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Rote Wangen


Als Lilly kurze Zeit später aus dem Torweg gelaufen kam, spiegelte sich ein frisch gewaschener blauer Himmel in den Pfützen vor dem Brezelhaus. Lilly spitzte die Lippen und pfiff einfach drauflos. Die Töne tanzten und kieksten federleicht. Kie-kie-tü.

Ebenso leicht, wie Lilly sich nach ihrem Besuch bei der kleinen Dame fühlte. Sie hüpfte über eine der großen Pfützen. Wie gut, dass die kleine Dame sich so hervorragend mit Nestern auskannte! Gemeinsam würden sie Mama und Papa zur Vernunft bringen. Die zwei verhielten sich in letzter Zeit wegen der Schwangerschaft vielleicht ein bisschen merkwürdig, aber so klug wie eine Meise waren sie ganz bestimmt.

»Hallo, Lilly!«, rief da jemand.

Lilly landete mit einem Fuß in der Pfütze, dass es nur so spritzte, und tauchte aus ihren Gedanken auf. Von der anderen Straßenseite kam Frau Schnacksel, Mamas Kollegin aus der Backstube, mit ihrem Hollandrad auf sie zu.


Mit ihrem roten Regenmantel, dem grünen Tuch im Haar und den vielen Lachfältchen um die Augen sah sie aus wie eine frisch gepflückte Erdbeere. Wie schon bei ihren letzten Besuchen brachte Frau Schnacksel auch heute wieder eine Tasche voll Arbeit aus der Backstube mit. Seit Mamas Bauch so groß geworden war, dass sie kaum noch stehen konnte, kam Frau Schnacksel jeden Tag, um mit Mama alle wichtigen Dinge zu besprechen: Welche neuen Rezepte wollten sie ausprobieren? Welche großen Bestellungen standen für die nächsten Wochen an? Lilly wusste, dass Mama und Frau Schnacksel immer sehr viel zu entscheiden hatten. Dann musste die Führung für Mama und Papa durch ihr »Wohnungsnest« eben warten, bis Frau Schnacksel wieder gegangen war.

Klickerdiklack machten Frau Schnacksels Absätze auf dem Kopfsteinpflaster der Straße. Klickerdiklack schob sie ihr Rad den Bordstein hoch und auf Lilly zu.

»Ich habe eine Überraschung dabei«, verkündete sie und hob ihre große Tasche aus dem Korb.

»Himbeertörtchen?«, fragte Lilly.

Frau Schnacksel lächelte ihr zu. »Hm, hm. Du wirst schon sehen.« Sie lehnte ihr Rad gegen die Hauswand und ließ das Schloss zuschnappen. »Ist deine kleine Schwester auch zu Hause?«

Lilly kramte ihren Haustürschlüssel aus dem Rucksack. »Nee, die ist heute Nachmittag bei Jakob.« Lilly hatte den Schlüssel noch nicht in das Schloss gesteckt, da ging plötzlich die Tür des Brezelhauses von innen auf. Lilly wich zwei Schritte zurück. Da kam schon wieder die Leberwurst! Hilfe. Den Besen in der rechten, eine Sprühflasche und einen Lappen in der linken Hand, blinzelte er zu Frau Schnacksel. »Darf … äh, darf ich der Dame die Tür aufhalten?«, brummelte er, während seine Ohren so rot anliefen wie Frau Schnacksels Regenmantel.

Lilly glaubte schon, sie hätte sich verhört. Aber der Hausmeister hielt tatsächlich die Tür auf.

»Danke schön«, sagte Frau Schnacksel überrascht und wollte durch die Haustür gehen. Doch da machte der Hausmeister einen Schritt nach vorn und ließ die Sprühflasche um seinen Zeigefinger sausen, als sei sie ein Revolver. Pfff-pfff-pfff püsterte er die Haustür ein und wischte sie mit einem gekonnten Schwung ab.

Pfff-pfff-pfff zielte er auf Frau Schnacksels Regenmantelärmel! Frau Schnacksel war so überrumpelt, dass sie sich nicht vom Fleck rührte. Herr Leberwurst wischte gründlich den Ärmel hinauf.

Lilly tippte ihn an. »Herr, Herr Leberwurst, das ist nicht die Haustür«, flüsterte sie ihm zu.

Da erkannte der Hausmeister seinen Irrtum. Nun begannen auch seine Wangen, im schönsten Erdbeerrot zu glühen. Verwirrt schaute er von seinem Lappen zu Frau Schnacksel und wieder zurück. »Oh verdammt! Ich weiß nicht, wie das passieren konnte«, stammelte er.

»Na ja, so blitzeblank war mein Ärmel sicher lange nicht mehr«, schmunzelte Frau Schnacksel und ging an dem Hausmeister vorbei.

Lilly stolperte beinahe über die erste Treppenstufe, so sehr wunderte sie sich. Herr Leberwurst hatte ihnen die Tür aufgehalten! Wo er sie einem doch sonst immer vor der Nase zuschlug. Und dann dieses komische Sprühflaschenkunststück und die roten Wangen. Lilly trabte die letzten Stufen hinter Frau Schnacksel her. Vermutlich hatte der Hausmeister einfach Fieber und eine Magenverstimmung zugleich und verhielt sich deshalb so eigenartig.


Frau Schnacksel trat einen Schritt beiseite, damit Lilly die Haustür aufschließen konnte. »Und wie geht es deiner Mutter heute?«, erkundigte sie sich.

Die Frage holte Lilly schlagartig in die Wirklichkeit zurück. Wie konnte es einer Mutter gehen, die aus dem Brezelhaus ausziehen wollte?

»Seltsam«, antwortete Lilly. »Richtig seltsam.«

Frau Schnacksel kam hinter ihr in die Wohnung.

»Oje. Hat sie wieder ein rohes Ei getrunken? Quallengelee gekocht oder Fertigbrötchen in den Ofen geschoben?«, fragte Frau Schnacksel besorgt. Denn all das war in den vergangenen Monaten vorgekommen.

»Nein, nein«, schüttelte Lilly den Kopf. »Es … es ist mehr eine sehr seltsame Anwandlung.«

»Das hoffe ich«, sagte Frau Schnacksel, »schließlich müssen wir heute den Backplan für die nächsten Monate durchsprechen. Damit alles glattläuft, wenn das Baby erst da ist.«

Mit diesen Worten entschwand sie in Richtung Küche.

Lilly ging schnurstracks ins Kinderzimmer und setzte sich genau in die Mitte unter die Papierlampe auf den Boden. Von hier aus versuchte sie, das Zimmer mit den Augen der kleinen Dame zu sehen. Egal, was Mama und Papa behaupteten, ihr Kinderzimmer war wirklich groß. Groß genug für das türkisfarben gestrichene Etagenbett, den maisgelben zweitürigen Kleiderschrank, einen Schreibtisch und jede Menge Spielsachen. Das Zelt der kleinen Dame passte mindestens viermal in ihr Zimmer. Bestimmt! Lilly stand auf und legte sich unten auf Karlchens Bett. Karlchen hatte die Holzlatten des oberen Bettes mit ihren Lieblingsstickern zugeklebt: kleine Schildkröten, Delfine und Einhörner. Gerade das richtige Nest für eine Erstklässlerin, kuschelig und kein bisschen beengt. Lilly kletterte über die Leiter nach oben in ihr Bett, stellte sich hin und breitete die Arme aus. Gerade der richtige Horst für eine Beinahe-Fünftklässlerin wie sie. Der perfekte Rückzugsort, an dem sie niemand störte.

Sie blickte sich in ihrem Zimmer um. Und da fiel ihr auf, wie viele Kisten neben dem Schrank standen. Wie vollgestopft das Regal über dem Schreibtisch war. Sie knabberte an ihrer Unterlippe, dann glitt ein kleines Lächeln über ihr Gesicht. Das Kinderzimmer war ganz sicher nicht zu klein, nicht einmal für drei Kinder. Es war höchstens ein klitzebisschen zu voll. Zum Glück hatte Lilly schon einen Plan, wie sie das ändern konnten.

»Fehlt nicht eine Prise Chili?«, erkundigte sich Mama bei Frau Schnacksel, als Lilly in die Küche kam.

»Von Chili muss ich immer niesen«, sagte Frau Schnacksel. »Aber meinst du nicht, es ist eine Spur zu krümelig?« Frau Schnacksel nahm eines der Knäckebrotstücke und zerbröselte es zwischen den Fingern.

Lilly schob sich an Frau Schnacksel vorbei und nahm die Arbeitsfläche unter die Lupe. Es gab ja wohl hoffentlich nicht nur Knäckebrot? Doch auch dort standen mehrere Teller mit Knäckebrot.

»Möchtest du eine Sorte probieren?«, fragte Mama.

»Eigentlich wollte ich was Leckeres …«, meinte Lilly.

Seit Mama schwanger war, knusperte sie ununterbrochen an einer Scheibe Knäcke. Papa meinte, es sei vollkommen normal, dass schwangere Frauen seltsame Dinge äßen, aber Lilly war sich da nicht so sicher. Sie machte sich schon etwas Sorgen, wie wohl das Baby aussehen würde, wenn Mama immer nur Knäckebrot aß.

»Schau mal in meine Tasche«, forderte Frau Schnacksel sie auf. »Ich habe ein paar Zimtröllchen eingepackt, aber sei bitte vorsichtig. In der Tasche ist ein …«

Lilly hörte schon gar nicht mehr zu, sondern öffnete die Tasche, um die Zimtröllchen rauszuholen. Da tauchte plötzlich neben der Papiertüte ein kleiner gelber Kopf auf.

»… Chamäleon«, flüsterte Lilly.

Mama Bär beugte sich vor, um in die Tasche zu sehen.

»Hast du etwa auch noch Teig-Tierchen gebacken?«, wollte sie wissen.

»Nein«, antwortete Frau Schnacksel, die sich neben Lilly gehockt hatte. »Das ist echt. Darf ich vorstellen: Selma. Sie ist das Jemenchamäleon meiner Nichte Jessica. Sie ist für zwei Monate nach Australien verreist und ich habe Selma in Pflege.«

Lilly staunte. Sie hätte nicht gedacht, dass Frau Schnacksel eine Nichte hatte, die ein Chamäleon besaß. »Es ist ein Mädchen?«, fragte sie. Denn sie wusste nicht, woran man das bei Chamäleons erkennt.

Pim, der in seinem Körbchen neben dem Küchenschrank döste, hob den Kopf. Er hätte das natürlich sofort am Geruch feststellen können.

Frau Schnacksel nickte. »Du kannst sie gern rausnehmen«, sagte sie. »Die Kleine braucht ohnehin etwas frische Luft.«

Vorsichtig hob Lilly das Chamäleon aus der Tasche. Wie leicht es war.

»Schau mal, Mama.« Lilly setzte das Chamäelon auf den Küchentisch.

»Das sieht ja beinahe so aus wie das Chamäleon der kleinen Dame«, meinte Mama.

Lilly schüttelte den Kopf.

»Gar nicht. Sie ist viel kleiner und hat eine andere Farbe.«

Das Chamäleon namens Selma drehte den Kopf in Richtung des Tellers mit dem Knäckebrot. Ihre Augen rollten, ihre Zunge schnellte hervor, und schwupp, hatte die kleine Selma ein großes Stück Knäcke im Maul.


»Nicht«, rief Mama, »das ist das glutenfreie! Das hab ich noch nicht probiert.«

»Zu spät«, grinste Lilly.

Und ehe jemand die Chamäleondame davon abhalten konnte, hatte sie die Scheibe bis auf ein paar kleine Krümel verschluckt.

Frau Schnacksel öffnete das Küchenfenster. »Zeit für deine Runde«, sagte sie zu Selma und nahm das Chamäleon hoch.

»Läuft sie denn nicht weg?«, fragte Mama.

»Selma ist ein sehr kluges Tier. Sie kommt, sobald ich sie rufe.«

Lilly sah, wie das Chamäleon zielstrebig die Wand hinunterkletterte. »Soll ich nicht schnell Chaka holen?«, schlug sie vor. »Dann können die beiden zusammen auf Salafari gehen.«

Doch Mama legte ihr die Hand auf die Schulter. »Nicht jetzt, Süße. Es gibt noch jemanden, der eine kleine Mittagsrunde braucht.«

Als Pim das hörte, wedelte er mit dem Schwanz.

Die kleine Dame melodiert ganz wunderbar (4)

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