Читать книгу Die kleine Dame melodiert ganz wunderbar (4) - Stefanie Taschinski - Страница 7
ОглавлениеNordpol, Südpol, Glückspol
Der Glückspol gilt bis heute als unentdeckt. Keine bekannte Salafari hat ihn erreicht, kein Logbuch ihn erwähnt. Obwohl es kaum zu glauben ist, hat sich bis zum heutigen Tag nicht ein einziger mutiger Weltenbimmler auf die Suche nach diesem geheimnisvollen Ort gemacht, von dem es heißt, er werde von einem besonderen Haus beschützt. Einem Haus, über dessen Eingangstür eine goldene Brezel glänzt.
Vermutlich hast du noch nie etwas vom Glückspol gehört und kennst das Haus mit der goldenen Brezel nicht. Wenn du mit deinen Eltern durch die kleine Seitenstraße gingest, in der das Brezelhaus in Hamburg steht, fiele dir die goldene Brezel vielleicht gar nicht auf. Sie ist nicht sonderlich groß. Sie leuchtet nicht in der Art einer Werbetafel. Möglicherweise würdest du das Nest bemerken, das die zwei Tauben über der grünen Haustür auf einem schnörkeligen Etwas gebaut haben. Aber ehe du die Form der Brezel erkannt hättest, wäret ihr schon weitergelaufen.
Und mit jedem Schritt würdest du dich vom Glückspol entfernen.
Wäre da nicht diese Geschichte.
Wären da nicht diese Worte, die dich Buchstabe für Buchstabe an deinen Ohren und am Bauch kitzelten, dich von einem Fuß auf den anderen hüpfen ließen, bis du dich umdrehtest und auf einmal etwas höchst Seltwürdiges hörtest:
Das tiefe Flötenspiel des Brezelhaus-schornsteins, über den der Wind streicht.
Fu-fu-foo.
Den hellen Triller der Amsel, die hoch oben in der Regenrinne hockt. Sri-sri-ti.
Das knisterige Lied des Hausmeisters Leberwurst, der mit seinem Besen einmal gründlich durch den Torweg fegt. Risch-risch-tap.
Genauso klingt das Brezelhaus morgens um Viertel vor sieben. Aber halt, warte mal. Da ist ja noch etwas! Du hörst es nicht? Am besten stellst du dich ganz nah an das Haus direkt unter das Wohnzimmerfenster der Familie Bär, die dort links im Hochparterre wohnt. Hörst du’s jetzt? Da ist es wieder. Das hohe Quietschen der Kreide, die über die Tafel kratzt.
Qui-qui-krax machte es, Karlchen Bär legte den Kopf auf die Seite und las den Namen, den sie eben an die Tafel geschrieben hatte. Sie wusste bereits, dass es mit Namen eine besondere Bewandtnis hat und man nie exakt vorhersagen kann, wie sie sich später verwandeln. Aus Mama kann Mamsi werden, aus Papa Papsel und aus Karla – wie sie in echt hieß – Karlchen. Und das bloß, weil ihre große Schwester Lilly, ganz früher einmal, als Lilly selbst noch klein gewesen war, beschlossen hatte, dass das zahnlose, kahlköpfige Karla-Baby wie ein Junge aussah. Bis heute – sechs Jahre später – nannten sie noch alle Karlchen, sogar in der Schule. Ja, die Wahl eines Namens war eine wichtige Angelegenheit, der man sich mit Liebe und Sorgfalt widmen sollte. Sogar vor dem Frühstück.
Neben Karlchen hockte Lilly vor der Tafel, die Papa vor ein paar Wochen an die Wand zwischen Wohnungstür und Badezimmer gelehnt hatte, und versuchte, Karlchens krakelige Buchstaben zu entziffern. Du musst nämlich wissen, dass Karlchen erst im vergangenen Sommer zur Schule gekommen war und das »Pf« hatte sie vor nicht einmal einer Woche kennengelernt.
»Pfrädderik?«, las Lilly und runzelte die Stirn. »Was ist das denn für ein Name?«
»Wieso?«, fragte Karlchen würdevoll zurück. »Mir gefällt der.«
Lilly las den Namen noch einmal. »Meinst du etwa Frederick?«
Karlchen stöhnte. »Steht da doch!«
»Na ja … fast«, meinte Lilly. »Aber der erste Buchstabe muss ein F sein, der zweite ein r und der dritte ein e und kein ä.«
Karlchen schüttelte ungläubig den Kopf. »Kann gar nicht sein«, sagte sie. »Pferd schreibt man auch mit Pf. Hat uns Herr Berg gerade beigebracht.«
»Pferd schon«, nickte Lilly und tippte auf das doppelte d. »Und davon brauchst du nur eins.«
»Ooah«, stöhnte Karlchen, leckte ihren Zeigefinger an und wischte den Namen einmal komplett weg. »Das ist so schwer!«
Dann schrieb sie den Namen erneut auf die Tafel. Mit einem F, einem r, einem e und hinten nur einem d.
»Richtig?«, fragte sie leicht genervt und gab die Kreide weiter.
»Ja«, sagte Lilly und quetschte nun selbst einen Namen ganz oben in die Ecke.
»Frieda?«, las Karlchen.
»Na ja, wir brauchen noch mehr Mädchennamen«, meinte Lilly. Einen Moment lang betrachteten die zwei die vollgeschriebene Tafel.
»Viel Platz ist da nicht mehr«, stellte Karlchen fest.
»In Mamas Bauch auch nicht«, sagte Lilly.
Die beiden warfen sich einen Blick zu und hielten die Luft an. Dann schauten sie wieder zu der Tafel.
Dort standen schon ganz viele Namen.
Mädchennamen und Jungsnamen.
Namen für das Baby in Mamas kugelrundem Bauch.
Wenn Lilly nur daran dachte, pritzelte es in ihrem eigenen Bauch wie eine Riesenportion Badekonfetti. Und Lilly dachte ständig daran. Denn in drei Wochen hatte Mama »Stichtag«. Das hieß nicht, dass Mama da gestochen werden sollte. Nein, der Stichtag war der vorausberechnete Geburtstermin des Babys.
Karlchen linste an Lilly vorbei in Richtung Küche, wo Mama und Papa das Frühstück machten. Die Tür war nur angelehnt. Karlchen senkte die Stimme. »Mamsis Bauch ist genauso rund wie der Tropenhelm der kleinen Dame.«
Lilly gluckste los. »Aber schon viel größer!«
Bis zu diesem Sommer war die kleine Dame zweifelsohne die allerkleinste Bewohnerin des Brezelhauses gewesen. Kleiner als Mama und Papa. Kleiner als der nasenhaarige Hausmeister Herr Leberwurst, kleiner als Lilly und sogar ein Stückchen kleiner als Karlchen. Denn die kleine Dame, die vor zwei Sommern im geheimen Teil des Hinterhofs ihr weißes Zelt aufgebaut hatte und dort zusammen mit Chaka, ihrem tausendjährigen Chamäleon campierte, war nicht größer als ein ausgewachsener Kaiserpinguin. Sogar mit Tropenhelm maß sie weniger als einen Meter.
Lilly konnte nicht sagen, was sie mehr überrascht hatte, als sie die kleine Dame zum allerersten Mal traf: die vielen exotischen Sprachen, die die kleine Dame aus dem »Effeff« beherrschte, oder ihre Fähigkeit, schwuppdich zu chamäleonisieren. Dazu brauchte sie bloß ihren Schirm aufzuspannen und sie nahm auf allerfeinste Weise die Farben und Muster ihrer Umgebung an.
Die Tür zur Küche öffnete sich ein Stückchen und Pim, ihr schwarzer Hund, trottete auf sie zu.
»Los, Hund, hol die Trödel-Elsen«, hörte Lilly die Stimme ihres Vaters.
»Pim«, stieß Karlchen hervor und umarmte den Räuberhund. »Ach, mein lieber, lieber Pim.«
»Mädchen, die Brezeln sind fertig!«, rief ihre Mutter.
Da sprang Lilly auf und flitzte an Karlchen und Pim vorbei in die Küche. »Erste!«
Mama Bär saß am Küchentisch und strich sich über den großen Bauch. »Guten Morgen, Zuckerschnecke«, sagte sie zu Lilly. »Guten Morgen, Schelmine«, sagte sie zu Karlchen und gab ihren Töchtern einen Kuss.
Pim legte sich unter den Tisch auf Karlchens nackte Füße.
Papa holte die Brezeln aus dem Ofen. »Achtung, die sind noch sehr, sehr ha…ha…heiß«, stieß er hervor und warf sie in den Brotkorb.
Dann setzte er sich neben Mama an den Tisch. »Schatz«, beruhigte er sie. »Mach dir keine Sorgen. Wir werden etwas finden. Das verspreche ich dir. Und wenn ich dafür um die ganze Welt radeln müsste.«
Lilly lächelte. Ja, Papa hatte Mama so lieb, dass er für sie sogar bis zum Mond radeln würde. Und das ist weit, sogar für einen Fahrradspezialisten wie Papa Bär.
Mama Bär nippte an ihrem Fencheltee. »Aber du weißt doch, wie schwierig das heutzutage ist. Fast unmöglich!«
Wovon sprachen die zwei eigentlich? Sie wollten doch nicht im Ernst so kurz vor der Geburt verreisen?
Lilly gab einen Klecks Butter auf ihre Brezel. Sofort schmolz sie zu einem goldenen See. Zum Glück kosteten die Salafaris mit der kleinen Dame keinen Cent. »Mama, können wir eine Brezel für die kleine Dame aufheben?«, bat sie.
Mama nickte.
Papa schob Mama einige Papierbögen hin. »Sieh mal, was ich im Internet gefunden hab.«
Mama blätterte durch die Papiere.
»Die eine Wohnung hat sogar einen Südbalkon«, sagte Papa.
»Welche Wohnung?«, fragte Lilly zwischen zwei Bissen.
»Wer zieht um, Papsel?«, wollte Karlchen wissen.
Mama hob den Blick von den Papieren und strich nervös über ihren Bauch. Papa räusperte sich und rutschte auf seinem Stuhl herum. »Also …« Er holte Luft. »Mama und ich …« Er sah Lilly an. »Du und Karlchen.« Er zeigte unter den Tisch. »Unser Hund, also … ich meine, wir alle zusammen, wir brauchen eine neue Wohnung.«
»Eine neue Wohnung?«, wiederholte Lilly.
Karlchen schüttelte den Kopf. »Wir haben doch eine. Sogar eine sehr hübsche!«
»Ja«, nickte Mama. »Sehr hübsch und sehr klein.« Wieder strich sie sich über ihren Bauch.
So klein nun auch wieder nicht, fand Lilly.
»Stellt euch mal vor«, sagte Papa, »wenn das Baby größer wird. Dann reicht euer Kinderzimmer nicht mehr.«
Mama zog Karlchen zu sich heran. »Genau«, bestätigte sie. »Dann platzt unsere Wohnung aus allen Nähten.« Sie tippte auf ihren Bauch und lachte ein bisschen. »Wie mein Bauch.«
»Aber noch ist das Baby ja ganz klein«, stellte Lilly fest.
»Das stimmt«, sagte Papa und legte den Arm um Lillys Schulter. »Wir schauen uns ja nur schon mal um, damit wir rechtzeitig etwas finden.«