter dem wunderschön blühenden Kirschbaum und hing ihren Gedanken nach. Grüblerische wechselten sich mit Hoffnungsvollen ab. Am Sonntagnachmittag brachte sie Minnie einen großen Strauß wild gewachsener Blumen mit. Marie wollte ihr damit eine kleine Freude machen und sich bei Minnie für ihre Freundlichkeit bedanken.

Ein Strahlen huschte über das Gesicht der alten Frau.

Gerührt schaute sie Marie an und sagte: »Dankeschön, du machst mich sehr glücklich mit diesem wunderschönen Strauß. Es ist jetzt schon einige Jahre her, dass mir jemand Blumen geschenkt hat. Ich stelle ihn schnell ins Wasser und hinterher habe ich für uns einen leckeren, frischgebackenen Kuchen. Du magst doch Apfelkuchen?« Marie fühlt sich wohl wie schon ewig nicht mehr, nur wenn sie an den nächsten Morgen dachte, an die Stadt und die Arbeit, schlich sich ein seltsames Unbehagen in ihren Bauch.

Vom Falken getragen Teil 1

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