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Grauenvolle Entdeckung
Оглавление„Wir haben doch präzise um Pünktlichkeit gebeten“, grollt Frieder-Ludwig-Peerfried Johannsen im gut besuchten Restaurant. „Nun, das ist sehr ärgerlich, aber der erste Tag in ihrer ersten eigenen Wohnung, habe noch ein wenig Geduld“, erwidert Friederike-Liselotte. Um ihren reservierten Tisch besteht organisierte Hektik, nicht störend, aber spürbar. Frieder Johannsen blickt wieder zur Uhr, es ist 20:20 Uhr. „Ruf sie bitte noch einmal an!“ Friederike Johannsen greift zu ihrem Handy und drückt die Wahlwiederholung. Es erklingt wieder nur die geübte Tonbandstimme, die angerufene Person sei momentan nicht erreichbar. „Fünf Minuten noch, dann gehen wir“, bestimmt das Familienoberhaupt. Und so kam es dann auch, zehn Minuten später bezahlt Johannsen die bisherigen Getränke. Er entschuldigt sich mit einem anständigen Trinkgeld und schreitet sichtlich wütend zum Ausgang. „Wir gehen jetzt zu ihr, dass Fernbleiben zu unserer kleinen Feier will ich erklärt bekommen“, brummt er. „Ich weiß nicht“, grübelt seine Frau, doch Frieder Johannsen macht sich auf den Weg in Richtung Speicherstadt.
Friederike-Liselotte Johannsen drückt den Klingelknopf an der Hauseingangstür. Doch ihr Mann wartet nicht. Mit Klingeln oder Klopfen hält er sich wütend und enttäuscht nicht lange auf. Natürlich hat er einen Schlüssel. Oben angekommen verschafft sich Frieder Johannsen ebenfalls mit dem Schlüssel Zugang. Sofort fällt ihnen der schwere, süßliche Geruch auf. Es ist völlig still. Friederike-Liselotte Johannsen bemerkt, dass ihre Schuhe in etwas Klebrigem stecken. Leicht angeekelt schaut sie nach unten und ihr Blick wandert vom Blut über den Wohnungsboden bis zum Fenster. Ein kurzer Aufschrei, dann taumelt sie zurück ins Treppenhaus, wo sie zusammensackt. Der Schock schenkt ihr eine Ohnmacht. Frieder steht zitternd im Flur. Die vor Entsetzen weit aufgerissen Augen seiner Tochter starren ihn von der Fensterbank an. Von dort, wo ihn der Besucher in der linken Ecke aufgestellt hat. Genau ausgerichtet neben Jan`s Kopf. Da, wo vor wenigen Stunden noch das alte Buch lag. Wie in Trance drückt Frieder Johannsen die Ziffern 110 auf seinem Handy.
Die Blaulichter der Einsatzfahrzeuge hüllen die Speicherstadt in unheilvolles Licht, das weit über den Zollkanal und über das Brooksfleet hinaus den großen Einsatz verkündet. Polizisten in Uniform und Kriminalbeamte laufen hektisch durch die Gassen. Das gesamte Areal wird abgeriegelt. Rund um den Stadtteil herum werden Fahrzeuge kontrolliert und Fußgänger in Augenschein genommen. Gesucht wird eine oder mehrere unbekannte Personen mit Blut an der Kleidung. Eine wahrscheinlich aussichtslose Aktion, aber „Besser ist besser“, denkt sich Hauptkommissar Schrader, der mit seiner Dauerdienst-Crew angerückt ist. Auch Niels Behrendt, erster Hauptkommissar des Morddezernats im LKA ist angekommen. Schlaksig und nervös raucht der 52-jährige eine Zigarette. Während das Team der Spurensicherung mit der Wohnung beschäftigt ist, können sich die Ermittler noch nicht eingehend mit dem Tatort beschäftigen. „Grauenvoll“, murmelt der stämmig gebaute Schrader zu seinem Kollegen, der grübelnd antwortet: „Ich ahne, dass es sich hier nicht um eine Beziehungstat handelt. Weiß der Geier, aber so was habe ich noch nie erlebt“, heftig zieht er an der angezündeten Zigarette und sieht zu Schrader mit der Frage „Was weißt Du?“ „Die alten Herrschaften sind noch nicht ansprechbar, aber es ist sicher, dass die beiden jungen Leute um 16 Uhr noch am Leben waren und das sich die Familie um 20 Uhr im „Giovannis“ um die Ecke treffen wollte.“ „Niels“, ruft einer der Kriminaltechniker seinem Ermittlungskollegen zu. „Hier, das sind die ersten Bilder. In einer Stunde sind wir mit der Wohnung durch, dann könnt ihr rein.“ Er stellt das Notebook ab und klickt durch die Bilder. „Das kenne ich nur aus Horrorfilmen“, flüstert Bernd Struck von der technischen Abteilung der Spurensicherung, während Niels Behrendt und Jochen Schrader fassungslos, aber konzentriert eine Bilderschau des Grauens erleben. Beide Köpfe ruhen sauber vom Rumpf getrennt auf der Fensterbank, die Körper liegen nebeneinander auf dem Bett, Hand in Hand. Eine schier nicht endende Blutlache reicht vom Eingangsbereich bis zum Fenster und die Treppe hinauf. Niels Behrendt spürt erstmals in seiner von Mord und Totschlag begleiteten Karriere ein Frösteln. Kälteschauer streichen über seine Haut. Auch Jochen Schrader spürt das Unwirkliche, etwas Unheimliches, das sich dort abgespielt haben muss.
Das blaue Blinklicht der Rettungs- und Polizeifahrzeuge mischt sich mit dem grellen Licht aufgebauter Flutlichtscheinwerfer. Das Geschehen vor dem Gebäude wirkt dramatisch und gespenstisch zugleich. Friederike-Liselotte und Frieder Johannsen können das Grauen nicht fassen. Frieder steht mit leerem Blick vor dem Rettungswagen, in dem seine Frau zusammengebrochen auf der Trage ruht. Während sie eine Infusion bekommt, versucht der Arzt mit ihr zu reden. Doch Roswithas Mutter reagiert nicht. Ihre Seele hat sich abgeschaltet, ihr Kopf lässt keinen weiteren Schmerz zu. Frieder schaut mit leeren Augen über das Metallgeländer der Brooksbrücke. Sein Blick ruht auf dem bunten Hafen, doch er sieht ihn nicht. „Herr Johannsen, entschuldigen Sie bitte“, spricht ihn der Rettungsarzt an, „Ihre Frau muss in ein Krankenhaus, der Schock beeinträchtigt die Funktion der Organe und wir haben eine Herzstörung festgestellt. Wir fahren in das AK Wandsbek, wollen Sie uns begleiten?“ Doch Frieder-Ludwig-Peerfried Johannsen reagiert nicht. „Herr Johannsen…“, versucht es der Arzt noch einmal direkt neben ihm stehend. „Kann ich Ihnen helfen?“ Langsam wendet Frieder den Kopf und schaut dem gleichgroßen Mann mit verbitterter Miene ins Gesicht: „Mir kann niemand mehr helfen oder können Sie die Zeit zurückdrehen? Vielleicht Köpfe wieder annähen?“ Plötzlich kommt die große Trauer als Schockwelle tief aus seinem Magen nach oben, er muss sich übergeben. Gerade noch schafft er es bis zum Brückengeländer, dann ist der Brechreiz nicht mehr zu halten.
Tief unten in den alten, kalten und feuchten Kellergewölben der alten Backsteinspeicher scheint der große, alte Mann mit dem schwarzen Hut zu Hause zu sein. Es riecht nach Modder, nach alter, abgestandener und feuchter Luft. ER liest in seinem uralten Buch, manchmal bewegen sich seine Lippen dabei, als ob er vorliest. Die Stille ist eindringlich und beim genauen Hinsehen bemerkt man, dass sich die Buchstaben in dem dicken Wälzer bewegen, Zeichnungen vervollständigen sich und es scheint so, als ob das Buch selbst dezent leuchtet. Die Kammer des Gewölbes ist dunkel, kein Fenster und kein weiterer Raum sind vorhanden. Aber so ganz genau sieht man das nicht, denn es ist wirklich sehr dunkel.
Draußen hat sich die erste Aufregung gelegt. Bernd Struck und sein Team haben den Tatort ebenso verlassen, wie Jochen Schrader und zwei zuvor eingetroffene Beamte der Kripo. Das hier ist Sache des Landeskriminalamtes.
Niels Behrendt steht alleine in der Wohnung der grausigen Ereignisse. Ohne das Licht einzuschalten schaut er, eine Zigarette rauchend aus dem Fenster. Er wirkt wie entrückt. Doch in seinem Kopf schießen Gedanken durcheinander, die er konzentriert zu ordnen versucht. Die privaten Dinge werden dabei aussortiert. Im Moment ist es völlig unerheblich, dass sein Privatleben nur noch aus kargen kleinen Fetzen besteht. Niels Behrendt lebt seit fünf Jahren von seiner Frau getrennt und die Ehe blieb kinderlos. Freunde gab es nicht viele in seinem Leben. Eigentlich nur zwei, ein Kollege und seine Frau Petra. Das ist überschaubar und pflegeleicht, davon abgesehen ist Niels nicht der Typ für schnelle oder lose Freundschaften. Er schnippt die Zigarette aus dem Fenster und schaut konzentriert in die Wohnung. Das Grauen, was sich vor ein paar Stunden ereignete, ist für den ersten Hauptkommissar zwar noch spürbar, aber nicht emotional fühlbar. Sein Instinkt versucht Witterung aufzunehmen, der Jäger vor der Jagd, er lässt den Geruch und die Geräusche des historischen Baus auf sich wirken. Seine Gedanken wandern zurück, haben die oder der Täter geklingelt? Hat er geklopft? Wie bekam er unten Einlass? Gab es einen Dialog über die Sprechanlage? Und überhaupt, unten war doch noch gar kein Namensschild angebracht! Wusste der Täter genau wo er hinwollte oder hat er sich seine Opfer zufällig gewählt? Viele Fragen ergeben sich aus den Datenströmen im Kopf. Zu viele. Ein Mann oder mehrere Täter? Eine Frau wird nicht die Kraft für das sehr glatte Durchtrennen des Endstücks der Wirbelsäule mit Knochen und Knorpeln haben. Zumal auch alle Muskeln anscheinend ohne einmal abzusetzen durchtrennt wurden. Im Halbdunkel sieht er den Treppenaufgang rechts im Raum. Dort hoch haben der oder mehrere Täter die Körper getragen, sanft abgelegt und ihre Hände ineinander gefügt. Die Köpfe wurden sehr genau platziert, auf was waren die Augen ausgerichtet? Auf die Eingangstür? Sollten sie eintretende Personen anschauen? Diese Inszenierung brauchte seine Zeit, starke Arme oder mehrere Personen. Anscheinend wurde das alles mit einer gewissen Ruhe und Gelassenheit gemacht. Ob es zuvor einen Kampf gab, ist nicht ersichtlich. Niels Behrendt hofft darauf, dass die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin manches erklären kann und sich so einige Hinweise ergeben. Behrendt schreitet zur Tür und zählt die Schritte. An der Tür angekommen schaltet er das Licht an und geht zurück zum Fenster. Wieder lässt er den Tatort konzentriert auf sich wirken, ohne nach irgendwelchen Details zu suchen. Der Hauptkommissar zieht keine Schlussfolgerungen aus dem, was er sieht oder vermutet. Er formuliert nur die Fragen und legt sie für seine Erinnerung ab. „OK,“ murmelt er vor sich hin, „wir werden sehen.“ Er schließt das Fenster und will sich gerade auf den Weg machen, als er die zunächst unscheinbare Öffnung in der Seitenwand unter der Treppe sieht. Die übermalten und nun losen Bretter sind fachmännisch in Scharniere gelegt und lassen sich öffnen. Das Fach ist klein, drinnen ist es staubig, aber leer. „Übermalt“, stellt Niels sachlich fest, „aber nach dem Malen geöffnet, das sieht man an der Farbe, die in der Naht gerissen ist. Seltsam!“ Er registriert hierzu seine Fragen und schaltet das Licht aus. Draußen kann er mit dem überlassenen Schlüssel die Wohnungstür verschließen und versiegelt den Ort des Schreckens vom heutigen Tag.