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1. Kapitel: 2009/2010 - der erste Rückfall
ОглавлениеIch bin zweiunddreißig Jahre alt, Ehefrau, Mutter, Kinderkrankenschwester. Ich habe anstrengende Jahre hinter mir, doch das vergangene Jahr war gut und hoffnungsvoll. Das gesamte Jahr lang habe ich meine Medikamente reduziert und nach und nach abgesetzt. Es war ein langer, beschwerlicher Weg, und ich war unglaublich stolz darauf, es geschafft zu haben. Meine Blutwerte waren bei den Kontrollen immer gut, und ich war unglaublich positiv eingestellt. Seit vielen Jahren wünschte ich mir eine Gesund-geworden-Party. In meinen Gedanken hatte ich bereits die Gästeliste komplett und freute mich auf das Frühjahr, wo ich gerne feiern wollte.
Ich begann, meinen Körper wieder zu lieben, der in den vergangenen Jahren durch das Kortison und die anderen Medikamente so verändert gewesen war. Ich nahm ohne weiteres Zutun ab und war nach acht Jahren wieder so schlank wie vor meiner Schwangerschaft. Das Schönste allerdings war, endlich wieder mein eigenes Gesicht zu haben. Denn ich sah bis zu diesem Zeitpunkt Wassereinlagerungen darin und erkannte mich nicht recht als mich selbst. Natürlich sah ich mittlerweile älter aus, doch ich fand noch keine Falten um die Augen, und mir gefiel die Reife, die ich nun im Spiegel sah. Ich kleidete mich neu ein, begann damit, öfter enge, wunderschöne Kleidung zu tragen, kaufte mir Schuhe mit hohen Absätzen und war richtig glücklich. Meinem Mann Christian gefiel mein neues Selbstbewusstsein natürlich, und wir gingen häufiger allein aus. Auch meine Stimmung war gut. Ich konnte wieder von Herzen lachen und war in allen Lebenslagen entspannter. Mein Alltag gestaltete sich entspannter, denn ich war nicht mehr so abgeschlagen, konnte körperlich wieder viel mehr aushalten. Mein Arm schmerzte bei Belastung nicht mehr so schnell. Endlich konnte ich wieder längere Zeit schwimmen, wir gingen klettern, radelten viel, und meine Familie musste fast keine Rücksicht mehr auf mich nehmen. Meine behandelnde Ärztin in der Klinik, Frau Dr. R., machte mir sehr große Hoffnung auf ein zweites Kind. Das war mein größter Wunsch. Nach dem Absetzen meiner Medikamente sollte ich bis zu sechs Monate warten, bis ich schwanger werden durfte. Mein Körper musste genug Zeit bekommen, um alle fötusschädigenden Substanzen abzubauen. Wir fingen bereits an, die Monate rückwärtszurechnen. Ich war so voller Hoffnung und Freude – nichts habe ich mir in den letzten Jahren sehnlicher herbeigewünscht, als gesund, also normal, zu sein, ein zweites Baby zu bekommen und einen Alltag ohne Medikamente zu leben.
Leider sollte es noch längst nicht so sein. Mein Rückfall ereignete sich kurz vor Weihnachten und riss mich so sehr aus der Bahn, wie ich es niemals erwartet hätte.
Es fing mit seltsamen Symptomen an, die allesamt laut Literatur nicht zum Krankheitsbild passen. Doch diese Symptome – über Nacht Pickel und Pustel am ganzen Körper, Müdigkeit, Hüftschmerzen, Schulterschmerzen, Kopfweh – hatte ich früher bei Schüben auch schon mal. Obwohl meine Blutwerte und auch der Ultraschall meiner Arterien zu Beginn nichts vermuten ließen, hatte ich stets eine kleine Stimme im Kopf, die mir sagte: „Es ist wieder da!“ Keiner glaubte mir, und mein Mann versuchte, mich zu beruhigen. Was ihm zeitweise auch gelang. Doch eine Woche vor Weihnachten ging es mir rapide schlechter. Ich bekam Fieber mit Schüttelfrost, konnte kaum mehr aufstehen, mir tat alles weh, und ich verlor extrem an Gewicht. Mein Mann, selbst Kinderkrankenpfleger, nahm mir am Wochenende zu Hause Blut ab, denn ich wollte Gewissheit haben und konnte nicht mehr bis Montag warten. Wir bestimmten einen Entzündungswert selbst, bei dem wir nur zwei Stunden beobachten mussten, wie schnell sich die festen Blutbestandteile absetzen. Bei der Höhe des Wertes sah ich meine Befürchtung schon fast bestätigt. Doch die Hausärztin glaubte am Montag eher an eine Infektion und schickte weitere Proben ins Labor. Der Heilpraktiker, der mir die vergangenen Jahre immer zur Seite stand und mir durch viele Infektionen ohne Antibiotika geholfen hat, vermutete bei mir die Schweinegrippe. Der Verdacht war insofern naheliegend, da es das Jahr der Schweinegrippe war und ich noch dazu in einer Hausarztpraxis arbeitete, wo zu dieser Zeit viele Patienten mit Schweinegrippe behandelt wurden. Doch außer einem kurzen Fieberschub am Wochenende hatte ich keinerlei passende Symptome. Ich musste nicht husten, litt nicht an Übelkeit und musste nicht erbrechen. Mit meiner Angiologin in der Klinik (Frau Dr. R.) besprach ich zunächst telefonisch meine Blutwerte. Sämtliche Entzündungswerte waren stark erhöht, und sie bat mich dringlich, meinen Zustand stationär abklären zu lassen. Es waren nur noch wenige Tage bis Weihnachten, und ich hätte ambulant keine Chance auf die nötigen speziellen Untersuchungstermine.
Als mein siebenjähriger Sohn Fabian von der Schule kam und ich ihm sagen musste, dass ich für ein paar Tage ins Krankenhaus müsste, hat er heftig geweint. Doch als er sich ein wenig beruhigt hatte, lief er in sein Zimmer, holte seinen kleinen Stoffaffen und steckte ihn mir in die Reisetasche. Den Affen lieh er mir immer, wenn ich von ihm fort ins Krankenhaus musste. Ich konnte damit dann in der Hand einschlafen und fühlte mich besser. Das wusste Fabian, und ich war sehr gerührt, dass er gleich daran gedacht hatte. Ich empfinde ihn stets als sehr starken Menschen, denn er kann mit Krisensituationen gut umgehen und möchte alles verstehen und erklärt bekommen. So half er mir erstmal weiter, alles in meine Tasche zu packen. Er dachte für mich mit, was ich alles benötigte. Als mein Mann von der Arbeit kam, die er früher abgebrochen hatte, fuhren mich beide in die Klinik. Ich war körperlich sehr schwach und hing am Arm meines Mannes, als wir in die Ambulanz kamen. Wir mussten zum Glück nicht lange warten, meine Angiologin nahm sich gleich Zeit für mich. Die erste Untersuchung war ein Ultraschall meiner Gefäße. Da sah man es: eine neue Engstelle, eine Stenose, an meiner Schlüsselbeinarterie. Meine Ärztin war genauso entsetzt wie ich. Zum Glück war mein Mann bei mir, denn allein hätte ich diesen Moment nicht durchgestanden. Ich lag auf der Liege, wartete auf ein Ergebnis, und nach minutenlangem Schweigen sagte meine Ärztin: „Da ist was Neues!“ Ich riss entsetzt den Kopf hoch und sah meinen Mann geschockt an. Es dauerte noch einige Minuten, bis meine Ärztin die Engstelle vermessen und mit den alten Ergebnissen verglichen hatte, doch endlich konnte ich aufstehen und meinem Mann in die Arme fallen. Ich weinte bitterlich. Vor mir zog ein Film ab, was nun wieder alles auf mich zukommen würde und welche Hoffnungen umsonst waren. Dieser Rückfall zerstörte augenblicklich all meine Träume von einer gesunden Zukunft, auf Normalität und auf ein weiteres Kind. Mein Mann nahm mich in die Arme und sagte: „Schieb jetzt keine Panik!“
„Wieso nicht?“, fragte ich ihn.
Er meinte nur: „Ja, du hast ja recht.“
Ich war so enttäuscht. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Ständig schoss ein Satz durch meinen Kopf: „Es lässt mich nicht los, es lässt mich einfach nicht los.“ Mein Mann war hilflos wegen meines Zusammenbruchs. So viele Jahre hatte er mich schon getröstet und mir Mut gemacht. Doch nun war auch er verzweifelt und ratlos. Dieser Rückfall bedeutete für ihn ebenfalls Schlimmes. Auch er wusste, was die medikamentöse Therapie für Wirkungen und Nebenwirkungen mit sich bringt, was es für unsere Familie wieder für Einschränkungen bedeutet. Und er war einfach sprachlos in dieser Situation. Doch dass er nichts weiter sagte, war nicht wichtig. Ich war einfach nur froh, ihn bei mir zu haben. Fabian sah natürlich, dass etwas nicht stimmte. Doch Christian sprach erst später mit ihm darüber – zu Hause in Ruhe.
Meine Familie brachte mich auf mein Zimmer auf der Station und verabschiedete sich dann von mir. Ich hatte noch einige Untersuchungen vor mir, und mein Mann wollte sich um Fabian kümmern, damit auch er die Situation versteht. Wir haben Fabian bereits vor langer Zeit erklärt, welche Art der Erkrankung ich habe, und er verstand es auch. Ich bin mir sehr sicher, dass er ebenfalls verstand, was dieser Rückfall nun bedeutete. Ich hoffte, dass meine beiden Jungs zu Hause zur Ruhe kommen konnten.
Ich hatte mehrere Aufnahmegespräche: mit dem Stationsarzt, dem PJler (praktisches Jahr während des Medizinstudiums) und bekam eine Menge Blut abgenommen. Den Stationsarzt kannte ich schon von einem früheren Krankenhausaufenthalt. Damals empfand ich ihn als unangenehm, überheblich und inkompetent. Doch er hatte sich zu einem guten, verständnisvollen Arzt entwickelt. Ich fühlte mich bei ihm in guten Händen. Er kam meinem Wunsch nach einem Schmerzmittel gleich nach und verordnete mir etwas Starkes. Bald darauf konnte ich annähernd schmerzfrei aufstehen und schlurfte langsam zur Pforte, um mein Telefon anzumelden. Ich musste dringend mit meiner Freundin Christine reden. Es war für mich so wichtig, sie zu hören, um diesen furchtbaren Augenblick mit ihr zu teilen. Sie hatte eigentlich gar keine Zeit und wollte unser Gespräch verschieben, da ihre Schwiegereltern gerade über Weihnachten zu Besuch gekommen waren. Doch ich musste sofort weinen und konnte gar nicht mehr sprechen. Sie war gleich ganz beunruhigt und fragte hektisch, ob etwas mit Christian oder Fabian passiert sei. Oder mit unserem Hund Nora. Als ich dann endlich wieder reden konnte und ihr alles erzählt hatte, versuchte sie, mich ein wenig zu beruhigen, und wollte gleich zu mir kommen. Doch es war ja kurz vor Weihnachten, ihr Besuch war schon eingetroffen, und ich wollte sie nicht aus ihren Erledigungen reißen. Ich sagte ihr, es täte bereits gut, sie zu hören und es ihr zu erzählen. Zwei Stunden später stand sie vor mir. Ich war unendlich froh. Sie nahm mich in die Arme und ließ mich einfach weinen. Ich konnte nicht mehr aufhören, und sie ließ es geschehen. Dass sie in diesem Moment einfach so für mich da war, vergesse ich ihr nie. Das tat so gut.
In meinem Zimmer lag noch eine ältere Frau. Sie war sehr nett, nur leider komplett überfordert von meinem vielen Weinen. Sie kannte meine Krankheit nicht und wollte sie mehrmals erklärt bekommen. Leider verstand sie nicht, dass für mich gerade die Welt unterging und dass ich bei meinem Mann, Christine und sogar bei meiner Ärztin immerzu weinte.
Am Abend telefonierte ich mit Christian und Fabian. Es ging beiden gut, sie machten sich einen ruhigen Abend und hatten für den nächsten Tag schon alles geregelt. Christian hatte meine Eltern informiert, die sich am Abend ebenfalls bei mir in der Klinik meldeten. Sie boten an, sich am nächsten Tag – dem letzten Schultag vor den Weihnachtsferien – um Fabian und unseren Hund Nora zu kümmern. Christian sagte auch der Lehrerin Bescheid, dass ich im Krankenhaus und er stets für sie erreichbar sei, falls Fabian den Schultag nicht schaffen sollte. Ich war erleichtert, dass er alles so wunderbar regelte. Das nahm mir viel Stress. Ich schrieb Fabian am Abend einen Brief, den ich Christian am nächsten Tag mitgeben würde. Das hatte er sich gewünscht. Ich beschrieb ihm den Tag im Krankenhaus, das Essen, die Leute – und das Ganze auf Zweitklasslineatur in korrekter Schreibschrift, damit er es gut lesen konnte.
Am Tag vor Weihnachten bekam ich am Vormittag ein PET, eine Computertomographie mit radioaktiven Kontrastmittel. Dafür musste ich nüchtern sein und durfte erst danach, also am späten Mittag, mein erstes Essen zu mir nehmen. Diese Untersuchung war wirklich anstrengend. Erst wird einem ein radioaktives Kontrastmittel gespritzt und dazu noch ein Medikament, das die Nierentätigkeit anregt, damit das radioaktive Material schnell wieder ausgeschieden wird. Auf diesen „Cocktail“ bekam ich extremes Herzrasen, und mir war entsetzlich zumute. Ich sagte der jungen Ärztin, dass es mir nicht so gut gehe. Diese jedoch meinte, ich sei nur aufgeregt, denn das Ganze könne überhaupt nicht von den Medikamenten kommen. Aha! Verstehe, dann bildete ich mir das ein. Dann sollte ich eine halbe Stunde ruhig liegen, um dem Kontrastmittel Zeit zu geben, sich im Körper zu verteilen. Allerdings musste ich bereits nach zehn Minuten dringend auf die Toilette. Als ich dann drankam, hieß es wieder stillhalten – dreißig Minuten lang. Dann kurz nochmal auf die Toilette und anschließend fünfzehn Minuten stillhalten. Danach war ich fix und fertig. Einfach nur ruhig daliegen kann furchtbar anstrengend sein. Man kann sich nirgends kratzen, und die Lage ist unbequem. Mir tat sowieso schon alles weh – und nun das. Meine Nerven lagen blank. Das Ergebnis zeigte die akut entzündeten Stellen an, was das Ultraschallergebnis also bestätigte. Doch es gab noch eine weitere Stelle in meiner Lunge und an meiner Leber. Das war gänzlich neu und sollte deshalb mit einem weiteren CT, diesmal mit jodhaltigem Kontrastmittel, am Nachmittag abgeklärt werden. Ich war müde und geschafft und sehr froh, als Christine mich erneut besuchte und zum CT begleitete. Ich konnte mich bei ihr einhängen und neben ihr herschleichen. Schleichen war tatsächlich der richtige Ausdruck, denn ich ging so langsam. Für einen Fünfminutenweg brauchten wir fast eine halbe Stunde. Schneller konnte ich nicht, es kostete mich zu viel Kraft.
Als wir beim CT warten mussten, kam Christian von der Arbeit zu mir, und ich konnte mich an ihn lehnen. Mir war plötzlich unheimlich schlecht, und ich wurde kreidebleich. Dieser Tag mit den vielen Untersuchungen war zu viel für meinen Kreislauf. Als ich drankam, durfte keiner der beiden mit in den Röntgenraum. Wieder einmal legte man mir eine neue Infusionsnadel – die zweite an diesem Tag. Die erste Nadel war durch ein Blutgerinnsel verstopft, als ich nach dem PET zurück auf die Station kam. Und meine zweite sollte auch nicht viel länger halten. Ich war frustriert – auf die Infusionsnadeln wurden immer wieder nur Stöpsel aufgeschraubt, doch niemand benutzte einen Mandrin (ein Stäbchen zum Verschließen, das ein Blutgerinnsel verhindert).Kein Wunder, dass sie alle gleich verstopften. Meine Arme waren schon ganz blau, und am Ende meines dreitägigen Krankenhausaufenthalts konnte ich vierzehn Einstiche zählen!
Bevor mir das Kontrastmittel gespritzt wurde, informierte mich der Arzt darüber, dass ich wahrscheinlich auf das Mittel mit einer kurzen Hitzewallung im ganzen Körper reagieren würde und ich vielleicht Herzrasen bekäme. Das sei aber normal, ich solle einfach ganz ruhig bleiben, das lege sich schnell wieder. Damit hatte er auch recht. Es legte sich schnell wieder. Dass man bei dieser Reaktion des Körpers aber nahezu Todesangst verspürt, noch dazu, wenn man ganz allein im Raum ist, hat mir keiner gesagt. Dieses Kribbeln, das vom Scheitel bis zur Sohle in Wellen durch einen durchrauscht, das Herz, das so fest schlägt, dass es regelrecht wehtut … Ich war völlig erledigt, als die Untersuchung beendet war. Nicht nur körperlich, sondern vor allem nervlich. Ich hatte wirklich schon die blödesten Untersuchungen in den vergangenen Jahren über mich ergehen lassen müssen, doch dieses Gefühl war mit Abstand das gemeinste.
Als Christian und ich nach dem CT zu zweit auf meinem Zimmer waren, konnten wir zum ersten Mal in Ruhe reden. Meine Bettnachbarin war zu einer Untersuchung abgeholt worden, und so waren wir allein. Ich fragte meinen Mann, ob er denn nicht auch verzweifelt sei. Er wirkte so ruhig und stark. Doch er sagte, er sei gestern Abend auch traurig und verzweifelt gewesen, nachdem er Fabian ins Bett gebracht und dann aufgeräumt habe. Ich weinte und sagte ihm, dass es schlimm für mich sei, ihn damit allein lassen zu müssen. Doch vermutlich ging es nicht anders. Christian macht alles mit sich allein aus. Die Zeit gestern Abend hatte er sicherlich für sich gebraucht. Auch für ihn änderte sich durch meinen Rückfall wieder enorm viel. Durch meinen körperlichen Zustand und vor allem auch durch die Medikamente, die ich nun erneut nehmen musste, wurde ich wieder labiler. Ich war jetzt bereits wahnsinnig schwach und langsam, und das würde die nächsten Monate so bleiben. Das bedeutete, dass ich wieder auf seine Hilfe angewiesen war. Er hatte in all den Jahren nie darüber geklagt. Und das tat er auch jetzt nicht. Er sorgte sich sehr um mich. Doch mein Zustand war für ihn eine zusätzliche Belastung – das brauchte man nicht zu beschönigen. Christian geht einer sehr anstrengenden Arbeit nach. Er ist ein sehr starker Mensch, und er war und ist mein großer Halt. Ich weiß, dass ich mit meinem Ehemann das große Los gezogen habe. Er ist immer bedingungslos für mich da und hilft mir, wo er kann.
Am Abend vor Weihnachten begann ich nach all meinen Untersuchungen mit der Hochdosis-Kortisontherapie(250mg). Am Weihnachtsmorgen erhielt ich die zweite Dosis und durfte dann nach Hause. Meine Angiologin Fr. Dr. R. hat sich großartig darum gekümmert, dass alle nötigen Untersuchungen noch vor Weihnachten erfolgten und entließ mich rechtzeitig in die Feiertage. Meine Eltern holten mich in der Klinik ab und brachten mich nach Hause. Als ich aus dem Auto stieg, kam eine befreundete Nachbarin zufällig mit ihrem Hund vorbei und grüßte mich. Einige Tage später rief sie mich an und erkundigte sich nach mir, da ich so schlecht ausgesehen hätte. Das fand ich unheimlich lieb. Sie sagte, ich hätte so blass ausgesehen, als ich aus dem Auto gestiegen sei und mich auf meine Eltern gestützt hätte, die meine Tasche trugen –zweifelsohne sei ich aus dem Krankenhaus gekommen.
Christian und Fabian richteten gerade alles für den Weihnachtsabend her und waren mitten im Baumaufstellen und Wohnungsaugen. Christian winkte mir mit dem Staubsaugerrohr durchs Fenster zu –da musste ich glatt mal lachen.
Drinnen packten mich meine Eltern gleich auf die Couch. Ich war wirklich schwach und müde. Fabian freute sich sehr, dass ich wieder daheim war, und machte für mich den Clown oder kuschelte mit mir.
Mein Schwiegerpapa Richard kam mittags zu uns, um mit uns Weihnachten zu feiern, und schmückte mit Fabian einen echt verrückten Baum. Ich schaute von der Couch aus zu und lachte mich kaputt über diesen wirklich kreativen Baum mit einem Mix aus Glitzerkugeln, Holzschmuck, Strohsternen, Silberschlangen und Filzschmuck. Richard hatte, da er allein lebt, sicher seit vielen Jahren keinen Christbaum mehr geschmückt, und Fabian und er hatten richtig viel Spaß dabei. So bunt und verrückt war unser Baum noch nie, sie packten einfach alles darauf, was sie in den Weihnachtskisten fanden. Natürlich war ich von dem Ergebnis begeistert und machte Fabian damit sehr stolz.
Der Weihnachtsnachmittag und der Abend waren sehr schön. Wir gingen mit Richard und den Nachbarn in die Kirche, und nach einem Spaziergang mit unserem Hund Nora kam das Christkind. Die Männer kümmerten sich toll um mich, ich musste nichts machen und wurde lieb umsorgt. Meine Familie hatte mir auch versprochen, dass sie, wäre ich nicht entlassen worden, bei mir in der Klinik gefeiert hätten. Sie hätten den Christbaum, Richard und alle Geschenke mitgebracht und sich dann zu mir ans Bett gesetzt. Wie lieb! Aber zu Hause war es doch gemütlicher. Ein wundervolles Weihnachtsgeschenk erhielt ich von der Station meines Mannes. Denn er bekam den geplanten Nachtdienst frei und konnte so die Nacht bei mir zu Hause verbringen. Mich abends in seinen Arm zu schmiegen und nicht allein einzuschlafen, war unbeschreiblich wohltuend.
Am nächsten Tag musste ich zu einer letzten Infusion ins Krankenhaus, und ab da ging es mit Kortisontabletten weiter. Fabian und Christian hatten Ferien, und wir versuchten immer wieder, etwas zu unternehmen. Doch nach fünfundvierzig Minuten machte ich jedes Mal schlapp und musste mich setzen. Das nervte mich selbst unglaublich. Schlagartig wieder so krank und schwach zu sein, machte mich wütend und traurig. Das hohe Kortison half natürlich bei trüber Stimmung überhaupt nicht. Im Gegenteil, es zog mich noch mehr runter. Es war schwierig für mich, bei vielem wieder Hilfe zu benötigen und vor allem darum zu bitten. Ich war stets ein sehr selbstständiger Mensch, und ich fühlte mich durch meinen schlechten Zustand stark eingeschränkt.
Es dauerte nicht lange, und die „ersehnten“ Nebenwirkungen des Kortisons traten auf. Ich bekam Heißhungerattacken, aß bis zu sieben Mal am Tag und ekelte mich dabei leider vor mir selbst. Ich war schon immer ein Mensch, der sehr auf seine Figur achtete und stolz darauf war. Zu manchen Zeiten hatte ich in meinen Gedanken schon leichte anorektische (magersüchtige) Züge. Nun drehte sich mein Tag dank des Kortisons permanent ums Essen. Aber nicht wie früher, um darauf zu verzichten, sondern ich fragte mich, was ich als Nächstes essen könnte Schrecklich. Ich kannte von früheren Kortison einnahmen, dass ich gar nicht zu versuchen brauchte , das Essen zwanghaft zu reduzieren. Denn dann war ich schnell im Unterzucker und stopfte erst recht alles in mich hinein. Natürlich nahm ich in kürzester Zeit massiv zu und lagerte auch viel Wasser ein. Meine Oberschenkel und mein Po waren prall vor Wasser und hatten richtige Dellen. Ich fand den Anblick schlimm. Wenn ich in die Hocke ging, taten mir die Beine weh, alles spannte und kniff, und schnell schliefen mir die Unterschenkel ein. Mir passten nur noch zwei meiner vielen, vielen Hosen. Doch ich weigerte mich strikt, mir neue zu kaufen. Ich wollte nicht sichtbar vor Augen haben, dass ich meine bisherigen Hosen nicht mehr tragen konnte. Eine weitere mir bereits bekannte Nebenwirkung war die permanente Unruhe. Ich wurde zappelig, zittrig, fahrig und nervös. Ich wollte immer mehrere Dinge gleichzeitig tun und konnte nicht bei der Sache bleiben. Mich auf etwas zu konzentrieren, war unglaublich schwierig für mich. Am liebsten tat ich immer drei Dinge auf einmal, was aber weiß Gott nichts mit weiblichem Multitasking zu tun hatte. Denn wenn ich, während ich Auto fahre, noch zusätzlich Kaffee trinke, nach einem Kaugummi suche und den Radiosender einstelle, dann bringt mich das eigentlich nur in Schwierigkeiten. Sobald mir so ein Zustand auffiel, zwang ich mich, nur noch Auto zu fahren und eben keinen Kaugummi zu essen und einen schlechten Radiosender zu hören. Oder auf eine rote Ampel zu warten. Naja, das ist nur ein Beispiel von vielen. In meinem Kopf herrschte oftmals das reinste Chaos. Häufig verdrehte ich durch meine hektische Art Sätze oder sprach Wörter falsch aus. Das fiel niemandem auf, eigentlich nur mir. Und doch war es mir unangenehm. Ich litt unter massiven Stimmungsschwankungen, die auf das Kortison zurückzuführen waren. Damit hatte ich schon gerechnet, all das war mir von den vergangenen Jahren nur allzu bekannt. Doch ich hatte Angst davor. Vor allem Angst davor, Fabian und Christian wieder ungerecht zu behandeln, unnötig unfreundlich und ungeduldig zu werden. Doch mein toller Mann hatte auch hierfür wieder vollstes Verständnis und bat mich, lieber alles an ihm auszulassen als an Fabian. Im Nachhinein glaube ich, habe ich es auch recht gut geschafft, Fabian mit meinen Stimmungen nicht allzu sehr zu konfrontieren. Es gelang mir sicher nicht immer, doch ich gab mein Bestes.
Meine Extremitäten begannen in Ruhe unwillkürlich zu zucken. Manchmal nur leicht, manchmal stärker. Ich habe dies nie mit Ärzten besprochen, denn diese Myoklonien sind sicher nur wieder eine Nebenwirkung, die nirgends in der Literatur zu finden sind. Aber ich hatte es – und es nervte. Man will schlafen und zuckt stattdessen. Ich schwitzte nachts stark und musste mich manchmal umziehen, weil mir richtige Bäche den Körper herunterliefen. Schlafen konnte ich wegen des Herzrasens ungefähr nur drei bis vier Stunden pro Nacht. Mein Herz fühlte sich immer wieder an, als würde es mir aus der Brust springen, und ich verspürte seltsame „Herzstolperer“ – sogar tagsüber. Auch das kannte ich schon von früher, damals bekam ich zur Kontrolle EKGs, bei denen nie etwas Auffälliges zu sehen war. Daher ließ ich es dieses Mal nicht untersuchen. Doch beängstigend war es trotzdem. Am schlimmsten war es, wenn mein Mann neben mir schlief und ich nicht schlafen konnte, mein Herz so pochte, dass ich es in den Ohren rauschen hörte, und es dann auch noch „stolperte“. Manchmal wollte ich dann überhaupt nicht mehr versuchen, einzuschlafen. Denn ich hatte Angst, dass ich am nächsten Morgen vielleicht nicht mehr aufwachte. Oft rutschte ich dann näher an meinen Mann, was mich immerhin etwas beruhigte. Logisch betrachtet war dies sicher eine unbegründete Angst, aber wer kann in einer solchen Zeit rationell denken und ein solches Gefühl außer Acht lassen? Ich konnte es nicht. Da half mir alles medizinische Fachwissen nichts. Ich fühlte einfach so. Später wurden die „Stolperer“, umso mehr ich das Kortison reduzieren konnte, immer seltener, und mein Puls war auch nicht mehr so hoch. Die Angst wurde dadurch ebenfalls wieder geringer.
In der Zeit, als ich kaum schlafen konnte, las ich nachts viel oder schaute haufenweise DVDs. Sämtliche „Sex andthe City“-Staffeln leisteten mir Gesellschaft. Manchmal putzte ich auch bis spät abends, da ich hoffte, dann einfach hundemüde ins Bett zu fallen. Ich sehnte tagsüber immer den Abend herbei, da ich mir im Schlaf Erholung erhoffte. Doch leider fand ich die nicht.
Kurz nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, fuhren wir nach Nürnberg zu Christians Bruder Marcus und seiner Frau Zsóka. Wir feierten Weihnachten nach mit ihren beiden Kindern Lena und Laura. Bei Zsóka brachen all meine Angst und meine Verzweiflung aus mir heraus. Ich weinte fürchterlich und konnte kaum mehr aufhören. Ich war mir sicher, an einem Punkt angekommen zu sein, an dem ich fest entscheiden müsse, wie mein weiteres Leben verlaufen solle. Ich dachte, ich müsse hier und jetzt sofort entscheiden, ob ich später, am Ende der Therapie, das Risiko einer weiteren Schwangerschaft auf mich nehme oder mich für immer von meinem ersehnten zweiten Wunschkind lösen solle. Nur so glaubte ich, zur Ruhe kommen zu können. Aber was dann? Ich wollte immer eine gute Mutter sein und bin mir nicht sicher, ob ich das geschafft habe. Ich wünschte mir, alles noch einmal besser zu machen. Und ich wünschte mir immer ein Haus voller Kinder. Was fange ich mit meinem Leben an, wenn ich nicht noch einmal Mutter werde? Wie geht es mit Fabian weiter? Wie lange braucht er mich noch? Irgendwann werde ich nicht mehr für ihn wichtig sein. Und dann? Wie geht es mit mir beruflich weiter? Ist mein „Werk“ erfüllt? Habe ich schon getan, wofür ich bestimmt bin?
Meine Psychotherapeutin, bei der ich seit fast zwei Jahren eine Gesprächstherapie machte, stellte mir eine unglaublich schwierig zu beantwortende Frage: „Sie glauben also, wenn Sie sich mit Gewalt das gewünschte zweite Kind aus dem Herzen reißen, dann geht es Ihnen besser?“ Ja, das dachte ich. Doch es hat nicht so ganz funktioniert. Ich erkannte, dass ich meine Entscheidung aufschieben kann. Das jetzt gar keine Entscheidung ansteht. Auch mein Mann bat mich, mich jetzt nicht unnötig unter Druck zu setzen. Für ihn war nicht der Zeitpunkt, dies zu besprechen und zu entscheiden.
Ich fühlte mich unglaublich hässlich und unansehnlich durch meine schnelle Gewichtszunahme und litt furchtbar darunter. Vor wenigen Monaten noch trug ich wunderschöne, sexy Kleidung. Nun wollte ich mich am liebsten verstecken. Traurig war ich auch über meine Haare, die ich mir kurz vor dem Rückfall hatte abschneiden lassen. Ich wünschte mir nun eine Frisur, die durch längere Haare meine vollen Wangen verdeckt und hinter der ich mich ein bisschen „verstecken“ konnte. Ich wusste, so scheußlich würde ich jetzt wieder lange Zeit aussehen. Das war ich einfach nicht. Doch Christian meinte, ich sähe nicht hässlich aus. Ich sähe krank aus. Man sähe mir einfach an, dass ich schwer krank sei.
Ich weiß nicht, ob er je gemerkt hat, wie sehr mir das geholfen hat. Ich versuchte, mich nun mit anderen, mit seinen Augen zu sehen. Früher wollte ich mich nie als krank bezeichnen, ich wollte immer normal sein. Rein äußerlich sieht man mir die Takayasu (bis auf das Kortison) auch nicht an. Bei diesem Rückfall akzeptierte ich zum ersten Mal die Rolle der Kranken und damit auch ein Stück weit mein Aussehen. Durch Christians Äußerung konnte ich wieder besser mit mir umgehen. Und er liebte mich nach wie vor.
Ich ging drei Wochen nach dem Krankenhausaufenthalt wieder in die Hausarztpraxis arbeiten. Meine Kollegen wollte ich nicht hängen lassen und schleppte mich aus reinem Pflichtbewusstsein in die Praxis. Doch mit so wenig Schlaf und meiner Unkonzentriertheit und Zittrigkeit konnte ich manche Tätigkeiten kaum ausüben. Blutabnehmen traute ich mich nicht mehr, und es war mir immer unangenehm, wenn mich Patienten auf mein verändertes Äußeres ansprachen. Jede Woche ging es mir in der Praxis körperlich und psychisch schlechter. Den Anforderungen an mich konnte ich durch meinen Schlafmangel kaum nachkommen, und mit meiner Chefin lag ich permanent im Clinch. Oberflächlich verhielt sie sich stets sehr verständnisvoll. Hin und wieder erkundigte sie sich nach meinem Zustand. Doch ich wurde ihr als „Kleinunternehmerin“ auch zur Last. Sie wusste bereits bei meiner Einstellung, dass ich diese Erkrankung habe, doch nun befand ich mich zum ersten Mal, seit sie mich kannte, in einem derart desolaten Zustand. Im Nachhinein denke ich oft, sie konnte erstens nicht mit mir und meinem Schicksal umgehen, und zweitens mochten wir uns einfach nie besonders.
Je schlechter es mir ging, desto deutlicher wurde mein Wunsch nach einer Auszeit. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als nur zu liegen, mir die Decke über den Kopf zu ziehen und vielleicht auch endlich einmal wieder zu schlafen. Anfangs konnte mein Mann diesen Wunsch nicht nachvollziehen. Wie auch. Ihm erging es nicht so. Ich machte ihm daraus natürlich keinen Vorwurf. Ich musste mich ihm nur besser erklären, damit er mich verstand. Ich wollte, dass er mich verstand. Wir rechneten lange durch, ob wir es uns leisten könnten, wenn ich kündige. Das Ergebnis war, dass wir eingeschränkt zurechtkämen und gelegentlich an unsere Ersparnisse gehen müssten. Christian musste sich an diesen Gedanken erst gewöhnen, und auch ich war in meiner Entscheidung nicht gefestigt. Als ich meinen halb gefassten Entschluss zu kündigen mit meiner Therapeutin Frau K. besprach, war sie entsetzt. Sie riet mir dringend, mich von einem Psychiater krankschreiben zu lassen. Sie drang tief in mich und beschwor mich, nicht zu kündigen. Im Ernst, an eine Krankschreibung hatte ich nur einmal kurz gedacht. Doch ich glaubte, mein Zustand „erlaube“ keine Krankschreibung. Es ginge mir gar nicht schlecht genug, um das zu rechtfertigen. Doch Frau K. rückte die Situation ins richtige Licht und meinte nur: „Wie schlecht soll es Ihnen denn noch gehen? Es ist gerechtfertigt!“
Zu einem Psychiater zu gehen – das war für mich ein schwieriger Schritt, und ich hatte Angst vor diesem Termin. Tausende Fragen waren in meinem Kopf. Wird er mich ernst nehmen? Wird er meine Situation verstehen? Was will er alles von mir wissen? Der Termin dauerte dann allerdings nur zehn Minuten. Wissen wollte der Herr Psychiater kaum etwas von mir. Schnell hatte ich die Diagnose Depression „bescheinigt“. Ich war entsetzt, als ich die Diagnose schwarz auf weiß in Zusammenhang mit mir selbst las. Mir war schon klar, dass die Bezeichnung richtig war. Doch es auch bestätigt zu bekommen, empfand ich als seltsam und schlimm.
Ich wurde von dem Psychiater Stück für Stück für insgesamt zehn Wochen krankgeschrieben. In dieser Zeit versuchte ich erst einmal, aufzuatmen und zur Ruhe zu kommen. Das war jedoch leichter gesagt als getan. Meine innere Unruhe machte mich an manchen Tagen fast verrückt. Auch mein schlechtes Gewissen meinen Kollegen gegenüber konnte ich kaum abstellen. Dazu meine Übermüdung – manchmal tat mir mein Körper vor Müdigkeit regelrecht weh. Mein Gesicht fühlte sich so furchtbar an, als wäre ich verprügelt worden. Ich bekam Medikamente, damit ich wieder schlafen konnte. Diese wirkten aber erst langsam. Trotzdem blieben die Zappeligkeit und die Unruhe in mir. Das Kortison half mir einerseits natürlich gegen die Vaskulitis, doch die Nebenwirkungen machten mir echt zu schaffen.
„Christian, was ist das? Hörst du das auch? Dieses Pfeifen, ganz leise?“ Nein, mein Mann hörte kein Pfeifen. Kein leises und auch kein lautes. Ich hatte, vermutlich durch meinen gestressten Zustand, nun auch noch einen Tinnitus entwickelt. Vierundzwanzig Stunden begleitete mich jetzt ein Pfeifen im rechten Ohr. Je stiller es war, desto deutlicher hörte ich es. Großartig. Ich fand das Rauschen meines Pulses im Ohr schon unangenehm genug. Jetzt hatte ich auch noch ein Pfeifkonzert. Die Angiologin konnte mir nicht weiterhelfen. Die allgemeine Behandlung von einem Tinnitus sei Kortison. Ha, das nahm ich ja bereits. Super. Also hieß es abwarten.
Nach ein paar Monaten, in denen es um meine Gesundheit langsam besser stand, beruhigte sich mein Ohr, und mein Tinnitus verschwand. Das war so wohltuend …
Unser Hase „Graue Eminenz“ starb Mitte Februar. Er war bereits neun Jahre alt und schon einige Wochen krank. Im Herbst bekam er eine Erkältung, durch die er einen dicken Eiterabszess mitten auf der Nase entwickelte. Es war wirklich furchtbar. Wir pflegten ihn intensiv, waren oft beim Tierarzt und hofften auf die Wirkung von drei verschiedenen Antibiotika. Doch unser „Dicker“ magerte immer mehr ab. Wir taten wirklich alles, was in unserer Macht stand, seine Leiden zu lindern. Doch am Ende fehlte ihm einfach jegliche Kraft. Er starb beim Tierarzt. Als ich ihn im Korb nach Hause brachte, kam mir unser Hund Nora entgegen und schnüffelte am Korb. Sie zog sofort den Schwanz ein und ließ die Ohren hängen. Sie roch den Tod, da bin ich mir sicher. Als Christian und ich es Fabian erzählten, weinte er nicht, er schrie – ohne Unterbrechung – eine halbe Stunde lang. Wir konnten ihn kaum beruhigen. Es war entsetzlich. Er tat mir so unendlich leid. Fabian liebte unseren Hasen einfach so sehr. Seit seiner Geburt hatte er ihn immer um sich. Unser Dicker bekam ein Grab in unserem Garten. Christian hob den gefrorenen Boden aus, so tief es ging. Fabian und ich gaben unserem Häschen noch einen Kuss auf sein Tuch, in das er eingewickelt war, und dann war es vorbei. Am Abend streichelte ich unseren kleinen Spatz in den Schlaf, noch immer konnte er nicht aufhören zu weinen und zu wimmern. In den nächsten beiden Tagen wollte Fabian mit mir ein Holzkreuz für den Hasen basteln. Wir sägten, lackierten und malten. Am Ende hatten wir ein wunderschönes, blaues Kreuz mit Bildern darauf. Das tat Fabian sehr gut. Mir ehrlich gesagt auch. Unser Hase war eben viele Jahre ein Familienmitglied.
Nach den ersten vier Wochen Kortison reduzierten wir die tägliche Dosis. Innerhalb kurzer Zeit veränderten sich meine Blutwerte wieder, die Entzündungsparameter stiegen. Das war der nächste Schlag für mich. Das Telefonat mit meiner Angiologin, bei dem ich die aktuellen Ergebnisse erfuhr, war so niederschmetternd. Ich weinte anschließend ohne Unterlass. Diese Mitteilung bedeutete, dass ich zwei zusätzliche Medikamente nehmen musste, die ich früher schon einmal bekommen hatte. Zum einen Humira, subkutane Spritzen, die ich alle zwei Wochen von Christian gespritzt bekam. Zum anderen MTX-Tabletten, ein Chemopräparat, das die Wirkung der Spritzen verstärken sollte. Die Konsequenz aus dieser erneuten Dreierkombination war, dass – egal, wie lange dieser Rückfall andauerte – es für ein zweites Baby wieder Wartezeiten geben würde und: Der Rückfall war schwieriger in den Griff zu bekommen als gedacht. Während des Klinikaufenthalts meinte Fr. Dr. R., in zwei bis drei Monaten könnte der „Spuk“ eventuell vorbei sein. Doch nun? Ich weiß heute nicht mehr, wie ich diese Wochen und Monate überstanden habe. Ich war mut- und kraftlos und wäre am liebsten den ganzen Tag unter meiner Bettdecke geblieben. Ich versuchte aber irgendwie, tapfer zu sein und für mein Kind den Kopf oben zu halten. Liebe Freundinnen haben mich unterstützt, sich mein Gejammer angehört, wenn mein Mann nicht da war. Sie haben mir Mut zugesprochen, meine Traurigkeit ertragen und mir zusammen mit Christian, Fabian und der Familie meines Mannes durch diese Zeit geholfen. Christian hat mir nie all seine Gefühle und Gedanken aus jener Zeit offenbart. Das ist seine Art, und es ist in Ordnung für mich. Doch ich war einfach oft gereizt und launisch und weinerlich. Ich hätte so dringend eine Schulter zum Ausweinen gebraucht. Und das oft! Doch das konnte er mir nicht geben. Später erklärte er es mir. Er hatte nicht immer die Kraft dazu, mich zu trösten. Bei jeder, wie ihm schien, Kleinigkeit brauchte ich ihn. Er steht mir seit so vielen Jahren bei und konnte einfach nicht immer eine weinende Frau im Arm halten. Ich tat ihm leid, und er konnte meine Arteriitis nicht lindern. Das machte ihn hilflos. Als er sich so öffnete, verstand ich ihn von Herzen. Doch vorher kam es bei mir fast wie Desinteresse an. So empfindlich war ich eben. Ich versuchte nun, ihn nicht mehr mit Lappalien zu konfrontieren. Meine langjährige Freundin Chrissy, Christine oder Zsóka, meine engsten Vertrauten, mussten an seiner Stelle „herhalten“. Oder ich schluckte mehr runter. So fand mein Mann in den Momenten, in denen ich ihn wirklich und wahrhaftig brauchte, die Kraft, mich in den Arm zu nehmen und weinen zu lassen.
Leider hatte ich in dieser schrecklichen Zeit wenig Unterstützung von meiner eigenen Familie. So, wie sie in den vergangenen Jahren besorgt um mich waren und sich um mich kümmerten, so wenig waren sie jetzt für mich da. Mein Bruder rief mich kein einziges Mal an, um sich nach mir zu erkundigen. Meine Eltern fragten in meinen zehn Wochen Arbeitsausfall nicht nach, wie ich zurechtkomme und wie es mir gehe. Vor meinem Rückfall gab es viele Streitereien in meiner Familie. Die Gründe möchte ich hier nicht erwähnen. Meine Eltern sagten mir Monate später, ich hätte doch bei ihnen um Hilfe bitten können. Sie wussten bei all den Streitereien nicht, wie sie mit mir umgehen sollten. Und um nichts Falsches zu tun, hätten sie lieber gar nichts getan. Ich war lange sehr wütend auf sie, denn sie haben in meinen Augen alle Themen vermischt. Ich war enttäuscht, dass sie ihr Kind im Stich und andere Themen nicht einfach ruhen ließen. Als mein Vater im Herbst zuvor eine schwere Entzündung hatte und zwei Wochen lang das Bett hütete, rief ich trotz Streit beinahe täglich bei meinen Eltern an und erkundigte mich nach ihm. Trotz aller Differenzen wollte ich ihnen in dieser Zeit beistehen und sorgte mich stark um meinen PaPa. Ich hätte mir so sehr gewünscht, sie hätten in der umgekehrten Situation ähnlich agiert. Ich hätte sie so gebraucht. Es hätte mir sehr gut getan, wenn sie mir ab und zu meinen Sohn abgenommen hätten. Das war nicht ein einziges Mal der Fall. Fabian vermisste seine Großeltern, und Christian musste zu dieser Zeit sehr viel arbeiten. Ich war eigentlich immer allein mit Fabian. Er merkte sicher, wie ich physisch und psychisch am Limit war. Doch ich war durch meine Depression nicht in der Lage, um Hilfe zu bitten. Später, als ich ihnen das alles einmal sagte – unter vielen Tränen – , waren sie mehr oder weniger verständig. Meine Mutter nahm sofort eine Abwehrhaltung ein und schob jegliche Schuld von sich. Mein Vater wirkte sehr betroffen. Ich glaube, er konnte sich in mich hinein fühlen, als ich erklärte, dass ich die depressiven Monate in einer Art Lähmungszustand verbracht hätte. Ich baute nach dem Gespräch darauf, dass die beiden zu Hause unter vier Augen nochmals darüber sprachen und sich austauschten. Vielleicht entwickelten sie so auch mehr Verständnis für mich. Unser Verhältnis veränderte sich jedenfalls ab diesem Zeitpunkt langsam wieder zum Positiven. Das tat mir gut, Fabian auch – und meinen Eltern sicher auch. Mein Mann war noch lange Zeit distanziert und argwöhnisch meinen Eltern gegenüber. Ich denke, das gegenseitige Vertrauen musste erst einmal wieder aufgebaut werden.
Meinen Bruder Martin hörte und sah ich fast ein Jahr nicht. Ich vermisste ihn auch nur wenig, da er mich zuvor sehr, sehr gekränkt hatte. Doch nun war ich wieder krank und dadurch erschöpft, depressiv. Ich vermisste ihn mehr und mehr und hoffte inständig, dass er sich um mich bemühte. Leider kam es dazu nicht.
Im März feierten wir in Nürnberg den Geburtstag unseres baldigen Patenkindes Laura. Sie wurde ein Jahr alt. Ich freute mich auf das Wochenende bei ihrer Familie, doch ich hatte auch höllisch Angst. Laura und ihre Familie hatten ein schwieriges Jahr hinter sich. Die beiden Schwestern sind nur knapp eineinhalb Jahre auseinander, und die Familie hatte allerhand zu tun mit zwei so kleinen Mädchen. Laura schrie in den ersten neun Monaten sehr viel und fand lange ihren Platz nicht. Doch nun ging es allen gut, die vier hatten sich zusammengerauft und waren glücklich miteinander. Ich allerdings hatte die zwei Tage lang immer einen Kloß im Hals und nahm mir ab und zu eine kleine Auszeit, indem ich mit unserem Hund Nora spazieren ging. Diese heile Welt konnte ich nur bedingt ertragen. Ich war geradezu eifersüchtig auf diese Situation. Was hatten die Eltern wegen ihres Schreikindes gestöhnt im vergangenen Jahr – ich hätte das Schreien gerne in Kauf genommen, wenn ich die Chance auf ein zweites Kind gehabt hätte. Ich bemühte mich, gute Laune zu bewahren, was mir sicher meist auch gelang. Doch es nahm mir zum Glück nie jemand übel, wenn ich mich für eine Weile zurückzog. Auf der anderen Seite genoss ich es auch sehr, wenn ich mich um die drei Kinder – Fabian, Lena und Laura – kümmern konnte. Zsóka wiederum genoss die Zeit alleine in der Küche, und ich spielte mit den Kindern oder ging mit ihnen raus. Ich befand mich in einem verflixten Zwiespalt. Ich wollte alles so gerne vorbehaltlos genießen. So wie mein Mann. Doch es fiel mir schwer. Im Nachhinein sehe ich, wie tief ich in meiner Depression steckte. Doch so richtig nahm ich das damals noch nicht wahr. Laura schenkten wir zum Geburtstag ein Bobbycar. Ihre Schwester hatte zu ihrem ersten Geburtstag von uns ein rotes bekommen, Laura nun ein gelbes. Fabian war eigentlich schon zu groß dafür, seine Beine waren einfach zu lang. Doch Bobbycar-Fahren war noch immer wichtig, und er hatte seine eigene Fahrweise entwickelt. Er kniete immer auf der Sitzfläche und schob mit einem Bein an. Und die kleine Kamikaze-Laura mit ihren zwölf Monaten schaute sich das ab und versuchte es ebenso. So eine verrückte Nudel. Als Überraschung bastelte ich ihr für ihre wilden Haarwirbel einen Haargummi mit einem Knochen aus weißem Fimo. Zsóka war begeistert und band ihn bei jeder Gelegenheit in Lauras dunkle Haare. Ihr hätte nur noch das Baströckchen gefehlt, dann hätte sie in den Dschungel gehen können.
Kurz nach Lauras Geburtstag starb Christians Opa. Er war beinahe neunzig Jahre alt und seit vielen Jahren schwer an Alzheimer erkrankt. Seit ungefähr vier Jahren lebte er in einem Pflegeheim, und meine Schwiegermutter kümmerte sich um ihn. Ich mochte ihn sehr, er war für mich der dritte Großvater. Als er endlich erlöst wurde, war ich unendlich traurig. Ebenso natürlich Christian. Die Beerdigung war sehr ehrenvoll. Fabian, Lena und Laura waren am Grab mit dabei und warfen ihrem Uropa ein paar Blümchen ins Grab. Zsóka und ich gingen aber bald mit den Kindern Richtung Friedhofsausgang. Wir hatten uns von ihm verabschiedet. Das war sicher wichtig. Es tut mir heute noch im Herzen weh, dass ein so kluger Mann, der er einst gewesen war, geistig durch eine Erkrankung so abgebaut hatte.
Unter der Kombination von drei Medikamenten ging es mir gegen Ende des Frühlings langsam besser. Früher spritzte ich mir das Humira kaum selbst. Ich war immer froh, wenn Christian dies für mich erledigte. Nun begann ich, es immer öfter selbst zu spritzen. Mein Mann war froh darüber. Ich glaube, es war nicht einfach für ihn, dauernd in mich hineinzustechen. Schließlich sah er dabei ja immer, wie ich das Gesicht verzerrte, wenn es wehtat. Das tut man seinem Partner sicher nicht gerne an. Daher pikste ich mich nun selbst. Es war halb so schlimm – wenn man es einmal gemacht hat, ist später keine Hemmschwelle mehr da. Außerdem impfte und spritzte ich in der Praxis auch, wieso also bei mir selbst zögern? Ich konnte das Kortison reduzieren, und damit wurde auch mein Schlaf wieder besser. Ich aß nicht mehr ganz so viel, und meine Unruhe und Nervosität ließen etwas nach. Nach wie vor wurde ich aber schnell müde, konnte mich nicht lange konzentrieren, und wenn mir etwas zu viel wurde, wurde ich sehr geräuschempfindlich und bekam Kopfschmerzen. An den Vormittagen, die ich immer allein zu Hause verbrachte, herrschte um mich stets eine Grabesstille. Eigentlich brauche ich sonst immer Musik um mich. Doch in dieser Zeit wollte ich absolute Stille. Nur so konnte ich mich und meinen Zustand ertragen.
Der Psychiater verschrieb mir im April zusätzlich Johanniskraut. Bald darauf kehrte ein altes Leiden zurück. Meine Unterarme und Hände wurden extrem wärmeempfindlich, und ich konnte Pullover oder die Bettdecke kaum mehr ertragen. Das ist eine „Schwachstelle“ von mir, die von einer Art Verbrennung herrührt, von der ich noch erzählen werde. Frau Dr. R. war entsetzt, als sie das hörte und ich ihr – mehr zufällig – vom Johanniskraut erzählte. Sie erklärte mir, dass das Johanniskraut erhebliche Probleme bereiten und mit dem MTX, also den Chemotabletten, zusammen eingenommen, die Wirkung schwächen könne. Außerdem würden beide Mittel die Haut lichtempfindlich und sensibel machen. Das war wahrscheinlich auch der Grund bei mir. Ich war wütend. Natürlich setzte ich die Kapseln sofort ab, und nach einer Woche waren meine Unterarme wieder ganz normal. Warum erzähle ich den Ärzten eigentlich, welche Medikamente ich einnehme? Scheinbar schert sich keiner um Wechselwirkungen, wenn sie mir etwas Neues verschreiben. Ich war ehrlich enttäuscht von dem Psychiater. Hätte er bei meinen Terminen tatsächlich meine Medikamentenliste, die ihm vorlag, überprüft, wäre mir das erspart geblieben.
Frau Dr. R. eröffnete mir, dass sie die Klinik in wenigen Wochen verlassen würde. Oje. Ich mochte sie so gern, sie war sehr kompetent. Und nun? Ich war verunsichert. In all den Jahren hatte ich immer irgendwelche absonderlichen Nebenwirkungen oder Symptome. Das meiste wurde untersucht und geklärt. Ich hatte keine Lust, beim nächsten Arzt alles aufs Neue zu erklären und dafür zu „kämpfen“, dass erneute Untersuchungen nicht mehr notwendig sind. Doch ich täuschte mich. Ich wurde an Frau Dr. Ri. „weitergereicht“. Sie war seit vielen Jahren Rheumatologin im Haus und sehr gut auf ihrem Gebiet. Von ihrer Art her ähnelte sie in keiner Weise Frau Dr. R. Sie war recht herb und wirkte auf den ersten Blick wenig humorvoll. Doch nach einigen Terminen bei ihr hatten wir uns angenähert und konnten gut miteinander umgehen. Ich entdeckte auch bald ihren Humor und ihre Herzlichkeit.
Nach zehn Wochen zu Hause versuchte ich im April, wieder zu arbeiten. Die ersten Tage machte es mir richtig Spaß, wieder eine regelmäßige Aufgabe zu haben. Doch das frühe Aufstehen und Fertigmachen brachten mich schnell an meine körperlichen Grenzen. Außerdem war die Stimmung zwischen mir und meiner Chefin permanent gereizt. Oft wusste ich allerdings gar nicht, warum. Die Antipathie zwischen uns wuchs einfach. Vier Wochen hielt ich tapfer durch, bemühte mich in der Arbeit nach Leibeskräften. Mittags sank ich völlig erschöpft auf die Couch und brauchte lange Pausen. Fabian musste sich viel selbst beschäftigen. Er war lieb zu mir, doch es tat mir sehr leid, dass ich für ihn nicht wirklich da sein konnte. Von Tag zu Tag ging es mir schlechter. Als ich irgendwann nicht mehr konnte, blieb ich abermals zu Hause und ließ mich krankschreiben. Meine Chefin verstand meinen Zustand zwar, doch zu guter Letzt erhielt ich die Kündigung wegen – mündlich – zu vieler Fehlzeiten. Schriftlich bescheinigte sie dies mir als „fristgerecht ohne Grund“. Das war einerseits ein echter Schlag für mich, da ich die Art und Weise sehr enttäuschend empfand. Andererseits fiel mir ein Stein vom Herzen, da ich mit meiner Chefin schon lange nicht mehr gut zusammenarbeiten konnte und ich oft mit Bauchschmerzen in die Praxis ging.
Nun trat aber ein weiteres Problem für mich auf. Ich musste mich arbeitssuchend melden. Das an sich war nicht das Problem. Doch ich wollte meinen gesundheitlichen Zustand beim Arbeitsamt verschweigen, da ich befürchtete, dass es irgendwie in meinen Unterlagen stehen und mir in Zukunft beruflich schaden könnte. Daher wollte ich mich auch in der Arbeitslosigkeit nicht weiter krankschreiben lassen. Nun befürchtete ich, ständig in Erklärungsnot zu geraten, wenn ich zukünftige Arbeitsstellen ablehnte. Noch fühlte ich mich nicht soweit, eine neue Stelle antreten zu können. Doch mein Sohn, der mich nach der Schule brauchte, war meine „Lösung“. Ohne Hortplatz kamen die wenigsten Stellen infrage.
Kurz vor den Pfingstferien bekam ich einen Anruf von meinem PaPa, der mir von einer neuen Heilpraktikerin erzählte, die meine Eltern seit einiger Zeit konsultieren. Dieser Therapeutin hatte er sein Herz über mich ausgeschüttet – daran merkte ich, wie nah ihm mein Zustand doch ging. Sie erklärte ihm, dass sie mir sicher nicht zur Genesung verhelfen könne, allerdings dabei, die Medikamente besser zu vertragen und die Nebenwirkungen zu lindern. Er bat mich, sie doch einmal kennenzulernen und dann zu entscheiden, ob ich mich auf sie einlasse oder nicht. Jahrelang habe ich nach einigen schlechten Erfahrungen keine Homöopathen mehr „ausprobiert“. Sollte ich es versuchen? Ja, ich vereinbarte einen Termin, und die Dame war auch sehr freundlich und das Gespräch vielversprechend. Doch sie arbeitete mit Kinesiologie (Behandlung über Muskeltests)– eine Erfahrung, die ich bereits gesammelt hatte und nicht noch einmal möchte. Außerdem ging sie mir, nachträglich betrachtet, zu nahe. Sie befasste sich weniger mit meinen Medikamenten und den Nebenwirkungen, ging jedoch schnell auf die psychische Ebene. Ich sagte ihr, ich befände mich bereits in einer Psychotherapie und bräuchte dazu keine weitere Hilfe. Doch sie ließ nicht locker und „verbiss“ sich mehr und mehr in meine familiäre Situation und Fabians Psyche. Hoppla, wegen Fabian war ich doch gar nicht hier… Sie wollte meinen Sohn unbedingt auch behandeln, da sie meinte, Kinder würden häufig die Sorgen der Eltern übernehmen. Ich müsste Fabians Unterbewusstsein unbedingt entlasten, und dies könne sie mit einer kinesiologischen Behandlung bewirken. Sie könnte ihn frei machen. Huch - nein, das ging mir zu weit. Nicht, weil ich Fabian keine nötige Behandlung zukommen lassen wollte. Doch ich hatte momentan nicht den Eindruck, dass er litt. Christian und ich diskutierten lange darüber, es war keine schnelle Entscheidung. Wir empfanden Fabians Zustand nicht als kritisch. Wir gingen bisher immer offen mit meiner Problematik um. Da wir nie Geheimnisse diesbezüglich vor ihm hatten, glaube ich, war er innerlich doch recht stabil. Dieses Erstgespräch kam mir auch ein bisschen zu esoterisch vor. Auch ihre Frage zum Schluss – „Vertrauen Sie mir?“ – empfand ich als seltsam. Ich kannte sie gerade mal fünfundvierzig Minuten.
Ich entschied mich gegen eine Therapie bei ihr. Für mich und für Fabian. Mein Gefühl, sie würde mir zu nahe treten, war zu stark. Ich wollte lieber weiter die Nebenwirkungen in Kauf nehmen. Diese Entscheidung bereute ich nie. Ich besprach das auch mit meinen Eltern. Und ich denke, sie verstanden mich. Ich hoffte es.
Um wieder positive Zeit miteinander zu verbringen und vor allem einen Tapetenwechsel zu haben, brachen wir trotz meines wackeligen Zustandes zu unserer lange geplanten Pfingstreise auf. Seit Langem wollten wir zusammen den Isar-Radweg „bezwingen“. Christians Papa Richard fuhr uns mit all unserem Gepäck und unseren Rädern zum Isarursprung nach Scharnitz. Einhundertzwanzig Kilometer lagen vor uns, und wir waren begeistert von der wunderbaren Landschaft, an der wir vorbeikamen. Fabian hatte unglaublich viel Spaß und wollte abends, als wir uns ein Pensionszimmer suchten, gar nicht aufhören zu radeln. Wir schafften jeden Tag ungefähr dreißig bis fünfunddreißig Kilometer. Selbst unser kleiner, schneller Hund schaffte die Strecke gut und hatte einen Heidenspaß. Doch am Abend des dritten Tages machte ich schlapp. Ich konnte nicht mehr, mir tat alles weh, und ich weinte. Ich war echt enttäuscht, denn ich hatte mir diesen Trip ebenso wie alle anderen gewünscht und im Vorfeld schon befürchtet, dass ich es nicht schaffe. Ich kam mir vor wie ein Versager. Doch Christian sprach mir Mut zu, war stolz auf mich, dass ich es immerhin neunzig Kilometer weit geschafft hatte. Außerdem regnete es seit einigen Stunden in Strömen, und all unsere Sachen waren nass. Richard holte uns mit dem Auto in Königsdorf ab und brachte uns heim. Im Auto schlief ich sofort ein. Fabian war sauer, denn er hatte noch lange nicht genug vom Fahrradfahren. Er sagte es nicht, aber vielleicht war er wütend auf mich, da ich schlapp machte. Ach, ich war auch sauer. Es dauerte einige Tage, bis ich mir selbst „verzieh“. Aber nicht nur Christian, auch mein PaPa baute mich auf. Vor allem mit der Aufmunterung „Viele Leute versuchen es nicht einmal, so weit zu radeln. Also sei stolz auf dich. Trotz deiner schlechten Konstitution bist du so weit gekommen.“ – Ja, sie hatten beide recht, und ein paar Tage später, als meine Erschöpfung abklang, fühlte ich tatsächlich Stolz. Auf uns alle. Um Fabians Radfahrdrang zu sättigen, fuhr Christian mit ihm einige Tage nach unserer Rückkehr, allein und ohne müde Mutter, von München zum Steinsee. Hin und zurück bezwangen die beiden achtundvierzig Kilometer. Nun war auch Fabian „satt"“.
Seit Juni war ich nun als arbeitssuchend gemeldet. Doch ich hatte keinerlei Antrieb, mich aus eigener Kraft irgendwo zu bewerben. Im Grunde war ich froh, zu Hause zu sein. Ich schrieb nur die vom Arbeitsamt vorgeschlagenen Stellen an. Noch immer fühlte ich mich abgeschlagen, leistungsunfähig und konnte mich schlecht konzentrieren. Meine Vormittage, wenn Fabian in der Schule war, versuchte ich deshalb so ruhig wie möglich zu gestalten. Ich schlief häufig, ging mit Nora raus und verteilte den Haushalt auf mehrere Tage. Als ich zu einem Probearbeiten in ein Behindertenheim eingeladen wurde, wollte ich schon fast absagen. Doch es hat sich gelohnt, mich aufgerafft zu haben. Plötzlich war ich Feuer und Flamme. Ich glaube, eine solche Arbeit tut mir gut. Seit vielen Jahren schon wollte ich mit behinderten Kindern arbeiten, doch der Schichtdienst war für unsere Familie problematisch. Jetzt aber war Fabian größer, und wir konnten es versuchen, dass ich – genau wie Christian – wieder wie früher im Schichtdienst arbeitete. Die Aussicht auf diese Stelle im Herbst hob meine Stimmung enorm. Auch das Gefühl, dass mich dieses Heim unbedingt haben wollte und mir mit den Arbeitszeiten sehr entgegenkam, stärkte mein Selbstbewusstsein sehr, und ich sah der Zukunft wieder positiver entgegen. Bis zum Arbeitsbeginn waren es noch mehrere Wochen, was mich freute, da ich mich noch weiter erholen konnte.
Eines Tages nach den Ferien rief mein Bruder Martin überraschenderweise an und bat mich, mich zu setzen. Als ich saß, sagte er mir stolz, er und seine Frau Anita würden im November Eltern werden. Ich freute mich riesig darüber. Doch es schnürte mir auch die Kehle zu. Ich versuchte, während des Telefonats meine Tränen zurückzuhalten, was mir recht gut gelang. Allerdings erfuhr ich auch, dass ich die Letzte war, die über die Schwangerschaft informiert wurde. Das traf mich hart. Mein Gefühl kann ich aus dieser Situation ganz schwer beschreiben. Ich war glücklich und stolz, zum dritten Mal Tante zu werden, doch ich war auch traurig und neidisch. Außerdem war ich enttäuscht, dass ich als Martins einzige Schwester so unwichtig war, dass man mich so spät einweihte. Christian konnte mit meiner Verfassung nicht recht umgehen. Aber ich brauchte jemanden zum Reden, und daher besprach ich mich mit Chrissy. Sie meinte, mein Bruder und seine Frau hätten es sicher nicht böse gemeint. Im Gegenteil, sie wüssten sicher, wie es mir gehen würde, und hatten diesen Moment hinauszögern wollen. Vielleicht hätten sie sogar Angst davor gehabt.
Einige Tage später wollte Chrissy mich mit Tim, ihrem Sohn, besuchen kommen. Das war ungewöhnlich, und sie ließ auch nicht locker. Der Zeitpunkt passte mir eigentlich gar nicht recht, doch sie wollte es unbedingt. Als sie auf der Couch saß und meinte, sie müsse mir etwas erzählen, sagte ich nur: „Das brauchst du nicht. Ich weiß, du bist schwanger!“ Ja, es stimmte, sie erwartete ihr zweites Kind. Sie wollte wissen, weshalb mir das so klar sei, denn sie selbst wisse es erst seit gestern und ich sei die Erste im Freundeskreis und in der Familie, die davon erfuhr. Ich wusste bei dem Telefonat mit meinem Bruder schlagartig, woher auch immer, dass auch sie schwanger war. Es war keine Vermutung, sondern Klarheit. Chrissy war natürlich überrascht. Sie wollte es diesmal nicht dem Zufall überlassen, wie bei Tims Schwangerschaft, dass ich davon erfuhr. Sie wollte es mir persönlich und bald sagen. Darüber habe ich mich über alle Maßen gefreut. Chrissy denkt immer viel zu viel und will immer alles richtig machen und den richtigen Zeitpunkt für alles treffen und planen. Mit ihrer Offenheit hat sie bei mir alles richtig gemacht und mich nicht in Watte gepackt. Sie ließ mich anschließend bald allein. Ich wollte mich freuen und traurig sein zugleich. Die Freude überwog trotz allem. Sie ist meine beste Freundin, dass sie ihr Familienglück findet, freut mich sehr.
Irgendwann war ich in der Lage, meinen Bruder um ein Gespräch zu bitten. Ich wollte das Verhältnis, bevor er Vater wird, gerne glätten. Wir trafen uns in einem Café und redeten seit Langem mal wieder offen miteinander. Ich sagte ihm, dass ich ihn gebraucht hätte in den letzten Monaten, ihn schrecklich vermisst und mich im Stich gelassen gefühlt hätte. Er nahm mich in den Arm, als ich weinte und ihm von meinen letzten Wochen und Monaten erzählte. Er hörte sich alles ruhig an und erklärte mir, dass er unseren zurückliegenden Streit und die Zeit des Schweigens zwischen uns anders betrachten würde. Doch Einzelheiten möchte ich hier nicht näher ausführen. Wir schlossen zum Glück wieder Frieden miteinander. Darüber habe ich mich sehr gefreut, denn er ist und bleibt mein Bruder. Ich brauche ihn einfach. Auch wenn Martin ein eher introvertierter Mensch ist und er nichts dergleichen gesagt hat, denke ich, dass ihn unsere Versöhnung ebenso gefreut hat.
Meine zweijährige Psychotherapie ging zu Ende. Ich hatte alle genehmigten Stunden wahrgenommen und unglaublich viel gelernt. Über mich, meine Krankheit, meine Familie, meine Sichtweisen, mein Leben. Nun hatte ich im Juli meine allerletzte Stunde. Das fand ich zunächst schrecklich, aber meine Therapeutin war zuversichtlich, dass ich sie auch nicht weiter brauchen würde. Ich erachtete den Zeitpunkt mitten in meiner schlechten Phase als sehr ungut. Doch je länger ich darüber nachdachte, welche Inhalte wir in den letzten Sitzungen behandelt hatten, umso mehr erkannte ich, dass ich es jetzt ganz sicher alleine schaffen würde. Ich war weit davon entfernt, stabil zu sein. Weder psychisch noch physisch. Doch ich konnte mir allein weiterhelfen. Mich aus Tiefphasen herausziehen oder akzeptieren, dass ich sie ein Stück weit auch durchleben und zulassen musste. Frau K. spornte mich an, mein Leben ohne fachliche Hilfe zu meistern. Gleichwohl bot sie mir auch an, dass ich mich jederzeit bei ihr melden könne, sollte ich merken, dass ich ohne Unterstützung nicht zurechtkäme. Mit dieser Sicherheit, diesem Hintertürchen, konnte ich die Therapie gut abschließen.
Träume zu verschieben oder aufzugeben, ist schwierig. Häufig kreisten meine Gedanken noch um meinen Wunsch nach einem zweiten Baby. Und ich habe viel gehofft, gezweifelt und geträumt. Von einer Zukunft zu viert. Eines Abends konnte ich nicht einschlafen, und plötzlich war er da, dieser eine klare Gedanke: „Dieser Rückfall ist nicht der letzte, und ein weiteres Baby wird es niemals geben!“ Das war ein furchtbarer Gedanke – und doch so unglaublich wahr. Ich musste furchtbar weinen und konnte mich kaum beruhigen. Mir tat alles weh – mein Herz, mein Körper, mein Kopf. Ich weinte still in mich hinein, mein Mann schlief neben mir, und ich glaube, er hat nichts mitbekommen. Ich wollte ihn damit nicht belasten. Ich weinte sehr lange, und manchmal hatte ich das Gefühl, an meinen Tränen zu ersticken. Nun war der Moment der aufgeschobenen Entscheidung irgendwie gekommen, und es fühlte sich schrecklich an. Meine Familie und meine Freunde hörten sich geduldig meine Traurigkeit an – seit Jahren. Doch mir wurde nun mehrmals deutlich gesagt, dass es Zeit sei, mich von dem Wunsch nach einem zweiten Kind zu lösen und nach vorne zu blicken: in eine Zukunft zu dritt, mit einem wunderbaren Mann an meiner Seite und mit einem großartigen Kind. Ich solle zufrieden sein. (Diesen Hinweis fand ich damals, und auch heute beim Schreiben, schwer verdaulich. Denn sowas sagt sich leicht, wenn die eigenen Wünsche hinsichtlich Familie vollständig erfüllt wurden.)
Jahrelang hieß es, Geduld zu haben und abzuwarten. Doch Abwarten heißt, Hoffnung zu haben, hat mir Christine einmal gesagt. Ich wollte nicht mehr abwarten, ich konnte nicht mehr abwarten. Sieben Jahre lang hatte ich abgewartet und gehofft – und das war sehr anstrengend gewesen. Wahrscheinlich war ich dadurch auch anstrengend für andere. Das sollte nun ein Ende haben. Ich entschied, nun zu versuchen, meine Liebe für Kinder in erster Linie natürlich an mein eigenes, aber auch an meine Nichten und Neffen, die Kinder meiner Freunde und vielleicht auch bald wieder an die Kinder in meiner zukünftigen Arbeit weiterzugeben. Ich werde sie nicht mehr aufbewahren bis zu einem weiteren Kind, dass ich nicht bekommen kann. Zu meinem Sohn habe ich eine enge Bindung und liebe ihn über alles. Ich weiß, es wird zu keinem Kind eine so feste Bindung geben wie zu meinem eigenen, und ich hatte mir sehr gewünscht, noch einmal die Gelegenheit zu bekommen, einem kleinen Menschen so nah zu sein und vielleicht sogar einige Fehler, die ich glaube, gemacht zu haben, diesmal nicht zu machen. Doch ich bin überglücklich und dankbar, dass ich meinen Fabian habe und ihn aufwachsen sehe. Das ist Gold wert, das weiß ich.
Meinem Mann erzählte ich erst einige Zeit nach diesem einschneidenden Abend davon. Ich entschuldigte mich bei ihm, nicht in der Lage zu sein, ihm eine größere Familie zu schenken. Es war unser beider Traum, eine größere Familie zu haben. Vor einigen Monaten hatte er mir noch „versprochen“, dass wir, wenn ich sämtliche Wartezeiten überstanden hätte und alle Medikamente aus meinem Körper ausgeschieden wären, Zwillinge „basteln“ würden. Natürlich war das ein Scherz, denn das wäre schon Zufall gewesen, doch es war damals ein schöner Gedanke zwischen uns. Er hielt mich für verrückt, dass ich mich entschuldigte. Er meinte, ich hätte es mir ja nicht ausgesucht, krank zu sein. Er wollte keine Entschuldigung hören, denn es gäbe für ihn keinen Grund hierzu. Er sei sich darüber hinaus gar nicht so sicher, noch ein weiteres Kind haben zu wollen. Denn er sähe es so: Wir hätten einen wunderbaren, gesunden Sohn, und je älter er würde, desto größer würden unsere Freiheiten. Der Abstand zwischen den Kindern würde immer größer, und er wisse nicht, ob das so gut sei. Und das Entscheidendste für ihn sei, dass er mich so sehr liebe, dass er nur ungern das gesundheitliche Risiko für mich bei einer nächsten Schwangerschaft eingehen wolle. Er wolle aus reinem Egoismus kein weiteres Kind – da er mich auf gar keinen Fall verlieren wolle. Was für eine schöne Liebeserklärung! Er sei zufrieden mit unserer Familie – so, wie sie ist. Sein Wunsch nach einem weiteren Kind sei nicht so groß. Er hatte sicher mit allem recht. Ich war beruhigt, dass er keine Erwartungen an mich stellte. Das hatte er noch nie getan, doch ichbrauchte zu meiner Beruhigung noch einmal die Bestätigung. Meine Traurigkeit blieb dennoch.
In der Zeit nach dieser entscheidenden Nacht wurde mein Bedürfnis, darüber zu reden, weniger. Ich fühlte mich von manchen nicht mehr verstanden. Mittlerweile sehe ich auch ein, dass mich auch niemand verstehen kann, der nicht in der gleichen Situation ist. Das klingt vielleicht beleidigt, doch so ist es nicht. Vielleicht habe ich mit manchen auch zu viel geredet, es in gewisser Weise unbewusst ausgenutzt. Das tut mir ehrlich leid im Nachhinein.
Ich habe Fabian sehr früh bekommen, und wir waren die ersten Eltern in unserem Freundeskreis und in unserer Familie. Bei allen Kindern, die nach Fabian zur Welt kamen, zog man uns in der einen oder anderen Weise zurate. Nicht, dass ich immer alles besser wusste, nein, doch manche Entwicklungen der Kinder ähneln sich. Manchmal wurden wir auch um medizinischen Rat gefragt. Das fand ich immer schön, und es gab mir ein gutes Gefühl. Doch nun waren wir eigentlich die einzige Familie, wo kein weiteres Kind mehr nachkommt. Die Einzigen mit „nur“ einem Kind. Um Rat wurde nur noch sehr selten gefragt. Das war nicht schön, und es machte mich traurig. Ich verstehe rückblickend, dass viele nicht wussten, wie ich auf ihre Fragen reagieren würde. Ob ich dadurch vielleicht nur noch trauriger werden würde. Doch ich fühlte mich irgendwie ausgeschlossen und nutzlos.
Es war nun an der Zeit, sich zu befreien. Wir hatten noch viele Kinderklamotten und Spielsachen im Keller – einen ganzen Schrank voll. Mein Bruder und seine Frau Anita erwarteten einen Sohn, daher gab ich ihnen all unsere Sachen. Es tat weh! Ich weinte beim Ausräumen des Schranks. Der Gedanke, alles wegzugeben, war furchtbar. Denn das bedeutete, dass ich aufgab. Meinen Wunsch tatsächlich aufgab. Dass ich scheiterte. Doch ich wollte alle Sachen weggeben. Mein Bruder war erstaunt, dass ich für all die Kisten kein Geld wollte. Ich bat ihn stattdessen, dass sie vielleicht gelegentlich, wenn ihr Kleiner etwas von Fabians früheren Klamotten trägt, sie ab und zu sagen oder denken: „Süß, schau mal, wie der Fabian.“ Er versprach es mir, und mit diesem Gedanken ging es mir besser. Ich freute mich sehr auf meinen Neffen und gab trotz Trennungsschmerz die Sachen gerne für ihn her. Ich bin froh, dass Christian mir bei diesem Schritt des Ausräumens stets zur Seite stand. Er spürte immer genau, wenn ich seine Nähe brauchte. Aber er zog sich auch zurück, wenn ich manche Dinge von früher allein durchsehen und betrauern wollte.
Erneut zogen Wochen und Monate vorbei, und ich veränderte mich innerlich. Gegen Ende des Sommers wusste ich nicht mehr, ob ich überhaupt noch den Mut für eine neue Schwangerschaft aufbringen würde. Vielleicht überwog nun die Angst vor Komplikationen den Wunsch nach einer Schwangerschaft, und ich begann, mich besser zu fühlen. Nicht mehr so unter Druck, nicht mehr so als Versagerin und nicht mehr so traurig. Über dieses Thema dachte ich natürlich nach wie vor nach, doch mir kamen dabei nur noch selten die Tränen. Die Traurigkeit schwand ein wenig, und ich begann irgendwie, zu akzeptieren. Als wir am Ende der Sommerferien zwei Wochen im Urlaub mit unseren kleinen Nichten zusammen waren, fühlte ich mich nicht traurig wie sonst manchmal. Unsere kleinere Nichte Laura wurde im Juli getauft, und Christian und ich sind ihre Pateneltern. Das erfüllt mich mit großem Stolz und ich möchte dieses „Amt“ mit Hingabe und Begeisterung erfüllen. Als wir im Jahr zuvor von Marcus und Zsóka gefragt wurden, ob wir Lauras Pateneltern werden möchten, war ich den Tränen nahe. Sie schenkten uns damit viel Vertrauen. Es war sehr schön, dass ich mich im Urlaub intensiv mit unserem Patenkind beschäftigen und in dieser Zeit eine kleine Bindung zu ihr aufbauen konnte. Sie ist ein wundervolles Kind – wie ihre Schwester.
Ich beantragte mithilfe von Frau Dr. Ri. eine Reha. Was ich mir davon versprach, war in erster Linie Ruhe, ein Tapetenwechsel und einfach eine Zeit, in der ich meinem Körper etwas Gutes tun konnte. Leider erhielt ich eine Absage, da meine Erkrankung nicht als rehabilitierbar gelistet ist. Es wurde mir zur ambulanten medizinischen Betreuung geraten. Na, vielen Dank! Der Einspruch gegen die Ablehnung dauerte so lange, dass ich mittlerweile wieder gut zurechtkam und auch mein Arbeitsbeginn immer näher rückte. Daher zog ich meinen Antrag zurück.
Zehneinhalb Monate nach meinem Rezidiv ging es mir körperlich meistens gut. Ich begann mit Pilates, um endlich wieder ein bisschen Kondition aufzubauen. Doch das ging unendlich langsam. Viele Übungen konnte ich kaum aus- oder durchhalten. Allmählich jedoch wurde ich fitter. Ganz nebenbei verschwand auch mein ständiger Begleiter Kopfschmerz. Ich konnte die lange U-Bahn-Rolltreppe, die ich vor einem Jahr noch hochgerannt und die letzten Monate nur gefahren bin, nun schon komplett hochgehen – zwar langsam, aber immerhin. Darauf war ich stolz. Meine Medikamente nehme ich brav jeden Tag, aber nicht mehr mit Abscheu und Verzweiflung. Den einen Tag pro Woche, den es mir nach den Chemotabletten meist nicht gut geht, trage ich zum großen Teil mit Fassung und schlafe oder lese dann viel. Meine Stimmungsschwankungen sind vorbei, wobei ich seit einigen Monaten Medikamente gegen die Depression bekomme. Doch auch das trage ich mit Fassung. Früher hätte ich solche Medikamente strikt abgelehnt, doch heute bin ich froh, dass ich dadurch Hilfe erhalte und aus dem Loch, in dem ich lange steckte, herauskomme. In den vergangenen Monaten hatte ich immer irgendwie unter Strom gestanden. Selbst in Ruhe war vor allem mein Unterkiefer extrem angespannt. Immer biss ich die Zähne aufeinander, und wenn es mir auffiel, musste ich mich bewusst zwingen, locker zu lassen. Das ist nun fast vorbei. Auch dies zähle ich als gutes Zeichen. Mittlerweile passe ich wieder in fast alle meine Hosen, und mein Gesicht ist auch wieder schmaler. Das Kortison konnte ich Stück für Stück auf ein Zehntel der Anfangsdosis reduzieren. Das ist jedes Mal sehr anstrengend für meinen Körper, aber ganz ehrlich, ich habe schon Schlimmeres durchgemacht.
Als mich eine Bekannte fragte, ob ich sie in ein aryuvedisches Wellnesshotel begleiten wolle, drängte Christian mich, zu fahren. Ich zögerte, wegen des Geldes – billig war es nicht. Doch ich sah es dann als Ersatz für die abgelehnte Reha und freute mich sehr darauf. Ich buchte dort eine Ganzkörpermassage, ging schwimmen und seit vielen Jahren mal wieder in die Sauna. Wir redeten viel, schliefen wenig, und ich genoss es durch und durch. Im Anschluss entwickelte sich zudem aus der Bekanntschaft eine wunderbare Freundschaft, die ich nicht missen möchte. Es war Oktober, und wir konnten nach der Sauna trotzdem im windstillen Garten liegen und die Sonne genießen. Das Essen war fantastisch, und es tat wahrlich gut, sich um nichts und niemanden kümmern zu müssen. Meine Familie vermisste ich allerdings sehr, und als ich nach Hause kam, fand ich leider eine leere Wohnung vor – Christian und Fabian waren auf einem Radlausflug. Doch es erwartete mich auch eine Überraschung. Mein Schatz hatte mir einen ellenlangen Brief mit all seinen Gedanken und Gefühlen geschrieben – als ich den las, weinte ich ununterbrochen und war unglaublich gerührt. Selten offenbart mein stiller Mann sein Innerstes, und nun hatte ich einen Brief in der Hand, in dem er sich mir vollends erklärte. Es bestätigte mir, was ich schon wusste: dass wir füreinander bestimmt sind.
Als meine Beiden nach Hause kamen, warf sich mir Fabian an den Hals und erzählte und erzählte und erzählte. Sie hatten ein turbulentes Wochenende hinter sich mit Klettern, Shoppen, Radfahren. Er war so gut gelaunt und freute sich sichtlich, mich zu sehen. Als ich endlich dazu kam, meinen Mann zu begrüßen, lagen wir uns minutenlang in den Armen, und den restlichen Abend suchten wir immer den Körperkontakt zueinander. Ach, das war so schön.
Eine weitere Erkenntnis nahm in diesem Herbst meine Gedanken ein: Mehr und mehr erkannte ich, dass mein „Problemarm“, also der linke Arm, den ich wegen der Stenosen nicht gut belasten kann, mein Handicap bleiben würde. Früher hatte ich zwar nicht geglaubt, dass es plötzlich verschwinden und alles gut werden würde. Doch ich hatte mich mit meiner Zukunft nicht recht auseinandergesetzt. Durch die Takayasu-Arteriitis sind bleibende Schäden entstanden, mein linker Arm wird vermutlich nie wieder voll belastbar sein. Vielleicht muss ich einfach akzeptieren, dass ich eine Behinderung habe. Vielleicht könnte ich dies sogar bescheinigen lassen und dadurch steuerliche Vorteile oder Ähnliches erzielen. Doch das will ich nicht. Ich will mein Leben so normal wie möglich gestalten, ohne dass mein Arbeitgeber von meinem Handicap weiß oder ich mich bei der Steuererklärung „outen“ muss.
Das Jahr 2010 neigt sich dem Ende zu, und es entwickelt sich zum Glück zum Positiven. Meine Eltern sehen Fabian regelmäßig, meine Mama ruft häufig an, und mein PaPa schneit manchmal spontan für einen Kaffee herein. Wir sind im Umgang miteinander noch ein wenig vorsichtig, doch wir befinden uns auf dem richtigen Weg. Mein Bruder und seine Frau Anita haben im November einen wundervollen Sohn, Tobias, bekommen, und das Verhältnis zu ihnen scheint sich auch zu entspannen. Anita habe ich nie schwanger gesehen, doch mir wurde berichtet, dass sie einen ebenso unglaublich großen Bauch hatte wie ich damals mit meinem Baby. Ich darf den kleinen Schatz oft besuchen, und ich genieße die Zeit mit ihm ungemein. Ich will versuchen, dem Kleinen eine gute Tante zu sein.
Auch zwei gute Freundinnen haben Babys bekommen. Früher traf mich das schlimm in meinem Herzen, doch heute versetzt es mir keine kleinen Stiche, wenn ich das Baby einer anderen Mutter im Arm halte.
Der Rückfall war eines der schlimmsten Erlebnisse in meinem Leben. Meinem ärgsten Feind wünsche ich keinen einzigen Tag mit den Ängsten, Sorgen, Gedanken und Schmerzen, die ich hatte. Dieses letzte Jahr hat mich all meine Kraft gekostet, und ich bin im Nachhinein stolz, dass ich es geschafft habe, den Weg aus den Depressionen zu schaffen und wieder am normalen Leben teilzunehmen. Ich bin zwar erst dreiunddreißig Jahre alt, doch ich merkte in den vergangenen Monaten deutlich, dass ich eben nicht mehr dreiundzwanzig – wie beim Ausbruch der Takayasu– bin. Mein Körper hatte weniger Kraft, und meine Nerven waren dünner. Von all meinen Lieben um mich habe ich große Unterstützung erhalten, wofür ich sehr dankbar bin. Ich habe viel gegrübelt und viel gelernt. Viel gelernt über mich, über meine Zukunft, über die Liebe meines Mannes. Ich sehe das vergangene Jahr heute als eine Art Zeit der Selbstfindung. Ich musste mein Leben neu sortieren.
Zur Rückkehr ins normale Leben habe ich zu Beginn von Fabians drittem Schuljahr wieder zu arbeiten begonnen. Ich gehöre nun zu einem Team von Kinderkrankenschwestern, Erziehern und Heilerziehungspflegern, die sehbehinderte und körperlich/geistig behinderte Kinder und Jugendliche betreuen. Es ist eine wundervolle Arbeit, das Team hat mich lieb aufgenommen, und die Kinder beeindrucken mich in jedem Dienst wieder aufs Neue. Sie zeigen mir auf ihre ganz eigene Art, wie man das Leben sehen und genießen kann. Dass auch Kleinigkeiten ungemein wertvoll sein können, und dass ein kleines Lachen etwas ganz Großes ist. Ich bin glücklich, dass ich heute wieder lachen kann. Mit meinem Sohn, mit meinem Mann, auch mal über mich, über Kleines, über Großes. Natürlich habe ich noch traurige Momente, in denen ich an meine Vergangenheit denke und Herzschmerzen bekomme, weil ich in Gedanken wieder die Anstrengung fühle. Oder ich stelle mir meine Zukunft vor und weiß nicht recht, was kommt. Ich bin mir sicher, dass ich noch nicht am Ende meiner Krankheit bin. Dies ist nur wieder ein Schub, den ich überstanden habe. Dadurch, dass ich einen erneuten Tiefschlag „erwarte“, nimmt es mir den Schrecken. Ich will nicht mehr überrascht werden. Es war ein langer, langer, langer Prozess, bis ich erkannt habe, dass ich durch nichts, aber auch leider durch gar nichts die Heilung beschleunigen kann. Ich kann nur versuchen, mit Durchhaltevermögen und Lebensmut die Zeit zu meistern.
Ich glaube heute, dass ich stark genug bin, um einen weiteren Rückschlag mit Fassung tragen zu können. Natürlich fürchte ich mich davor, doch am allermeisten eigentlich vor meinen körperlichen Veränderungen, die mit den Medikamenten einhergehen. Vor meiner Arteriitis habe ich keine Angst mehr. Sie bringt mich nicht um. Das habe ich nach all den Jahren nun verstanden. Ich freue mich allerdings jetzt schon auf diesen einen ganz besonderen Tag, an dem ich meine alte Keksdose nehme, in der ich seit Jahren meine Medikamente aufbewahre, und sie in den Müll schmeiße!
Ich bin nicht mehr verzweifelt! So, wie mir der Boden unter den Füßen weggerissen wurde, so bin ich nun wieder darauf gelandet und habe zum Großteil wieder eine positive Grundeinstellung.