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Das Märchen vom Boxer, der Politik macht Vitali Klitschko steht in der Ukraine vor einem Erfolg bei den Parlamentswahlen. Wie aus dem Schwergewichtler ein erfolgreicher Politiker wurde.
27. Oktober 2012

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Vor den Parlamentswahlen wirbt ein Leuchtreklameplakat auf der Straße, die zum Maidan führt, für Vitali Klitschkos Udar-Partei

Neben Vitali Klitschkos Schreibtisch steht ein einziges Buch im Regal: Die 100 schönsten Reiseziele der Ukraine. Es ist ein deutsches Buch. Vielleicht hat er mal reingeschaut, bevor vor Wochen seine Ochsentour in Kiew begann: Raus aus dem Arbeitszimmer, rein in die ruppigsten Ecken der Ukraine.

Sein Bus der UDAR-Partei ("SCHLAG") bretterte mit ihm und seinem Team fast durchs ganze Land. Hunderte Auftritte, Autogramme, Interviews, Fotos, Shakehands. Es ist Wahlkampf in der Ukraine. Und mit Kampf kennt sich Vitali Klitschko aus.

Der als Boxer berühmt gewordene Mann versucht sich als ernsthafter Politiker. Klitschko hat fast mehr als vier Millionen Euro seines Geldes ausgegeben. Und kurz vor der Parlamentswahl am Sonntag scheint das Märchen wahr zu werden: Die Partei des Boxers könnte aus dem Nichts zu einer der stärksten Oppositionsparteien wachsen – wenn diese Wahl denn eine faire wird.

In den Umfragen liegt UDAR mit bis zu 20 Prozent der Stimmen gleichauf mit der "Vereinigten Opposition", dem Parteienverbund der inhaftierten ehemaligen Ministerpräsidentin Julija Timoschenko. Doch was nützen Hochrechnungen, wenn am Ende Stimmen gekauft, vertauscht, vergessen werden?

Für eine Wählerstimme bieten in der Ukraine Strohmänner mehrerer Parteien zwischen einen und fünf Euro. Wahlbeobachter der OSZE kritisieren, der Druck auf die wenigen noch übrigen unabhängigen Medien habe sich in den Wochen vor der Wahl erhöht. In den vergangenen drei Monaten wurden laut Reporter ohne Grenzen mindestens 25 Journalisten an ihrer Arbeit gehindert, einer von ihnen wurde getreten und durch simuliertes Ertränken gefoltert; ein anderer starb an seinen Verletzungen.

"Diese Wahlen werden ein wichtiger Wegweiser für das Land", schreibt Hillary Clinton in einem Kommentar in der New York Times und verweist auf die Präsidentschaftswahl vor zwei Jahren. Für viele Beobachter war es die fairste und freieste Abstimmung in der ukrainischen Geschichte.

Damals holte Viktor Janukowitsch 35 Prozent im ersten Wahlgang und siegte in der Stichwahl gegen Julija Timoschenko äußerst knapp. Seitdem hat der Präsident mit seiner "Partei der Regionen" die junge Demokratie des Landes in eine "gelenkte Demokratie" verwandelt, wie Kritiker es nennen. Janukowitsch und seine Familie lenken verdeckt Polizei, Justiz, Korruption und Vetternwirtschaft – zum eigenen finanziellen Vorteil und zum Machterhalt.

Laut Umfragen hat Janukowitschs Partei der Regionen aktuell zwar Zuspruch verloren, führt aber weiterhin in den Umfragen, besonders im östlichen Teil des Landes. Die politische Landkarte der Ukraine zeigt eine geteilte Nation. Seit sie vor 21 Jahren ihre Unabhängigkeit feierte, ist das Land zerrissen: Ost oder West, Richtung Europa oder doch wieder Russland? Wohin die Reise geht, das kann sich bei dieser Parlamentswahl wieder einmal neu entscheiden.

Russland lockt die ukrainischen Machthaber mit einem gelenkten Gaspreis und bietet eine Zollunion mit Weißrussland und Kasachstan. Die Europäische Union hat ein seit Langem geplantes Assoziierungsabkommen in der Schublade. Wird es unterschrieben, wären die EU-Märkte für ukrainische Firmen offen – ein Segen für die schwächliche Wirtschaft des Landes. Bedingung ist jedoch europäische Rechtsstaatlichkeit und somit auch die Freilassung der politischen Gefangenen wie den ehemaligen Innenminister Jurij Luzenko und Julija Timoschenko.

Im Jahr 2004, als Julija Timoschenko dem Höhepunkt ihrer Macht entgegenstrebte, steckte Vitali Klitschko sich ein orangefarbenes Tuch in die Hose. Als damals die Orangene Revolution in Kiew begann, boxte Klitschko in den USA, um seinen WM-Titel zu verteidigen. Erst in den folgenden Jahren startete er seine politische Karriere, kandidierte zwei Mal erfolglos als Bürgermeister von Kiew und gründete 2010 UDAR. Weltmeister ist er immer noch – erst vor wenigen Wochen hat Klitschko in Moskau seinen Titel verteidigt. Als Sportler, sagt der Zwei-Meter-Mann, habe er alles erreicht. Aber er habe noch weitere Ziele.

Klitschko beugt sich vor: Eines Tages, sagt er, werde eine Straße in Kiew seinen Namen tragen – aber nicht, weil er mal geboxt hat.

Das klingt theatralisch, wirkt aber ehrlich. Ähnlich spricht Klitschko über Korruptionsbekämpfung, die Annäherung der Ukraine an europäische Lebensstandards, die Bekämpfung der Bürokratie. Mit seiner Art hat der Schwergewichtler in den vergangenen Wochen Hunderttausende Ukrainer überzeugt.

Er spricht kein geschliffenes Ukrainisch, ein begnadeter Redner ist er nicht. Doch das braucht es auch gar nicht. Wenn Politiker den Mund öffnen, hören viele sowieso nicht mehr hin. Fast die Hälfte aller befragten Ukrainer gab jüngst in einer Umfrage an, die Wahlen ändern gar nichts an ihrer Situation. Viele, die zur Orangenen Revolution tage- und nächtelang demonstriert hatten, wollen nichts mehr von der Politik wissen. Das Volk hat den Glauben an seine Vertreter verloren.

Vielleicht braucht es jetzt einen, der noch kein politisches Versprechen einlösen musste.

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