Читать книгу Vom Falken getragen Teil 1 - Stefanie Landahl - Страница 5

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Auf eigenen Füßen

Es war erst vier Uhr morgens, erschöpft und durchgeschwitzt wachte Marie auf. Sie hatte konfus geträumt. Was sollte sie nun mit der noch übrigen Zeit anfangen? Sie musste ja erst um halb sieben los. Doch an schlafen war nicht mehr zu denken. Erst mal unter die Dusche. Während das Wasser auf sie niederprasselte, gingen ihr Bilder des Traumes durch den Kopf. Beängstigende, vertraute Szenen und doch irgendwie unlogisch. Alte Erinnerungen tauchten in einer Bäckerei auf.

Frisch geduscht und fertig angezogen, stand Marie unschlüssig in ihrem Zimmer herum. Sie sollte etwas frühstücken, aber sie hatte überhaupt keinen Appetit. Ihr war nicht wirklich wohl. Der Bauch grummelte und sie hatte schmerzhafte Krämpfe. Sie hoffte, dass sie nicht noch Durchfall bekäme. Schließlich musste sie später noch eine Weile mit der Bahn fahren. Bei dem Gedanken daran fühlte sie sich nicht besser.

Marie lief hinunter in die Küche, um sich einen Kräutertee aufzubrühen. Sie entschied sich für eine Mischung aus Fenchel und Melisse. Der würde ihrem aufgewühlten Bauch hoffentlich guttun. Marie bemühte sich, leise zu sein, um die Pensionsbesitzerin nicht aufzuwecken, aber es war zu spät! Minnie schlurfte bereits in die Küche. Sie sah noch etwas müde aus, die Haut grau, die Falten ein wenig tiefer, aber die Augen blickten hellwach und liebevoll Marie an.

»Guten Morgen, mein Kind. Du bist aber früh auf.«

Marie meinte entschuldigend: »Guten Morgen. Jetzt habe ich dich doch geweckt, das tut mir leid. Ich wollte mir nur schnell einen Tee brühen. Mein Bauch spielt etwas verrückt.«

Minnie antwortete lächelnd: »Ich bin meistens so früh wach, kein Grund zur Sorge. Marie, Kind, ist alles in Ordnung? Du schaust blass aus. Was ist mit deinem Bauch, macht der Darm Alarm?«

Kaum hatte sie die Worte gesprochen, schauten sich die zwei Frauen an und prusteten vor Lachen los. Marie wiederholte kichernd: »Macht der Darm Alarm? Minnie, das ist der Kracher.«

Minnie wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Ernsthaft, soll ich dir mal die Hände auflegen? Du wirst sehen, das wirkt Wunder.«

Marie schaute sie skeptisch an, das sollte ihr helfen? Zögernd nickte sie. »Klar, warum nicht? Ich habe noch Zeit und vielleicht tut es mir ja gut.«

Gemeinsam gingen sie in Maries Zimmer. Minnie bat Marie, sich auf das Bett zu legen, nahm sie sich einen Stuhl und setzte sich daneben. »Marie, hab keine Angst, vertrau mir. Schließe bitte deine Augen und genieße einfach nur die Ruhe. Ich werde jetzt meine Hände auf deinen Bauch legen und nichts mehr sagen. Solltest du einschlafen, wäre das nicht schlimm. Ich wecke dich rechtzeitig, damit du nicht zu spät zur Arbeit kommst.«

»Okay,« murmelte Marie etwas angespannt.

Nicht wissend, was denn nun auf sie zukommen würde. Und Körperkontakt. Aber vor Minnie brauche ich ja keine Angst zu haben, dachte sich Marie.

Es wurde mit einem Mal ganz wohlig in ihrem Bauch, fast so, als würde ihr Körper von einer angenehmen Wärme durchzogen werden. Vor ihren Augen – obwohl sie diese geschlossen hielt – sah sie Farben. Warme Farben. Plötzlich sah sie ihn. Da war er wieder, ihr Falke. Als würde er ihr direkt gegenübersitzen und sie anschauen. Er war ganz ruhig. Wellen von Wohlgefühl durchfluteten nun Maries Körper. Plötzlich wurden ihre Wangen nass. Komisch, sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie weinte. Schließlich schlief sie ein.

»Hey, Marie, du musst jetzt aufstehen. Es ist sechs Uhr und du möchtest bald los.« Vorsichtig tippte Minnie die junge Frau an.

Marie blinzelte, reckte und streckte sich und murmelte: »Oh, bin ich doch eingeschlafen? Ich habe das gar nicht mitbekommen. Da waren so viele hübsche Farben und dann träumte ich wohl von … von einem Falken.«

Sie setzte sich auf und Minnie fragte sie nach ihrem Befinden. »Ich habe noch immer ein wenig Angst vor der neuen Arbeitsstelle, ohne dass ich wüsste, warum. Aber meinem Bauch geht es hervorragend. Was hast du nur gemacht, Minnie? Wie hast du das gemacht?«

Minnie zwinkerte ihr zu. »Marie, du musst dich jetzt fertig machen und vielleicht noch etwas essen. Eines Tages werde ich es dir möglicherweise erzählen. Jetzt ist nur wichtig, dass es dir wieder gut geht, damit du gestärkt losgehen kannst.«

Marie wusste nicht, dass Minnie die ganze Zeit an ihrem Bett gesessen hatte. Still hatte sie das Mädchen in ihrem Schlaf beobachtet. Gern hätte sie Marie die Tränen weggewischt, hielt sich jedoch zurück, um sie nicht zu wecken. Das arme Ding hat so viel mitmachen müssen. Auch auf ihre alten Tage machte es Minnie noch traurig, und sie konnte einfach nicht verstehen, warum Menschen anderen so grausame Dinge antun konnten. Wo war denn deren Herz? Was hat sie so eiskalt gemacht? Sie war erbost darüber, dass es doch immer wieder verirrte oder vielleicht sogar böse Seelen gab. »Himmelherrgott«, fluchte sie leise. »Wieso kannst du hier zuschauen? Du hättest die Macht, es zu verhindern. Warum tust du es nicht? Gott oder Göttin, Allah oder starke Energie – ich brauche die Kirche nicht und doch glaube ich an eure Existenz. Doch manchmal möchte ich wissen, wo ihr seid, wenn sogar Kindern solche Gräueltaten angetan werden. Sie erinnerte sich an die weisen Worte, die einst ein alter Mann zu ihr sagte: »Gott hat den Menschen ein Gewissen gegeben, um es zu nutzen.«

Dank Minnies Behandlung, was auch immer das war, kam Marie ohne Zwischenfälle in der Stadt an und saß nun pünktlich, wie verabredet, im Büro von Herrn Strack. Sie erledigten den Papierkram und dann brachte der Personalleiter Marie hinunter in den Backshop. Marie versuchte, das erneut aufflammende Ziehen im Bauch zu ignorieren.

Herr Strack stellte Marie überall vor.

Er wandte sich an seine Mitarbeiter: »Hört her, seid nett zu ihr. Ich möchte keine Klagen hören, Frau Weber ist neu hier in der Stadt und sehr lernwillig, also steht ihr mit Rat und Tat zur Seite.« Zu Marie sagte er: »Wir sehen uns. Die Meute hier ist manchmal etwas rau im Ton, also erschrecken Sie nicht.«

Er zwinkerte ihr aufmunternd zu und verschwand hinter der dicken Eisentür.

Marie war aufgeregt und hätte sich am liebsten in einer Ecke verkrochen. So viel Aufmerksamkeit war sie nicht gewohnt. Auch wenn die Kollegen nett zu sein schienen, war es ihr unheimlich. Doch sie hatte diesen Job gewollt und sie brauchte ihn auch dringend. Mit einer flüchtigen Handbewegung strich sie sich eine Strähne ihres langen Haares aus dem Gesicht. Sie hoffte, dass keiner ihr Zittern sah. Im Backshop sprachen sich alle mit Vornamen an, sie reichte jedem die Hand und nannte den ihren.

Marie wurde einem Ingo an die Seite gestellt.

Er gab ihr einen Kittel, auf dem bereits ihr Name stand und meinte: »Okay, Marie, komm mal mit, ich zeige dir alles. Heute wirst du nur hinten in der Backstube sein, im Verkauf wäre vielleicht zu viel für den Anfang.«

Er zeigte ihr die Backöfen, die Arbeitsmaterialien und wo und wie sie den Teig anrühren, kneten und formen müsste. Anschließend verschwand Ingo nach vorn in den Laden. Ein hübsches Ding, dachte er sich.

In der Backstube war noch ein Mann, er stellte sich als Raimund vor. Höflich, wie Marie war, gab sie ihm die Hand. Er riecht unangenehm, stellte sie fest. Und wie er mich anschaut. Marie bekam eine leichte Gänsehaut bei seinen Blicken, auch ihr Bauch meldete sich wieder verstärkt. Sei nicht blöd, Marie, du hast ja schon eine Paranoia, schalt sie sich selbst. Mit dem missglückten Versuch eines Lächelns versuchte sie, ihre innere Stimme zum Schweigen zu bringen.

In den nächsten Stunden erledigte Marie ihre Arbeit, wie ihr aufgetragen wurde. Es war eine schwere körperliche Tätigkeit, und trotzdem fand sie schnell ihren eigenen Rhythmus, doch die Aufregung blieb bestehen. Krampfhaft bemüht, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken, füllte Marie die Zutaten in den Teigmischer, im Anschluss wurde geknetet und geformt, je nachdem, was es werden sollte. Am meisten wurden Brötchen gebacken. Manche Teige wurden auch angeliefert und mussten nur noch in Ofen geschoben werden. War etwas fertig, wurde es in den Laden gebracht.

Verstohlen wischte sie sich mit einer Serviette den Schweiß von der Stirn. Ingo kam gerade in die Backstube und zwinkerte ihr aufmunternd zu. Lachend fuhr er mit einer Hand über seine Stirn und wischte sich den imaginären Schweiß ab. Danach schüttelte er seine Hand und stieß stöhnend die Luft aus. Im Laden war der Teufel los. Die Kunden standen wie so oft Schlange. Oje, hoffentlich bekomme ich im Laden das auch alles hin? Ihr wurde ein bisschen mulmig bei dem Gedanken.

Obwohl ihr alles immer leichter von der Hand ging, wurde sie zunehmend unruhiger. Der Grund war Raimund. Wenn er ihr zeigte, wie eine Arbeit zu verrichten war, schien er den Körperkontakt zu suchen. Beim Teig ausrollen zum Beispiel, stand er dicht an Marie gedrängt. Sie konnte ihm nicht ausweichen, stand eingepfercht zwischen ihm und dem Arbeitstisch. Beklemmung machte sich breit. Am liebsten wäre sie jetzt klein wie ein Mäuschen und in der Lage, sich einfach wegzuducken, hinein ins nächste Mauseloch. Marie wurde ein wenig übel – er stank so entsetzlich. Ihre Hände begannen leicht zu zittern und sie verspürte den Drang, sich einfach umzudrehen, ihre Sachen zu schnappen und wegzulaufen.

Raimund bemerkte ihre Unsicherheit. Er sah sie mit einem lüsternen Blick an, streifte langsam mit seiner Hand ihre Brust und drückte seinen Unterkörper noch ein wenig mehr gegen sie.

Dazu grinste er frech und sagte: »Upps, sorry Marie, ich wollte ja, eigentlich, nur nach der Butter greifen. Eigentlich.«

Er zwinkerte Marie zu und fuhr sich mit der Zunge genüsslich über seine Lippen.

Marie konnte ihn nicht anschauen, sie suchte verzweifelt einen Ausweg. Das Gefühl in ihrer Brust drohte sie zu zerquetschen und ihre Atmung wurde immer hektischer. Ihre Übelkeit nahm drastisch zu. Sie ließ den Teig fallen und rannte zur Toilette und übergab ihren ganzen Ekel dem Toilettenbecken. Infolgedessen lehnte sie mit geschlossen Augen ihre Stirn an die kühlen Kacheln, während sie versuchte, das heftige Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Am liebsten würde sie sofort zu Minnie fahren, in die Ruhe und Sicherheit der Pension flüchten. Aber sie musste wieder rein, sie brauchte doch das Geld! Verdammt.

Mit fahlem Gesicht stand sie einige Minuten später wieder brav am Backtisch. Zum Glück kam ihr Raimund nicht mehr ganz so nah, hatte er ihre Abneigung mitbekommen? Er sah irgendwie schuldbewusst aus. Oder bildete ich mir das nur ein? Vielleicht bilde ich mir das sowieso alles nur ein? Vielleicht war er gar nicht so nah an mir dran? Vielleicht war das Streifen meiner Brust wirklich ein Versehen?

Oh Mann, Marie, hoffentlich wirst du nicht doch noch verrückt, dachte sie angstvoll.

Der Rest des Vormittags verlief ohne weitere Zwischenfälle. Stupide und wortkarg verrichtete Marie ihre Arbeit, froh darüber, wenn sie keiner ansprach. Sie hatte das Gefühl, dass die Zeit überhaupt nicht verging, langsam schlichen die Zeiger der Uhr zum ersehnten Feierabend. Als es endlich so weit war, zog sie sich schnell um, verließ fluchtartig die Bäckerei und das Kaufhaus. Marie war vollkommen erledigt und hatte nur noch einen Wunsch, schnell nach Hause zu fahren.

In der Pension angekommen, sagte sie zu Minnie, dass sie sich erst mal hinlegen wolle. Sie wäre zu erschöpft vom ersten Tag. Minnie nickte verständnisvoll und wünschte ihr eine gute Erholungspause. Sie hatte eigentlich immer für alles Verständnis, stellte Marie erleichtert fest. Und schloss die Tür ihres Zimmers.

Irgendwann wurde Marie wach. Im ersten Moment wusste sie zunächst nicht, wo sie war, welcher Tag heute war und ob es nun morgens oder nachmittags war. Noch etwas benommen warf sie einen Blick auf den Wecker, welcher auf dem Nachttisch stand. Jetzt fiel es ihr wieder ein – es war Montag und ihr erster Arbeitstag lag hinter ihr. Obwohl sie ein wenig geschlafen hatte, war sie erschöpft.

Ein angenehmer Duft stieg Marie in die Nase. Sie roch Kaffee. Sie entdeckte, dass auf dem Tisch eine Kaffeekanne und eine Tasse standen. Marie hatte gar nicht mitbekommen, dass jemand im Zimmer war. Minnie musste es irgendwann ganz leise abgestellt haben, stellt Marie erstaunt fest. Sie war froh, dass sie diese liebevolle Frau kennengelernt hatte. So umsorgt wurde sie noch nie in ihrem Leben - jedenfalls konnte sie sich nicht daran erinnern. Sie nahm den Kaffee mit auf den Balkon und trank ihn dort in aller Ruhe. Hinterher ging sie hinunter, um sich bei Minnie zu bedanken. Diese war bereits bei den Vorbereitungen fürs Abendessen.

»Hallo Marie, wie war denn dein erster Arbeitstag? Magst du mir vielleicht davon erzählen?«

»Ach Minnie, ich weiß nicht, was ich dir da erzählen könnte, es war ganz okay, glaube ich.«

Minnie spürte, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, aber sie spürte auch, dass Marie nicht darüber reden wollte. Mit einem prüfenden Blick auf Marie beschloss sie, das Mädchen nicht weiter zu bedrängen.

Die beiden Frauen gingen noch eine Weile in den Garten und beobachteten, wie die Dämmerung sich herabsenkte, während sie dem abendlichen Konzert der Vögel lauschten. Anschließend aßen sie gemeinsam bei gemütlichem Kerzenlicht und plauderten über dies und das. So viel Harmonie kannte Marie nicht. Sie begann diesen Zustand zu genießen. Nach einiger Zeit wurde sie ruhiger und wirkte etwas in sich gekehrt. Sie hatte das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. In ihrem Zimmer versuchte sie mithilfe des Fernsehprogramms, ihrem unerklärlichen Sehnsuchtsgefühl zu entfliehen. Einigermaßen abgelenkt schlief sie schließlich ein.

Irgendwann in der Nacht wurde Minnie durch laute Schreie, begleitet von einem leisen Wimmern, geweckt. Erschrocken setzte sie sich auf und eilte nach oben zu Marie. Diese lag im Bett und schlug mit ihren Armen wild um sich. Ihre Sachen waren klitschnass und ihre Stirn mit kaltem Schweiß bedeckt. Sie schien einen fürchterlichen Albtraum zu haben.

»Sch … sch …, ganz ruhig Kleines. Es ist alles in Ordnung. Du hattest nur einen bösen Traum.«

Marie wimmerte wie ein Kleinkind und Minnie nahm sie einfach in die Arme. Sanft schaukelte sie hin und her und redete beruhigend auf das Mädchen ein. Noch lange blieb Minnie in dieser Nacht an ihrem Bett sitzen und hielt die Hand der verstörten, jungen Frau.

Als Marie wieder eingeschlafen war, schlurfte Minnie hinunter in die Küche, machte sich erst mal eine Tasse Tee und dachte abermals darüber nach, wie sie Marie nur helfen könnte. Irgendjemand musste für Marie da sein. Sie würde sich freuen, wenn die junge Frau hierblieb.

Gerne würde sie so lange wie nötig für Marie da sein. Es würde schon einen Grund geben, dass Marie genau hier gelandet war. Da war sich die Frau sicher. Sicher war auch, dass diese Arbeitsstelle nicht gut für Marie war, dachte Minnie weiter, während sie wieder zurück ins Bett schlüpfte.

Vom Falken getragen Teil 1

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