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ОглавлениеDie Hamburger Sprache
In Hamburg wurde ursprünglich Hamburger Platt, eine Variante des Niederdeutschen, gesprochen. Plattdeutsch war die Verkehrssprache der mittelalterlichen Hanse, ob in Norwegen oder im Baltikum, verhandelt wurde »op platt«.
Hochdeutsch hingegen war fast eine Fremdsprache und wurde nur in der Schule oder im Gottesdienst gesprochen. Da einige Hamburger beide Varianten mischten, entstand das sogenannte »Missingsch«, eine Kombination aus Platt- und Hochdeutsch. Typisch für diese Mischsprache ist das Weglassen des Buchstabens »R« nach Vokalen, zum Beispiel »nomal« statt »normal«.
Hamburgisches Platt ist ein liebenswerter Dialekt, in dessen Genuss man an jeder Ecke kommt, auch wenn die Hamburger an sich ja angeblich mit wenig Worten auskommen sollen und ein »Moin Moin« laut Sprichwort schon ein Heiratsantrag ist.
Wenn der Hamburger sich unterhält, dann »schnackt« oder »klönt« er. Dabei erzählt man sich »Döntjes«, erheiternde Alltagsge schichten oder amüsante, fiktive Geschichten.
»Happenpappen« ist ein kleiner Imbiss und beim Bäcker gibt’s nicht etwa ein Brötchen, sondern ein »Rundstück«. »Buddel« ist die Flasche und Wasser mit Kohlensäure ist in der Hansestadt ein »Selters«. Kommt man in Feierlaune, geht man auf’n »Swutsch«, am liebsten mit seinem »Schietbüdel« (Liebling). Aber man muss aufpassen, dass man nicht »angetütert« nach Hause kommt.
Die Kleinen sind die »Lütten«, der Wischmopp ist der »Feudel« und statt einer Hose trägt man in Hamburg die »Büx«.
Einer, der nicht in die Gänge kommt, ist »drömelich« und ist man »schetterich«, empfiehlt sich ein Arztbesuch.
Hummel, Hummel – Mors, Mors!
Um dieses bekannte Zitat ranken sich einige Gerüchte. Manch einer behauptet, dass es sich um ein Erkennungszeichen für Hamburger in der Fremde handelte. Vor allem aber nutzten dies Hamburger Soldaten im Ersten Weltkrieg.
Hans-Hummel-Figur am Hamburger Hauptbahnhof.
Andere erzählen die Geschichte von einem Wasserträger namens Johann Wilhelm Bentz, dessen Spitzname Hans Hummel war. Kinder liefen ihm während der Arbeit nach und riefen seinen Spottnamen: »Hummel, Hummel«.
Er soll mit »Mors, Mors« ge antwortet haben, als Kurzform von »Klei mi an’n Mors.« (Hochdeutsch: »Leck mich am Arsch«).
Noch heute gibt es am Rademachergang in der Neustadt den Hummelbrunnen. Verschiedene bunte Hans-Hummel-Figuren sind in der Stadt verteilt (zum Beispiel am Hauptbahnhof oder vor dem Panoptikum auf St. Pauli). Wer einen kleinen Hans Hummel mit nach Hause nehmen möchte, findet diesen in diversen Souvenirläden.
Neu kam der Spruch auf, als die Stadt Hamburg vor über 60 Jahren das Autokennzeichen HH bekam, denn es erinnerte einfach zu sehr an den Gruß. Als Begrüßung sollte man »Hummel, Hummel – Mors, Mors« aber nur verwenden, wenn man definitiv als Nichthamburger auffallen möchte. Für alle anderen reicht immer noch »Moin«. Apropos Nichthamburger: Die Zugezogenen nennt man »Quiddje«.
Die Grünen wandelten den Spruch bei der Bürgerschaftswahl 2018 in »Hummel, Hummel – Murks, Murks, kreative Ideen statt alter Rezepte« um.
Interview mit York Pijahn
York Pijahn ist Redakteur, Kolumnist, Moderator, Magazinentwickler und Dozent. Von 2006 bis 2012 war er Chefredakteur des Hamburger Magazins der Süddeutschen Zeitung mit einer Auflage von 1,2 Millionen Exemplaren. Zudem unterrichtet er an der Akademie für Publizistik in Hamburg. Was läge also näher, als mit ihm einmal über Hamburg zu sprechen.
Herr Pijahn, Ihre Kolumne in der »Myself« heißt »100 Zeilen Liebe«. Welche Überschrift hätte eine Kolumne über Hamburg?
Das kommt sehr darauf an, wovon sie handelt. Ich habe mir mit meinem Freund Daniel einmal zusammen alternative Städte-Claims überlegt und er sagte, ein super Werbespruch für Hamburg könnte sein: »Hamburg! Für Sie immer noch: Hamburg!« Ich fände auch gut: »Neues aus der Barbour-Jacke« (das wäre eine Eppendorf-Kolumne), »The Big Niesel« fände ich auch schön, das wäre so eine grüblerische, depressive Stimmungskolumne. Am Ende ist auch eine sozialistische Arbeiterkolumne namens »Hammer & Michel« toll, aber leider geklaut, denn so heißt schon ein Jan-Delay-Album.
Frei nach dem Motto: »Zu dir, zu mir oder zum Fischmarkt?« Wo trifft man Sie in Hamburg und wo garantiert nicht?
Ich war, glaube ich, in den 90ern einmal auf dem Fischmarkt. Ich bin einfach zu schlapp, um bis morgens durchzuhalten. Und mir wird die »Busreise-Musical-Besuchskultur« auch immer ein Rätsel bleiben. Ich habe mal eine Hälfte von »Sister Act« gesehen, es war, als würde man lebendig skalpiert. Wo ich hingegen wirklich dauernd bin, ist das »Abaton« im Uni-Viertel. Das ist ein Restaurant beim gleichnamigen Kino.
Das letzte Hemd hat ja bekanntlich keine Taschen. Wofür lohnt es sich, in Hamburg Geld auszugeben?
Für die Klamotten bei »Ladage & Oelke«, ein hanseatischer Old-School-Laden, und Kleidung aus der ersten Etage vom »Tropenhaus Brendler« (da gibt es Parkas und Seemannsjacken), und auch das Essen im »Café Paris« ist toll. Auch lohnt sich alles, was im »Mojoclub« stattfindet. Und sein Geld in der »Gloria-Bar« zu verprassen, das finde ich auch genau richtig.
Sie waren von 2006 bis 2012 Chefredakteur des Hamburger Magazins der Süddeutschen Zeitung. Wer war die interessanteste Persönlichkeit, die Sie in dieser Zeit getroffen haben?
Rocko Schamoni, das ist keine sehr überraschende Antwort, ich weiß. Alle lieben ihn ja, ich finde vollkommen zurecht. Es fällt mir echt schwer, zu sagen, was ihn so toll macht. Vermutlich ist es eine Mischung aus klug, kreativ, scharfzüngig und sehr gut gekleidet. Er ist einfach ein cooler Hund.
Gibt es aus dieser Zeit auch noch eine Geschichte, die Sie nicht verges-sen werden?
Eine Autorin von uns, Sara Mously, ist mit einem Paddelboot von der Alster bis zur Nordsee gefahren. Das war mutig, sie hat toll davon berichtet und man wollte das sofort nachmachen. Touristen denken ja oft, Hamburg läge am Meer. Tut es ja nicht, aber in Saras Text merkt man, wie schön die 100 Kilometer bis zur See sind.
Welche Frage wurde Ihnen in einem Interview noch nie gestellt, obwohl Sie schon lange darauf warten?
Ich stamme ja aus Bielefeld und baue der Stadt, wie ich finde, total berechtigterweise einen Schrein aus Anbetung in meiner Kolumne. Ich habe mich manchmal gefragt, warum ich aus Bielefeld überhaupt weggezogen bin, wenn es dort so toll ist.
Und wie lautet die Antwort darauf?
Ich bin weggezogen, weil meine damalige Freundin in London gelebt hat und ich eine Stadt mit Flughafen brauchte. Und ich wollte auf dicke Hosen machen: »Schau, ich wohne jetzt auch in einer Großstadt!« In Wahrheit denke ich oft, dass das Leben in Bielefeld langfristig auch toll gewesen wäre, nah bei meinen beiden großen Brüdern zu leben und bei meiner Mutter. Na ja, so ist es eben. Andererseits: Hamburg und Berlin sind natürlich tolle Orte, in denen man auf gute Ideen kommt.
Wenn Sie eine Person nach Wahl treffen dürften, egal, ob tot oder lebendig, wer wäre es? Welche wäre Ihre erste Frage?
Ich hatte mal einen Interviewtermin mit John Irving, dem Schriftsteller. Ich musste den Termin aber absagen, weil ich mit dem Hamburg Magazin zu beschäftigt war. Das fand ich damals sehr schade. Irving hat eine kleine Insel, dort wäre ich gern mal und es wäre interessant, wirklich Zeit miteinander zu verbringen, also ein paar Tage. Ich würde ihn fragen, wie er die Spannung in seinen Büchern erzeugt und dann, ob wir was essen wollen. Er sieht aus wie jemand, mit dem man gut essen und trinken kann.
Sie sind Autor, Dozent an der Akademie für Publizistik und auch im Fernsehen zu sehen. Auf was können wir uns als Nächstes von Ihnen freuen?
Das ist jetzt etwas schräg, aber ich habe die Sache, die ich beruflich unbedingt machen wollte, im letzten Jahr gemacht: Die Entwicklung eines Männermagazins, das nicht so auf Testosteron und dicke Autos setzt, sondern auf Freundschaft und Entschleunigung. Das Heft hieß erst »Wolf«, dann »Cord«, dann wurde es eingestellt. Das war mein absolutes Lieblingsprojekt. Und in Zukunft, hm, manchmal denke ich, ein Kinderbuch wäre toll. Aber vielleicht überschätze ich mich hier auch.
Sie leben gerade in Berlin. Was ist in Ihren Augen der Unterschied zwischen den beiden Städten?
Mein Freund Daniel sagt immer, in Berlin ist man schon overdressed, wenn man sich nur die Zähne putzt. Da ist was dran. Hamburg ist viel formeller und dadurch auch nicht so locker. Aber gleichzeitig hat Hamburg dadurch auch etwas sehr Erwachsenes, das Sicherheit gibt.
Die Stadt ist ja so gebaut, dass man über weite Strecken nur durch Schönheit fährt und viele meiner besten Freunde leben dort. Ich finde, Berlin ist nicht so auf die Arbeit fixiert wie Hamburg. In Berlin muss man viel ausblenden – den Dreck, die hässlichen Gebäude, die Armut, um dann zwischen dem ganzen Rummel die Dinge zu sehen, die toll sind. Da sind dann natürlich die Leute mit den oft kurios verquirlten Biografien in Berlin. Und Berlin ist ganz einfach im Vergleich zu Hamburg immer noch billig: Miete, Kita, Essen gehen, in allen Bereichen. Wir könnten uns als Familie mit zwei Kindern ein Leben, sagen wir im Univiertel in Hamburg, kaum leisten. In Berlin ist immer noch mehr Platz.
Sie sind ja auch Vater. Hamburg mit Kind: Ja oder nein? Wenn ja, was kann man erleben?
Natürlich kann man mit Kindern viel Tolles in Hamburg machen. Ich war mit unserem siebenjährigen Sohn gerade auf Hafenrundfahrt, wir waren im Miniatur wunderland und Schnitzel essen im »Abaton«. Und in »Planten un Blomen« beim Feuerwerk und auf der Schaukel am Westufer der Alster. Er fand all das super. Mein Berliner Freund Nick war mit seiner Tochter, sie ist 8, in Hamburg zu Besuch. Sie sagte: »Ich wusste nicht, dass es so eine schöne Stadt gibt.«
Die Kedelkloppersprook – eine Geheimsprache
Mitte des 19. Jahrhunderts gab es im Hamburger Hafen den Beruf der Kesselklopfer. Diese klopften den Kesselstein, ein Gemisch aus Schmutz, Kalk und Ruß, mit Hämmern aus den Kesseln der Dampfschiffe. Der Berufsstand war nicht sehr angesehen unter den anderen Arbeitern, sie verrichteten quasi die niedrigsten Arbeiten.
Um sich bei der Enge und dem Lärm besser zu verständigen, entwickelten sie ihre eigene Form der Sprache, basierend auf dem Plattdeutschen. Später war diese ebenfalls von Bedeutung, man benutzte sie, um von Hitlertreuen nicht verstanden zu werden oder um in Kriegsgefangenschaft Ausbruchspläne zu schmieden. Der Anlaut bei Konsonanten, also der erste Laut eines Wortes, wird ans Ende gesetzt und ein »I« angehängt. Plattdeutsch: »Hest du al wat eten?« Kedelkloppersprook: »Esthi udi ali atwi eteni?« Hochdeutsch: »Hast du schon etwas gegessen?« Das älteste Tondokument, das die Kedelkloppersprook belegt, ist eine Aufnahme des Sängers Charly Wittong aus dem Jahre 1925. Auch im Film »Große Freiheit Nr. 7« kommen die Kedelklopper vor. Hans Albers singt dort das »Kedelklopperlied«.
Interview mit Susanne Krieg – Frau Elbville
Susanne ist Bloggerin, Autorin und Journalistin mit Wohnsitz in Hamburg. Auf Ihrer Instagram-Seite »frau elbville« hat sie ihre persönliche Liebeserklärung an Hamburg geschaffen. Doch das ist noch nicht alles: Auch in Textform gibt es Susannes Tipps, und zwar auf hamburg-companion.com, ein wundervoller Blog zur schönsten Stadt der Welt. Ich habe mit Susanne gesprochen.
Wie bist du auf die Idee gekommen, die Welt an deinem Leben in Hamburg teilhaben zu lassen?
Über ein paar Umwege. Ich habe erst vor Kurzem das Fotografieren und Bloggen für mich entdeckt. Meine Obsession, die Stadt Ham burg abzulichten und über sie zu schreiben, hat sich erst in den letzten drei Jahren entwickelt und ist inzwischen mehr als nur ein Hobby. Lange habe ich geglaubt, Fotografieren läge mir nicht. Als Reporterin war ich mehrere Jahre für das Print-Magazin GEO in der Welt unterwegs – bis dahin sind meine Texte nur in gedruckter Form erschienen. Damals bin ich immer zusam men mit professionellen Fotografen auf Recherche geschickt worden. Auf diesen Reisen herrschte strenge Arbeitsteilung. Ich war zuständig für den Text. Basta. Doch dann meldete ich mich bei Instagram an und kaufte mir mein erstes iPhone … Seitdem erkunde ich meinen Heimathafen, vorzugsweise morgens. Andere gehen joggen, ich schwinge mich auf mein rotes Rad und fotografiere mich durch Hamburger Ecken. Doch weil ich immer noch gerne Geschichten erzähle und der Platz auf Instagram einfach zu knapp ist, habe ich kurzerhand meinen Blog ins Leben gerufen.
Der Park Fiction auf St. Pauli, fotografiert von Susanne.
Eine Treppe im Kontorhausviertel, fotografiert von Susanne.
In deinem Blog schreibst du über eine längst in Vergessenheit geratene Geheimsprache. Das klingt ziemlich spannend. Magst du uns darüber erzählen?
Der Kiezjargon ist wirklich faszinierend. Er ist die Sprache der Zuhälter, Prostituierten und Barbesitzer, mit der sie ihre Gespräche verklausulierten, damit nicht gleich jeder erfuhr, warum es ging. Vor Kurzem entdeckte ich in der Bücherhalle um die Ecke ein Buch, in dem ein Geheimsprachenforscher diese Sprache dokumentiert hat, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Dafür hat er sich lange mit noch lebenden Kiezlegenden unterhalten. Die Begriffe und Redewendungen variieren von krass bis ext-rem lustig. »Tofte Berber« sind hübsche Mädchen, der »Miefkorb« ist das Bett, und mit »Chicagoschreibmaschine« ist das Maschinengewehr gemeint. Diese Sprache darf bitte nicht aussterben.
Du hast eine Fotosafari entwickelt, die man sich ganz einfach aufs Handy laden und nachmachen kann. Welches ist dein Lieblingsfotomotiv in Hamburg?
Das ist wirklich schwer zu entscheiden. In meinem Guide »Ha fenkante« geht es u. a. nach Övelgönne, wo extrem pittoreske alte Kapitänshäuser am Strand stehen. Die liebe ich – und irgendwann, wenn ich im Lotto gewinne, kaufe ich mir eins von ihnen. Aber auch die Speicherstadt mit ihren Backsteinbauten, verwunschenen Flee-ten und Brücken ist ein echtes Highlight für mich. Ich denke, dahin wird meine nächste Fotosafari gehen.
Wo trifft man Susanne und wo sicher nicht?
Eigentlich überall. Halt, in der Herbertstraße auf St. Pauli sicher nicht. Denn die ist für Frauen verboten. Es sei denn, es macht einem nichts aus, einen Eimer Wasser (oder Schlimmeres) abzubekommen.
Wie sieht für dich der perfekte Tag in Hamburg aus?
Er fängt mit einem Kaffee in der »Strandperle« an, einem Kiosk, von dem man beste Sicht auf die Elbe, Kräne, Containerterminals und Frachter hat. Dann fahre ich mit dem Fahrrad ein wenig durch Othmarschen und schaue mir Villen von außen an (ich liebe es, mir anderer Leute Häuser anzugucken), in Ottensen gehe ich ein wenig an der Ottenser Hauptstraße bummeln, dann mache ich mich auf den Weg zu den Landungsbrücken, wo ich mir an der Brücke 10 eins der leckersten Fischbrötchen der Stadt genehmige und springe auf die Fähre der Linie 72 (in Hamburg gehören Fähren zu den öffentlichen Verkehrsmitteln).
Der berühmte Silbersack auf St. Pauli, fotografiert von Susanne.
Franzbrötchen, fotografiert von Susanne.
Ich fahre rüber zur Elbphilharmonie, besteige die Aussichtsplattform in 33 Meter Höhe, um ein paar Fotos zu machen. Dann schlendere ich durch die nach Kaffeebohnen duftende Speicherstadt hinüber ins Kontorhausviertel. Der Backstein-Expressionismus von Ge bäuden wie dem Chilehaus oder dem Sprinkenhof machen mich einfach immer wieder glücklich.
Den Abend beginne ich mit ein paar Tacos in der Taqueria »Mexiko Straße« (Detlev-Bremer-Str.). Dazu gibt es Margaritas, die schmecken wie am Strand von Tulum. Später geht’s dann querbeet durch St. Pauli. Die Nacht endet im guten alten »Silbersack«, einer legendären Kneipe, die es seit der Nachkriegszeit gibt und in der zu später Stunde alle, wirklich alle, durchdrehen und anfangen zu tanzen, wenn wieder der etwas staubige Klassiker »Auf der Reeperbahn nachts um halb eins« aus der Jukebox schallt.
Ihr Hamburger liebt ja Franzbrötchen. Was hat es damit auf sich?
Einer Legende zufolge soll sie ein Hamburger Bäcker während der französischen Besatzungszeit unter Napoleon Anfang des 19. Jahrhunderts in einer Pfanne voller Bratfett gebacken haben. Er wollte eigentlich Croissants herstellen. Aber er verwendete wohl etwas zu viel Butter und Zimt. Die Franzosen sollen gelacht haben. Gegessen haben sie die Dinger trotzdem. Ich liebe sie auch.
Der Nachtjargon
Wenn die Sonne auf St. Pauli unterging, erwachte der Nachtjargon. Er ist die Sprache der Zuhälter, Prostituierten und sonstigen Kiezbewohner. Dr. Klaus Siewert hat diesen Jargon erforscht und in seinem Buch »Hamburgs Nachtjargon: die Sprache auf dem Kiez in St. Pauli« festgehalten. Dazu befragte er Prostituierte und arbeitete für seine Untersuchung eng mit der Kiezgröße Stefan Hentschel zusammen.
Schriftlichkeit ist bei Geheimsprachen fremd, hätte sie doch die Gefahr der Decodierung bedeutet. Eine Geheimsprache ist laut Siewert also nicht eine Sprache, die man nicht versteht, sondern eine, die man nicht verstehen soll.
Viele Begriffe oder Redewendungen des Nachtjargons gehen auf Hamburger Stadtteile zurück. So ist ein »Bergedorfer« ein unsicherer Typ, von dem man nicht weiß, wo er hingehört. Das Wort wurde vom Namen des Hamburger Stadtteils Bergedorf abgeleitet, das abwechselnd von Hamburg und Berlin regiert wurde. Ein Mensch, der »alles Farmsen vermacht hat«, hat all sein Geld verspielt – eine Anspielung auf die Trabrennbahn in Farmsen.
Aber auch andere Herkunftswörter wurden im Nachtjargon benutzt. Ein »Breslauer« war ein Kunde, der die Preisverhältnisse auf dem Kiez nicht kennt und daher ein leichtes Opfer ist. Die »Tille« war die Prostituierte und hatte einen »Loddel«, einen Zuhälter. War der Zuhälter weiblich, sprach man von einem »Kessmuss«. Ein 50-Pfennig-Stück war ein »Heitack«, eine Mark eine »Miese«, zwei Mark ein »Zwilling« oder auch ein »Beischock« und das Fünf-Mark-Stück war der »Heiermann«. Bei den Scheinen war der Zehn-Mark- Schein ein »Gutmann«, zwanzig Mark waren ein »Pfund«, fünfzig Mark ein »halbfest Kilo« oder auch ein »Lübecker«, hundert Mark ein »Kilo« oder ein »Blauer«, fünfhundert Mark ein »Brauner«. Hatte man tausend Mark, sprach man von einem »Riesen« oder einer »Telofe«. Konnte der Freier nicht zahlen, war er »schi Lobi«, das heißt: ohne Kohle. Dann konnte er aber immer noch seinen »Geitling« (Ring) oder seine »Ossnick« (Uhr) zur Bezahlung abgeben.
»So, nun lass uns aber mal ’n büsch’n ›Achiele toff‹ fassen.« Sie haben das nicht verstanden? Ganz einfach: etwas gutes Essen fassen.
Noch heute findet man einige der Worte, die einst auf dem Kiez erfunden wurden, in unserer Umgangssprache wieder. Zum Beispiel die »Asche«, die »verbraten« wurde.
Blick von den Tanzenden Türmen auf die Reeperbahn
Interview mit Candy Bukowski
Von Candy Bukowski sind bisher drei Bücher erschienen. Das erste Werk trägt den Namen »Wir waren keine Helden«, danach erschien »Der beste Suizid ist immer noch, sich tot zu leben«, ihr aktuelles Buch trägt den Titel »Eine neutrale Tüte bitte«. Schlüpfrig war gestern: Candy Bukowski erzählt Geschichten direkt von der Reeperbahn, aus dem Herzen von St. Pauli: lustig, berührend und schonungslos ehrlich. Wenn sich ein schüchterner Japaner in eine schwule Porno-Veranstaltung verirrt, prahlende Halbwüchsige an Sexpuppen herumspielen oder sich ein älteres Paar routiniert mit Fetisch-Artikeln eindeckt, dann hat Candy Bukowski wahre Geschichten aus einem Sexshop zusammengetragen, die man ohne Scham genießen kann.
SmileStuff – Ich bin ein Du
Du bist Autorin, Verlagsfrau, Redakteurin, Erotik-Fachberaterin, Reiki-Lehrerin und hast auch schon einmal ein eigenes Kabarettprogramm auf die Bühne gebracht. Das klingt nach einem interessanten Leben. Wie können wir uns deinen Alltag vorstellen?
Sehr schön! Da du als Überschriften zu den Fragen Kapitelblöcke aus meinem Buch »Der beste Suizid ist immer noch, sich tot zu leben« gewählt hast, erklärt sich das fast von selbst.
Es passt eine Menge Vielfalt in den Alltag, wenn man nicht ausschließlich in die Länge, sondern auch in die Breite leben möchte. Ich habe mich immer wieder verändert, bin aber meinen Wurzeln, Interessen und Talenten treu geblieben.
Für den Broterwerb arbeite ich seit einigen Jahren in der Boutique Bizarre, der größten Erotik-Boutique Europas. Da berate ich Menschen rund um ihre Sexualität und finde die Toys, die zu ihnen passen. Das Schreiben lässt sich dort im Social-Media-Bereich ebenso gut einbringen wie ins Autorinnenleben. Rein privat verlasse ich nach Feierabend aber den Kiez und lebe mit meiner 16-jährigen Tochter ganz solide im schönen Barmbek.
Vielleicht ist der Wechsel zwischen den unterschiedlichen Welten das Geheimnis der Machbarkeit. Freiheit braucht auch immer wieder Erdung, sonst verliert man sich.
HardStuff – nur dieses eine Leben
Du bist eigentlich gebürtige Augsburgerin. Wieso hat es dich vor 20 Jahren nach Hamburg verschlagen?
Es hat mich ebenso nach Hamburg verschlagen, wie es mich einige Jahre zuvor an den Bodensee verschlug: Ich war auf der Suche nach mehr und es ergaben sich Möglichkeiten. Die ergeben sich immer plötzlich, wenn man wirklich etwas Neues finden möchte: ein neuer Job, ein neuer Mensch, neue Ideen und Pläne … Und wenn man die Angst vor Veränderung einfach beiseiteschiebt und sich einlässt, probiert man eben aus und es ergibt sich ein neuer Abschnitt, mit dem vorher nicht zu rechnen war. Für Hamburg war der Auslöser damals tatsächlich die Liebe. Allerdings eine mit geringer Haltbarkeit, kurz nach meinem Ankommen ging mir damals der Kerl stiften. Also hatte ich wieder zwei Möglichkeiten: Entweder würde ich frustriert hadern und Hamburg unter Scheitern verbuchen oder ich blieb und machte diese Stadt zu meiner neuen Liebe. Ich habe mich für Zweites entschieden und diese Wahl nie bereut.
Hamburg bietet viel an Freiheit, an Toleranz und Weltoffenheit. Das sind alles Züge, die mir viel bedeuten. Wer ich heute bin, konnte ich vermutlich nur in Hamburg werden. Hier bin ich gereift, bin Mutter und Autorin geworden, ohne gleichzeitig die mir so ungeliebte starre Bürgerlichkeit annehmen zu müssen. Das ist das Schöne an Hamburg: Du kannst »Hanselette« werden, Gucci tragen und in Eppendorf Latte macchiato mit Zahnarztgattinnen trinken. Aber du musst es nicht.
MindStuff – Part of the Game
Was bedeutet das Kiezleben für dich?
Ein Kiez ist ja erst einmal jedes Viertel, das von Menschen als vielfältig, urban und mit seinen außergewöhnlichen Lebensbedingungen als besondere Heimat empfunden wird. Also das politisch eher linksorientierte Dorf mitten in der Großstadt. Das kann auch die wilde Schanze oder das bis zur Unbezahlbarkeit gentrifizierte St. Georg sein. Aber wer, wie ich, sein Herz an St. Pauli verloren hat, der liebt wohl die Ehrlichkeit vom Kiez. Alles Menschliche, dazu zählen der Schmutz und die Schattenseiten, aber eben auch aufrechte Freundschaften, bedingungslose Unterstützung und echte Wertschätzung. Wenn dich St. Pauli einmal aufgenommen hat, dann hast du bewiesen, dass du dich vom ersten Eindruck eines Menschen weder blenden noch abschrecken lässt und auch selbst nicht in Schubladen gesteckt werden möchtest. Dass du für deinen eigenen Erfolg niemanden opferst. Echtes Kiezleben ist fair und die Währung besteht nur selten aus Geld, ist also im wahrsten Sinne des Wortes »unbezahlbar«. Witzig, dass die meisten Menschen genau das – rund um die Reeperbahn – niemals vermuten würden. Und dennoch ist es so, die Menschen, die auf St. Pauli leben und lieben, ticken so. Vielleicht sind wir hier aber auch einfach die letzten verklärten Romantiker, wer weiß?
Der beste Suizid ist immer noch, sich tot zu leben
Welche sind deine Hamburger Lieblingsorte? Und wo trifft man dich sicher nicht?
Man trifft mich mit großer Wahrscheinlichkeit mittags auf einen schnellen Kaffee im »Lieblings« auf St. Pauli oder an einem freien Tag irgendwo vor dem »Café Mey«, wenn ich als Raucherin pflichtbewusst »draußen« schreibe. Wenn alle Touristen weg sind, irgendwann spätnachts an den Landungsbrücken oder in einem der vielen Hamburger Theater. Die sind Glückselixier pur für mich und irgendwann werde ich unbedingt noch 4 Wochen Urlaub opfern, um eine Regie-Hospitanz im Schauspielhaus hinzubekommen. Das ist seit Jahren ein großer Traum. Möglicherweise könnte man mir auch auf der Elbe, Höhe Wedel, zuwinken, wenn mich besonders liebe Freunde hin und wieder auf ihr wunderbares, kleines, fast antikes Segelboot einladen. Ganz sicher trifft man mich selten bei hippen VIP-Italienern in Eppendorf und niemals in Blankenese oder Othmarschen. Extrem dankbar bin ich dem Leben aber auch, dass (leider eher) unglückliche Viertel wie Jenfeld, Mümmelmannsberg u. Ä. ausscheiden.
Das Leben ist kein verdammter Roman
Aus welchem Fehler in deinem Leben hast du gelernt?
Ich habe hoffentlich aus allen Fehlern gelernt, auch wenn viele davon zu ihrer Zeit richtig oder zumindest notwendig waren. Schlimm ist ja eigentlich immer nur der eine Fehler, der sich niemals wirklich »weglernen« lässt: unüberlegte und verletzende Worte, der Satz zu viel, der Satz zu wenig. Verlorene anstatt verschenkte Zeit. Gut gemeint anstatt gut gemacht. All das, was jeder in seiner dunkelsten Herzkammer bereut. Und ich mache da ganz sicher keine Ausnahme.
Auf den ruinierenden Kauf einer aufgeschwatzten Schrottimmobilie im Osten hätte ich aber tatsächlich gut und gerne verzichten können. Manchmal kann dich eine unüberlegte Unterschrift das halbe Leben kosten. Außer, du bist eine Bank, dann lebt es sich wohl ganz gut damit.
RedLightStuff – Big Spender
In deinem neuen Buch »Eine neutrale Tüte bitte« erzählst du Geschichten aus deinem Alltag im Sex-shop. Magst du uns auch eine deiner Geschichten verraten?
Ich mag menschliche Geschichten. Alles, was uns berührt und überrascht, weil wir es so an einem bestimmten Ort nicht erwartet hätten. Deshalb schreibe ich und deshalb funktioniert vermutlich »Eine neutrale Tüte bitte« bei den LeserInnen so gut, obwohl dem Titel im Vorfeld »leider keine Zielgruppe« prognostiziert wurde. Aber kugelrunde Rocker, die unter der Kutte Lackfummel tragen, sind eben genauso liebenswert zu betrachten wie die Menschen von nebenan, die sich ihre geheimen Sehnsüchte eingestehen.
Ich liebe es, wenn grundsympathische Touristen aus dörflichen Regionen die »Boutique Bizarre« entern und alles, was sie sehen, mit Sätzen honorieren wie: »Komm, Hilde, schau doch mit rein! Hier gibt’s des all’s in echt! Die schwarz’n, besonder’n Sachen wie im Tatort und in dene Reportagen!« Oder ein seriöses, gut situiertes Paar aus der Schweiz, das sich nach einem Ein kauf von mir mit den Worten verabschiedete: »Merci vielmals, Gott segne und beschütze Sie!« Das sind wunderbare Anekdoten, wie man sie in einem Sexshop nicht vermuten würde. Und davon gibt es natürlich eine Menge.
Es ist ein Buch mit wahren Geschichten geworden, die man ohne Scham überall genießen kann. In denen man sich mit seinen Wünschen, aber vielleicht auch mit seinen Vorurteilen wiederfindet und die man anschließend möglicherweise revidiert. Weil man feststellt, dass es völlig irre ist, sexuelle Themen als billig oder ordinär abzuwerten.
HeartStuff – die Sterne vom Himmel holen
Was sollte man in Hamburg unbedingt einmal gemacht haben?
(lacht) Vergiss einfach den ganzen »Elbphilharmonie-und-Strandperle«-Scheiß. Man sollte unbedingt in einer heißen Sommernacht mit seinem Liebsten unten am Hafen »Pollersitzen«. Mit einer kühlen Flasche Astra im Ausschnitt, wild knutschend, während die Elbe gegen die Kaimauer schwappt … das ist legendär. Aber man sollte im Winter mit seinem fröhlichen Kind auch unzählige Male den »Berg« am Wasserturm mitten im Schanzenpark herunter gerodelt sein.
Oder mit einer Gruppe depressiver UKE-Mitpatienten einen Ausflug aufs Dach des Planetariums machen, um zu lernen, dass doch keiner springt. Man sollte seinen Geburtstag einmal in der einzig wahren Kneipe der Welt, dem »Crazy Horst«, verbracht und dort alle alten Heuler der Musikbox durchgespielt und mitgesungen haben und erst weit nach Sonnenaufgang nach Hause gehen. Und wenn man das wilde Herz Hamburgs auch nur ansatzweise verstehen möchte und selbst über eines verfügt, dann sollte man sich anstatt eines klassischen Reiseführers die DVD »Robert Zimmermann wundert sich über die Liebe« besorgen. Wer nach diesem Film mit Tom Schilling und dem Sound von Element of Crime nicht ganz genau weiß, wie und wo er diese geile Stadt wirklich fühlen kann … der sollte einfach nach Wuppertal fahren.
BluePianoStuff – schöne Aussichten
An welchem Ort in Hamburg hat man die beste Aussicht?
Wer auf Höhe steht, steigt den Michel hoch, fährt auf den Fernsehturm oder lässt sich mit der Ballon-Plattform vor den Deichtorhallen in die Lüfte heben. Was man sieht, ist dann eine Hamburger Miniaturlandschaft. Vergleichbar langweilig, wie es der Blick »von oben« bei fast allen Dingen ist. Mein Tipp für die beste Aussicht geht immer in die Weite, schließlich sind wir hier im Norden. An einem dekadenten »Aperol-Spritz-Tag« bietet das »a.mora« vor dem Hotel Atlantic die schönste Weite. Die Außengastronomie liegt direkt auf dem Alsteranleger, wo man auf Liegen und Sonnenstühlen herumlümmelt und einfach stundenlang den Segelbooten zusieht. Wer es größer, rauer und bodenständiger mag: immer runter an die Elbe! Vielleicht nach Övelgönne – und dort mit einem Bier in der Hand einfach auf den Steinen sitzen und den Frachtern zusehen, oder rüber zu den Docks.
Nichts bläst besser den Kopf durch und nordet einen wieder ein als Größe und Weite. Und dann ist auch ganz persönlich wieder Platz für »beste Aussichten«.
Ich hatte gedacht, sagte sie
Welche Frage wolltest du schon immer mal in einem Interview gestellt bekommen und wie lautet die Antwort?
Verwegen schön wäre vermutlich: »Candy Bukowski, wie fühlt es sich an, über Nacht mit einem Bestseller berühmt geworden zu sein?« Und ich würde dann vermutlich total intellektuell antworten: »Es fühlt sich nett an. Aber ich wage zu behaupten, dass die meisten Autorinnen und Autoren nicht schreiben, um berühmt zu werden. Dann hätten wir versucht, Rock-star zu werden.
80 Prozent unserer Arbeit findet in selbst gewählter Einsamkeit vor einem Laptop statt, 15 Prozent mit dem Warten auf Ablehnungen aus den Lektoraten und die restlichen 5 Prozent bringen mit Glück ein wenig kurzen Medienrummel, der mit Glück Menschen erreicht, die sich über dein Buch freuen. Es bedarf vieler Nächte, damit irgendetwas ›über Nacht‹ passiert. Leben ist Langstreckenlauf, ganz oft auf wunden Füßen. Aber damit hin und wieder auf den Tischen zu tanzen, macht einfach am meisten Spaß.«