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Frauke Asmus
ОглавлениеLautlos wie ein Schatten und mit forschem Schritt ist ihm sein Alter nicht anzumerken. Nun hält er inne und zieht die Morgenluft tief ein, dann schnuppert er in den sanften Wind und wendet sich in Richtung Neuer Wandrahm. Frauke Asmus geht ebenfalls mit forsch in Richtung Hafen-City. Die 56-Jährige ist eine der wenigen einzelnen Putzkräfte, die in dem spektakulären hypermodernen Wohn- und Bürokomplex Putzjobs gefunden hatte. Zuvor war sie viele Jahre in einer der hier ansässigen Im- und Exportunternehmen tätig. Sie hatte sich überall persönlich vorgestellt und einen akkurat zuverlässigen Eindruck gemacht. Das zeigt sie auch in ihren Jobs, die sie penibel und ganz genau macht. Für die meisten Büros und Wohnungen sind Reinigungsfirmen beauftragt. Nur einige wenige Büros werden von Einzelpersonen sauber gehalten. Frauke Asmus putzt jeden Morgen zwischen vier und sieben Uhr einige der Büros in der mondänen Hafen-City. Mit drei Mini-Jobs kam sie in der teuren Metropole gerade über die Runden. So früh sind nur ganz wenige Menschen unterwegs und aus den Gebäudekomplexen scheint nur hier und da Licht nach draußen. Sie bemerkt den Mann erst, als sie direkt vor ihm steht. Hat er auf Sie gewartet? „Oh, wie schön ist doch dieser Morgen, wenn das Getümmel noch nicht eingesetzt hat und die Seele sich umschauen kann, nicht wahr? Ich wünsche Ihnen ein ganz zauberhaften guten Morgen“, sprach er mit einer angedeuteten Verbeugung, wobei er sich an den Hut tippt. „Ja, Guten Morgen“, antwortet Frauke erschrocken. Hier in der Speicherstadt ist es in vielen Ecken und auf den meisten Wegen noch sehr dunkel, die sogenannte Hafen-City ist indes intensiv beleuchtet. Frauke Asmus hat seit jeher ein mulmiges Gefühl in den dunklen Wegen vorbei an den dicken Ziegel- und Backsteinbauten, die so hoch waren, dass sie alles in undurchsichtigen Schatten legten. Hier ist es nachts noch dunkler, als anderswo. „Ihr seid auf einem Pfad des Unheils. Mit Verlaub, ihr wandelt schon lange auf dem falschen Weg, vielleicht hättet ihr euch für eine andere Route entscheiden sollen, verehrte Frau Asmus. Unsere Wege kreuzen sich wohlgefällig, aber nicht zufällig“, spricht ER. Seine Worte sind nicht laut, auch nicht geflüstert und Frauke fragt sich gedanklich, was das für ein seltsamer Typ sei, der sie um diese Uhrzeit in einer so wundersamen Weise anspricht. Er kennt meinen Namen, er spricht von Unheil. Ihr läuft ein Schauer den Rücken herunter und die Härchen im Nacken richten sich auf. Sie spürt Angst, irgendwas ist fürchterlich bedrohlich an dieser seltsamen Begegnung. Und ja, irgendein Gedanke versucht ihr mitzuteilen, dass sie diesen Mann schon einmal gesehen hat. Doch der Gedanke wurde nicht deutlich. Sie erinnert sich in einer Sekunden schnellen Zusammenfassung noch an den großen schwarzen Hut und an einen mächtig erscheinenden Spazier- oder Wanderstab. Doch am meisten erinnerte sie sich in der Sekunde ihres Ablebens an die Augen des Mannes. Sie hätte schwören können, dass sich die Augenfarbe veränderte, während er die Worte sprach und zuletzt tiefschwarz waren. Aber konnte das sein? Wer weiß. Auch die Frage, warum sie hier in aller Herrgottsfrühe sterben muss, bleibt an diesem Tag unbeantwortet. „Obwohl, oh, ja, wäret ihr einen anderen Weg gegangenen, hättet ihr den Tag der Änderungen heute noch nicht erlebt,“ vollendet ER sein Gespräch, während Frauke Asmus in seinen langen und kräftigen Armen des Lebens beraubt wird und ihn nicht mehr hören kann.
06:00 Uhr. Frieder Johannsen fühlte sich schon immer in Krankenhäusern sofort nach dem Betreten unwohl. Die Atmosphäre und Eindrücke machten ihn krank. Aber heute spürt er dieses beklemmende Gefühl nicht, eigentlich spürt er gar nichts. Er sieht auf Friederike-Liselotte, wie sie unruhig im Krankenbett schläft. Eine Fusion tropft in ihren linken Arm, zwei Kabel führen von einer Manschette des rechten Arms zu elektrischen Geräten. Frieder sah sie und doch wieder nicht, seine Gedanken kreisten um alte Zeiten. In diese Frau war er jahrelang verliebt gewesen, was folgte, war eine kompromisslose und innige Liebe, die auch heute noch mit tiefer Verbundenheit Gültigkeit hatte. Roswitha kam ihm in den Sinn, als sie das erste Mal mit einer kleinen Jolle auf der Elbe unterwegs war oder als Heranwachsende mit ihm eine ausgedehnte Tour mit einem modernen Frachter nach Südamerika unternahm. Diese Zeit an Bord war unersetzlich, hier fand er den Zugang zu seinem Mädchen und sie zu ihm. Sie plauderten über sich und die Welt, sie stritten und diskutierten, sie sagten sich die Meinung. Dann blitzten die ersten, ernsthaften Jungenfreundschaften seines Mädchens vor dem geistigen Auge auf und die Erinnerung seines ersten Eindrucks über Jan folgte, mit dem es seinem „Mädchen“ wohl ernst war. Doch nun waren beide tot und Friederike liegt mit Kabeln und Kanülen verbunden vor ihm. Ihre Gedanken schienen in einer fremden Welt zu wandeln.
Sie reagiert nicht, sie steht ihm nicht bei und er kann ihr nicht helfen. Frieder versucht einen klaren Gedanken zu fassen, was war geschehen? Nicht das Resultat, sondern die Ereignisse, welche zum Resultat führten, beschäftigen ihn. Was war geschehen und Warum? Wer? Bohrende Fragen, die verzweifelt nach Antworten suchten. Ein hilfloses Gedankenmanöver, das wird ihm immer bewusster. Er schluckt, als sich eine erste Träne den Weg durch eine Wand seiner eisernen Disziplin sucht. Er hat doch schon so viele Probleme gelöst, seine Familie zusammengehalten und sein Unternehmen auch in stürmischen Zeiten gekonnt um gefährliche Klippen gesteuert. Wieso hatte er hier versagt? Warum hat ihn seine Intuition nicht gewarnt? War es die Wohnung, das Gebäude oder ein schier undenkbarer Zufall, der mit Orkanstärke sein Leben zerriss? Nein, an Zufälle glaubt Frieder Johannsen nicht, nur an Momente, in denen manches besser klappt oder Zeiten, in denen manchmal etwas aus unerklärlichen Gründen nicht funktioniert, obwohl vorher alles dafür sprach. Und? Fragt er sich. Wenn du das herausgefunden hast, was dann? Roswitha und Jan sind auch dann noch tot und Friederike wird niemals wieder unbelastet an seinem Leben teilnehmen können. Und er auch nicht an ihrem. Eine Krankenschwester reißt ihn aus seinen Gedanken. Wie lange sie schon seine Schulter berührte und auf ihn eingesprochen hatte, hätte er nicht sagen können. „Herr Johannsen, Sie müssen etwas schlafen, kommen Sie, wir haben ein Zimmer für Sie!“ Johannsen schaut sie mit einem hilflos fragenden Blick an und lässt sich ohne weitere Worte in ein separates Zimmer führen. „Ich habe hier ein leichtes Beruhigungsmittel mit Baldrian und anderen Naturstoffen, keine Medizin, bitte nehmen Sie es für ein paar Stunden Schlaf.“ Schwester Hanna träufelt einige dunkle Tropfen in einen kleinen Plastiklöffel und hält es dem gebrochenen Mann vor seinen Mund. Willenlos schluckte Frieder Johannsen das bittere Zeugs und schaut mit leerem Blick durch das Zimmer. Sein Kopf hebt sich und er blickt sie mit festem Augenkontakt an: „Warum?“, fragt er leise, „Warum?“, wiederholt sich seine Frage ein weiteres Mal, nur sehr viel leiser.
14. Mai, 7:00 Uhr. „Warum?“, fragt Niels Behrendt bei der Frühkonferenz nach der Zusammenstellung einer Sonderkommission. „Cui bono, wem nützt es, was ist das Motiv?“, Behrendt schaut langsam durch die Runde und lässt die Bilder aus dem Beamer auf sein Team wirken. „Ein Irrer? Mehrere Irre? Mordlüsterne Sektenmitglieder? War es ein Ritualmord? Fakt ist derzeit nur, das wir keine verwertbaren Spuren haben. Wir haben weniger als nichts. Und doch gibt es Ansätze, die zum Nachdenken anregen. Die Tatwaffe. Eindeutig ein Messer oder ein edles, kräftiges und sehr scharfes Werkzeug. Bernd, dein Part!“. Bernd Struck macht einen Schritt nach vorne, sieht quer durch den Raum und räuspert sich. „Wir haben die Nacht zu dritt durchgearbeitet, zwei Pathologen ebenfalls. Heute Morgen haben wir unsere Erkenntnisse abgeglichen und wir gehen davon aus, dass wir noch ein paar Puzzle Teile in den nächsten Tagen erarbeiten können. Ein paar Tests brauchen noch mehr Zeit. Nun denn, wir können folgendes Fazit ziehen: Am Tatort gibt es keine Spuren eines Kampfes. Die Opfer haben sich nicht gewehrt oder nicht wehren können. Die medizinische Abteilung hat keine Fremd-DNA an den Leichen gefunden, keine Spuren an den Händen, Fingernägeln oder sonst wo. Nichts am Fußboden, außer dem Blut der Opfer, nichts an der Tür. Obwohl es zur Tatzeit trocken war, hätten wir dennoch Straßenschmutz und sei es nur von den Opfern und deren Eltern finden müssen. Wir haben nur auf der Schwelle Straßenschmutz sichergestellt, der eindeutig aus der Gegend eingeschleppt wurde und wahrscheinlich von den zuerst eintreffenden Beamten stammt. Die Wohnung war ansonsten sauber, lupenrein, abgesehen vom Blut. Der oder die Täter sind hineingelassen worden. Die Wohnungstür hat keine Klingel, man muss klopfen. Klingeln geht nur von unten, vom Haupteingang ins Treppenhaus. Das Klingelschild zur Wohnung der Johannsens hat noch kein Namensschild. Der oder die Täter haben die Wohnung zufällig ausgesucht oder gezielt aufgesucht und sich unten Zugang verschafft. Im letzteren Fall heißt das, dass sie genau wussten, wo sie hinwollten. Die Gerichtsmedizin hat festgestellt, dass beide Opfer kaum etwas gegessen, jedoch ein Glas Sekt getrunken hatten. Kurz vor der Tat hatten beide miteinander Sex. Sexuelle Handlungen von oder durch Dritte sind nicht feststellbar. Beide Opfer sind schnell gestorben, sie waren in wenigen Sekunden tot. Der oder die Täter trennten mit zwei Schnitten die Köpfe vom Rumpf, hierbei haben die Opfer gestanden, der Tod kam im Stehen. Beide Opfer sind innerhalb der Wohnung im kleinen Flurbereich knapp 3 Meter vor der Wohnungstür getötet worden. Differenzen des Tatzeitpunkts sind nicht ersichtlich. Einzelheiten stehen im Bericht. Es gibt an den Schnittstellen keinen Abrieb. Weder Metall noch anderes Material. Die Klingenbreite hat zirka 4 bis 5 cm betragen und die Dichte ungefähr 1 bis 2 Millimeter, die Länge muss mindestens 18cm betragen haben. Dem ersten Anschein nach könnte es sich um ein spezielles und äußerst hochwertiges Schlachtermesser mit glatter Klinge ohne Sägeschliff gehandelt haben. Wir haben aber keine Hinweise, die eine weiterführende Recherche ermöglichen. Der oder die Täter müssen überdurchschnittlich kräftig sein, mindestens 1,90m groß. Diese Art Schnitt haben sie oder er nicht das erste Mal ausgeführt. Diese Fertigkeit muss man lernen und üben, das war präzise und perfekt mit immenser Kraft umgesetzt. Das ist neben der plakativen Platzierung der Köpfe und der Körper momentan noch der einzige Ansatzpunkt.“ Sechs erfahrene Polizistinnen und Polizisten hängen wie gebannt an den Lippen von Bernd Struck. „Können wir damit eine Frau als Täter ausschließen?“, fragt Karmen Westphal, eine der beiden einzigen weiblichen Kolleginnen in der Sonderkommission. „Gute Frage, die ich Ihnen nicht konkret beantworten kann“, erwidert Bernd Struck. „Ich denke, die Schnitte sind von einem Mann ausgeführt worden, aber das ist eine Vermutung und beruht nicht auf faktischen Erkenntnissen. Zum einen ist die Körpergröße des durchführenden Täters auffällig und die hierfür erforderliche Kraft, die aus dem Gesamtkomplex der Arm- und Schultermuskulatur resultieren, ist eher männlich als weiblich einzuordnen. Zu guter Letzt wurden die toten Körper die Treppe hinauf zum Bett getragen. Jochen!“, mit einem Blick auf Jochen Schrader vom KDD beendet Struck seinen nüchternen Vortrag. Jochen Schrader nimmt seine Unterlagen zur Hand und steht von seinem Holzstuhl auf. „Wir wurden um 21:05 Uhr von der Zentrale informiert und trafen nur wenige Minuten nach den Streifenbeamten ein. Das sind erfahrene Kollegen, die den Tatort nur für einen ersten Blick betreten haben und danach mit den Eheleuten Johannsen die Wohnung sofort verließen. Die Opfer sind Roswitha-Liselotte Johannsen, 27, Studentin, bzw. Hochschulabsolventin und Jan Bukowski, 29 Jahre alt. Sie ist die Tochter des angesehenen Kaufmanns Frieder-Ludwig-Peerfried Johannsen und Friederike-Liselotte Johannsen. Wohlhabend, vermögend um die 25 Millionen, einflussreich. Eine alte hanseatische Familie mit Kultur und Anstand. Frieder-Ludwig-Peerfried Johannsen hat die JCSG, die „Johannsen Container & Shipping Group“ aufgebaut und bis 2012 als Inhaber geführt. Heute gehört das Unternehmen einem Reederei- und Container Konzern aus Schweden. Wir konnten die Eheleute Johannsen noch nicht befragen. Sie haben die Opfer um zirka 20:50 Uhr aufgefunden, weil sie nicht zur verabredeten Zeit in einem Szene-Restaurant in der Hafen-City, namens „Giovannis“ zum Essen erschienen. Die Polizei wurde sofort angerufen, Johannsen ist nervenstark, aber seit dem Anruf nicht mehr klar ansprechbar. Seine Frau liegt im AK Wandsbek, Frieder-Ludwig-Peerfried Johannsen weicht nicht von ihrem Bett. Sie hat einen Totalzusammenbruch erlitten, die Organe drohen zu versagen. Natürlich ist ein gezielter Anschlag oder ein Racheakt gegen die Familie beziehungsweise gegen den Alten nicht auszuschließen. Die Umstände und der Tathergang passen jedoch nicht zu dieser Spekulation. Kontakte zum Milieu, zu Russengangs oder Triaden und zur Mafia sind nicht aktenkundig und unwahrscheinlich. Dennoch sollten wir das präzise hinterfragen. Ein Erbschaftsstreit ist auch nicht anzunehmen, ihr solltet diese Richtung dennoch berücksichtigen. Die Angehörigen von Jan Bukowski sind heute Nacht vom Krisenteam in Kiel informiert worden, ein Gespräch steht noch aus. Die Eltern leben in Kiel, wo Jan auch geboren wurde. Er hat einen Bruder in Flensburg, der als nautischer Seemann bei einer Reederei arbeitet. So viel zu den Personen. Sofort nach in Augenscheinnahme des Tatorts in der Wohnung haben wir den Ort gesichert und selbst bis zur Ankunft der KTU am direkten Tatort nichts unternommen, um den Tatort nicht zu verschmutzen. Über die Zentrale haben wir um 21:20 Uhr eine Fahndung in der Gegend ausgelöst und nach Personen gesucht, die Blut an ihrer Kleidung haben. Ergebnislos. Zeitgleich haben vier Beamte meines Teams und vier Streifenkollegen und Kolleginnen die Anwohner und Passanten befragt. Wir haben mit 24 zusätzlichen Polizisten den Radius von der Hafen-City bis Landungsbrücken und zur Nicolaikirche ausgedehnt. Die Befragungen wurden die ganze Nacht durchgeführt. Ohne Ergebnisse, die uns weiterhelfen. Im besagten Block sind bisher nur zwei ehemalige Speicher zur Eigentumswohnung umgebaut, in zwei weiteren sind Büros und in zwei unteren sind Lagerräume untergebracht. Die andere, also die zweite Wohnung ist derzeit ungenutzt. Sie gehört einem niederländischen Unternehmen und dient als Gästewohnung bei Besuchen in Hamburg. Wir haben die Genehmigung für eine Untersuchung erhalten und uns die Wohnung noch in der Tatnacht angesehen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich dort jemand aufgehalten hat, die Tür war verschlossen. Die Büros ebenfalls. Zu den Lagerräumen haben wir noch keinen Zugang bekommen. Es handelt sich aber um sehr sicher und neuwertig verschlossene Türen, die völlig unversehrt und verriegelt waren. Es gibt Kellerräume ohne Zugangsmöglichkeit, da sie schon vor Jahrzehnten zugemauert wurden. Die Haupteingangstür zeigt keine Einbruchsspuren. Es hat uns jedoch irritiert, dass wir nach dem gigantischen Blutbad keine Blutspuren im Treppenhaus oder in der Gasse gefunden haben.“ Jochen Schrader macht eine Pause um durchzuatmen und sieht dabei in die hochkonzentrierten Gesichter der spontan zusammengestellten Crew. „Es ist immer noch ein Team vor Ort. Sie suchen die Wege, Straßen und Brücken momentan bei Tageslicht nochmals akribisch ab und zwei Spürhunde sind im Einsatz. Die Hunde sind auf Blut und Körperabsonderungen trainiert. Die Gegend ist abgesperrt und Zugang wird nur nach Feststellung der Personalien und den üblichen Überprüfungen gewährt. Ich habe noch keine Meldung erhalten.“ Von der hinteren Stuhlecke fragt der bislang nur zuhörende Dezernatsleiter Joachim Bruckfels mit seiner festen Stimme „Ok, was erzählen wir der Presse? Die ersten Bilder und Handyvideos sind im Netz, Morgenpost, Bild, Abendblatt und der NDR haben heute früh angerufen, die Mopo und der Bild-Mann schon heute Nacht, sie waren schon kurz nach Eintreffen unserer Leute vor Ort, wie üblich. Ich denke nicht, dass wir die Tatumstände geheim halten können. Abgeschnittene Köpfe lassen sich nicht verschweigen, das wird öffentlich werden. Wir müssen etwas ausarbeiten. Behrendt, “ Bruckfels schaut seinen Ermittlungschef an, „Du legst fest, welche Details wir veröffentlichen, Text macht die Pressestelle. Eine PK wird es noch nicht geben. Wir sollten jedoch öffentlich machen, dass wir nach Personen mit Blut an der Kleidung und den Händen suchen. Was meinst Du?“, Behrendt nickt und weiß schon jetzt, dass sich der grausame Doppelmord die nächsten Tage zum Hamburger Medienereignis der Superlative entwickeln wird.
14.05. / 08:00 Uhr. Die Frau auf der Parkbank am Wandrahmsfleet scheint ein Nickerchen zu machen. Nur beim genauen Hinsehen ist die blutgetränkte Oberbekleidung erkennbar. Unter der Bank hat sich eine Blutlache gebildet. Aber blutig geschlagene oder betrunken gestürzte und verletzte Menschen sind hier keine Seltenheit. In Hamburg sind die Nächte bekanntlich lang und selten alkoholfrei. Da kann viel passieren, nicht nur auf der Reeperbahn ist nachts um halb eins das Kneipen-Karussell in Gang. So hätte man lange Zeit keine Notiz von Frauke Asmus genommen, wenn die Gegend nicht von Polizei quasi wimmeln würde. Peter Löschert und seine Kollegin Eike Willruth beugen sich zur vermeintlich schlafenden Frau. Eike berührt sie an der Schulter. „Hallo, hier ist die Polizei, sprechen Sie bitte mit uns…“, die noch junge Polizistin verschluckt beim Sprechen die letzten zwei Worte. Das Blut ist überall, schwarz oder tief dunkelrot und die Frau auf der Bank sinkt langsam zur Seite, der Kopf neigt sich quer und zeigt die riesige Einschnittwunde. Peter zieht seine Kollegin von der Leiche weg, „die ist tot, verdammt, ganz tot!“, krächzt er mit belegter Stimme. Eike Willruth ist blass, sie verspürt Übelkeit. Plötzlich, völlig unerwartet, löst sich der Kopf vom Hals und fällt mit einem nur leisen, aber markerschütternden Plopp auf die Bank, dann mit einem dumpfen Plumps auf den Boden. Der Kopf rollt einige Zentimeter, dann bremsen die schwarzen dichten Haare mit Hilfe der Nase die Rollbewegung auf dem Pflaster ab. Die Polizeimeisterin kann nicht mehr an sich halten, laut würgend entlädt sich ihr Mageninhalt, sie schafft es noch nicht einmal mehr bis zum Kanalgeländer. Polizeiobermeister Löschert erstarrt. Er sieht fassungslos das Geschehen, hört seine Kollegin würgen, und spürt ebenfalls einen säuerlichen Geschmack mit dem starken Verlangen, ausgiebig zu kotzen.
Nachtschwester Hanna beendet ihren Dienst. Es ist acht Uhr und die Nacht war arbeitsintensiv. Noch im Gehen informiert sie die Kolleginnen über den schlafenden Frieder Johannsen. „Lasst den armen Mann so lange schlafen wie möglich, sonst müssen wir noch ein Krankenbett bereitstellen.“ Friederike-Liselotte Johannsen ist seit Ihrer Einlieferung nicht mehr zu sich gekommen. Aber einige Gesichtsmuskeln zucken ständig und ihre Finger bewegen sich zeitweilig. Die Geräte zeigen einen erhöhten Puls und eine unregelmäßige Atmung. „Das ist nicht beunruhigend“, erklärt der junge Stationsarzt als Antwort auf die unausgesprochene Frage von Annegin Kolzer, die als Stationsschwester ihre erste Dienstwoche auf der Station III A1 antritt. „Mir bereitet es aber Sorgen, dass sie den Weg ins Wache überhaupt nicht findet“, grübelt Rainer Will, der als sehr ambitionierter und verantwortungsvoller Arzt gilt. „Wir könnten sie mit Medikamenten wecken, aber ich denke nicht, dass das der richtige Weg ist. Wir belassen es so, behalten aber alle Organe unter Kontrolle. Sie hat einen tief wirkenden Schock, das Gehirn hat die Wahrnehmung aus- und die Verarbeitung des Erlebten eingeschaltet. Das Hirn weiß, was zu tun ist und wir überlassen es zunächst dem Körper selbst“, er blickt vom Krankenblatt auf und strahlt Annegin Kolzer mit seinem jungenhaften Lächeln an. „Was ist mit dem Ehemann, den Schwester Hanna zum Schlafen überredet hat, was gut und wichtig war. Wie geht es ihm jetzt?“ Schwester Annegin muss kurz schlucken, dieses Lächeln, seine Art, sie spürt ein leichtes Flattern in der Magengrube und auch etwas tiefer. „Wir haben heute früh noch nicht nach ihm gesehen. Hanna war zuletzt um 6 kurz bei ihm, da hat er geschlafen.“ Wieder dieses Lächeln, spitzbübisch, ein bisschen Schalk und viel Sexappeal. Was für ein Mann, denkt Annegin, während sich seine Lippen zu Worte formen, die bei ihr zeitverzögert ankommen. „Na, dann lassen Sie uns doch mal leise nach ihm sehen“, noch während er spricht, macht er sich schon auf den Weg und Annegin Kolzer folgt ihm magisch angezogen. An der Tür zum Gästezimmer berühren sich ihre Hände und mit einem Blick in den Raum ganz nah nebeneinander wird Annegin klar, dass sie nicht nein sagen würde, nicht nein sagen könnte, wenn er sie jetzt nehmen würde. „Alles in Ordnung, so weit“, flüstert Rainer Will. „Die Kripo hat sich erkundigt und nachher kommen zwei, um mit den Eheleuten zu sprechen“, erwähnt Annegin mit belegter Stimme. „Das muss Herr Johannsen entscheiden, wenn er mit ihnen reden will, ist das ok. Aber mit seiner Frau wird noch niemand reden, das kann noch einige Tage so weitergehen. Bitte halten Sie die Beamten im Auge, wenn die hier sind. In der Regel scheren die sich nicht einen Deut darum, was wir meinen und entscheiden, klar?“ Seine Augen, dunkelbraun, voller Wärme und Willenskraft blicken direkt in ihre und sie befürchtet, er könnte plötzlich alle ihre Gedanken lesen. „Nein, äh, ja, ok, ich werde die Leute im Auge behalten und lasse sie rufen, wenn sie angekommen sind.“ „Prima, bis nachher“, verabschiedet sich Rainer Will, der Traum aller Schwestern des Klinikums. „Was macht der wohl privat?“, denkt Annegin und lächelt über sich selbst. „Na, das werden wir noch herausfinden.“ Und mit einem Schmunzeln auf den Lippen sieht sie dem sexy Hintern des jungen Mannes beim Gang über den Flur hinterher.
„Was sagst Du, gleiche Tatwaffe, Tatzeit?“ Mit ernstem Gesicht drängelt Niels Behrendt seinen Kollegen von der Kriminaltechnik zu einer frühen Aussage. Die Einsatz- und Tatbesprechung zum Doppelmord war noch gar nicht beendet, als sie zum neuen Tatort gerufen wurden. „Niels, ich bin kein Pathologe, aber was ich sehe, das siehst Du auch und die Anzeichen sind eindeutig. Ohne Garantie: Ja, gleiche Waffe, gleicher Täter, Tatzeit vor maximal fünf Stunden.“ Die Bank, auf der nur noch der Rumpf von Frauke Asmus in Seitenlage liegt, ist weitläufig abgesperrt. Ihr Kopf ist von einer Aluminiumfolie bedeckt und Polizisten bauen Sichtblenden aus stabilen, braunen Leinen um den Tatort herum. Niels Behrendt geht einige Meter hinter die Absperrung und zündet sich eine Zigarette an. Die Wievielte in dieser Nacht? Dreißig, Vierzig? Er weiß es nicht und es kümmert ihn auch nicht.
-Scheiße, was ist hier los- fragen seine Gedanken. „Verdammt noch mal, hier war doch heute Nacht und heute früh überall Polizei unterwegs, das kann doch nicht wahr sein.“
Hanna Peters schwingt sich auf ihr Rad, die Touren nach Hause sind für sie pure Entspannung nach den Nächten im Krankenhaus. Bis nach Horn braucht sie nicht lange, aber sie fährt gerne abseits der Hauptstraßen, denn der Verkehrslärm ist kaum auszuhalten. Ihr Umweg benötigt zwar einige Minuten mehr, ist aber wesentlich angenehmer zu fahren. Der Mann im langen schwarzen Mantel mit dem großen Hut auf der Bank am Wäldchen der Jüthornstraße gegenüber dem Krankenhaus fällt ihr zunächst nicht auf. Doch einige Meter weiter, blickt sie sich doch noch einmal um, -seltsame Type- denkt sie. Einige Radlängen weiter ist ER jedoch wieder vergessen.
ER sitzt bewegungslos auf der Holzbank unter einer riesigen Kastanie im beschaulichen kleinen Waldpark mit Blick auf das Krankenhaus. Auf seinen Beinen liegt ein aufgeschlagenes Buch, das seine tiefschwarzen Augen ohne jede Mimik zu studieren scheinen. Dafür wirkt der gespenstische Kopf auf dem knorrigen Wanderstab in seiner rechten Hand nahezu lebendig. Die ins dunkle Metall gegossenen oder vielleicht geschnitzten Augen im Kopf scheinen sich zu bewegen. Ja, man meint sogar die Gesichtszüge dieses seltsamen und auch gruseligen Fabelwesens erkennen zu können. Es wirkt lebendig. Unheimlich. Aber wer sieht das heute Morgen schon so genau, niemand. Denn niemand schaut genau hin. So bemerkt auch keiner den Raben, der ebenfalls auf der Bank Platz genommen hat. Wo kam er her?
Frieder-Ludwig-Peerfried Johannsen hat zum Frühstück keinen Bissen hinunter bekommen. Nach einer Tasse wenig schmackhaften Kantinenkaffees sitzt der sonst so aufrechte Hanseat gramgebeugt am Krankenbett seiner Frau. „Friederike“, murmelt er, „Das hat doch keinen Sinn. Komm zurück, lass mich nicht ganz allein in dieser schweren Zeit. Oder soll ich zu Dir kommen?“ Frieder streichelt ihre Hand. „Früher“, erinnert er sich leise sprechend, „früher, weißt du noch? Da wurden wir immer wegen der Namensähnlichkeit aufgezogen. Das muss ja zusammengehören, hat man gesagt. Frieder und Friederike, ja, die sind füreinander bestimmt“, dabei strahlen seine Augen kurz, aber sofort sieht er in seinen Gedanken die noch kleine Roswitha, wie sie in der Badewanne mit Plastikschiffen spielt und ihren Papa mitteilt: „Ich werde mal Kapitän, dann fahre ich die großen Schiffe!“, seine Augen füllen sich mit Tränen. Das erste Mal nach dem schweren Schock weint Frieder-Ludwig-Peefried Johannsen bitterlich. Leise schluchzend fließen die Tränen herzergreifend ohne Unterlass. Sein Körper erzittert dabei und der 68jährige ist in den vergangenen Stunden deutlich gealtert. Schock und der Kummer haben sich tief in sein blasses Gesicht gegraben. Sein Leben offenbart sich ihm in den Gedanken hinter der Tränenwand wie eine Zeitreise. Eine Reise, in der Singapur eine ganz besondere Platzierung hält. Dort, in Singapur verbrachte Frieder Johannsen Stunden, Tage und Wochen wie in einem Traum. In der pulsierenden Handelsmetropole zwischen Malaysia, Indonesien und China betrieb die „Johannsen Container & Shipping Group“ jahrzehntelang ein Handelsbüro und einige Wohnungen. Singapur war in den 80iger und 90iger Jahren sein wichtigster geschäftlicher Stützpunkt im Südostasien und Indien-Geschäft. Er erinnerte sich nur zu gut an die erste Begegnung mit der zauberhaften Indonesierin Suria Masayu, einer so charmanten und schönen wie klugen Geschäftsfrau im internationalen Fruchthandel. Aus der Begegnung wurde eine besonders erotische Nacht, aus dem einmaligen Zauber eine feste Bindung: seine private „Asia Connection“. Die liebevolle Beziehung blieb nicht ohne Folgen. 1985, noch vor der Geburt von Roswitha, erblickte seine dortige Tochter das Licht der Welt. Asmaradana Delima Suria nannten sie das Mädchen mit den schwarzen Haaren und den großen Augen. Und fortan gab es zwei Familien in seinem Leben. Er liebte beide Frauen weit über ein Maß der erotischen Anziehungskraft hinaus. Eine Trennung kam ihm nie in den Sinn und stand auch nie zur Entscheidung an. Noch gemeinsam mit ihrer Mutter regelte Frieder alle wichtigen Dinge. Seine kleine mandeläugige Tochter wurde offiziell als sein Kind registriert und erhielt nach indonesischer Tradition den zusätzlichen Namen „Johannsenputri – die Tochter von Johannsen.“ Als Suria Masayu schwer erkrankte und der Lymphdrüsenkrebs viel zu spät erkannt wurde, war Asmaradana Delima gerade 7 Jahre alt.
Fünf Monate später starb Suria Masayu. In tiefer Trauer suchte Frieder ein angemessenes Internat für die Kleine und gab sie in einer so berühmten wie teuren Eliteschule in Obhut. Mehrmals im Jahr besuchte er sie und es entwickelte sich eine harmonische Beziehung. Als Asmaradana 12 wurde, bereiste er mit ihr einen Monat lang Europa und bemerkte voller Stolz, wie klug und sprachbegabt seine exotisch schöne Tochter war. Vielleicht sogar klüger als sein Sonnenschein in der Heimat. Doch als junge Frau entwickelte Asmaradana einen sehr eigenen, für ihn nicht ergründbaren Charakter. Sie beteiligte ihren Vater nicht mehr an ihrem Lebensweg. Frieder sorgte für sie auf diplomatische Weise, aber weltliche Güter lockten Asmaradana ebenso wenig, wie die westliche Kultur. „Wenn ich dir das alles doch nur erzählen könnte“, schluckt Frieder und streichelt seine Frau zärtlich. „Vielleicht würdest du es verstehen, vielleicht würdest du mich nicht verstoßen.“ Doch Friederike-Liselotte antwortet nicht.
09:30 Uhr. Niels Behrendt geht nachdenklich den Weg entlang, den das Opfer vermutlich beschritten hat, bevor sie ihrem Mörder begegnete. Um ihn herum wuseln Polizisten, sie suchen akribisch den Boden nach irgendwelchen Spuren ab. Auf dem „Dovenfleet“ und „Zippelhaus“ haben sich Schaulustige bis zu den „Mühren“ gesammelt. Niels bemerkt erst jetzt bewusst den Menschenauflauf. Bis zur Promenade stehen die Menschen und gaffen. Hunderte erhoffen sich einen kleinen Nervenkitzel oder eine Entdeckung, mit der sie angeben können. Viele stehen auch nur aus reiner Neugierde dort. Ein so großes abgesperrtes Areal war sensationell, das hatten sie noch nicht erlebt. „Ich auch nicht“, grübelt Niels Behrendt, nein, an eine solche Spurensicherung konnte er sich nicht erinnern. Das hat es in Hamburg wohl auch noch nicht gegeben. Mehr als 80 Beamte sind im Einsatz. Doch eigentlich wusste Niels schon jetzt, dass keine weiteren Spuren zu finden sind. Aber ein Gefühl bohrte in ihm: hier in der Speicherstadt muss die Lösung sein. Das Grauen begann hier und wiederholt sich. Wie oft noch? Vielleicht ist es etwas Mystisches, bei diesem Gedanken muss der schlaksige Kripomann vom alten Schlag sogar schmunzeln. „Klar, das Böse ist unterwegs und nicht zu stoppen“, flüstert er, doch das Schmunzeln ist ihm schon wieder vergangen. Mit schnellen Schritten ist er wieder am Ort des grausigen Leichenfunds. „Bernd, kannst du hier weg und die Dinge deinem Team überlassen?“ Bernd Struck in seinem weißen Overall blickt irritiert, „Na ja, eigentlich schon, alles weitere ist Sache der Pathologen. Was gibt’s denn?“ Niels schnippt seine Zigarette in den Kanal und antwortet: „Lass uns zu ihr nach Hause fahren, ich will mich in der Wohnung umsehen und es ist besser, wenn Du gleich dabei bist“, Bernd Struck nickt. „Sollen wir noch ein paar helfende Hände mitnehmen?“, fragt Struck, als er sich die Plastiküberschuhe abstreift. „Ne, lass uns die Wohnung erst mal nur oberflächlich prüfen. Ich möchte wissen, mit wem wir es zu tun haben, alles Weitere sehen wir dann.“
Während der Fahrt durch die turbulente Innenstadt in Richtung Schanzenviertel schweigen Bernd Struck und Niels Behrendt. Beide sortieren ihre Gedanken. Die berüchtigte „Schanze“ ist voller Leben. Hier pulsiert Multikulti in höchster Vollendung. Langsam tastet sich der Opel Astra durch die Bartelsstraße und findet natürlich keinen Parkplatz. Niels kurbelt sich mühsam durch Anliegerstraßen. „Wie kann man hier wohnen“, fragt Bernd Struck ohne Niels Behrendt direkt zu meinen. „Dieser Lärm, das hört doch nie auf, Tag und Nacht. Dann die brennenden Autos und alle paar Monate eine Straßenschlacht wegen dem alten Gemäuer, das würde ich nicht durchhalten.“ Struck meinte die „Rote Flora“, ein verfallenes Gebäude mit langer Geschichte.
Langsam rangiert Niels das Auto in eine Lücke zwischen Müllcontainern und einem alten Ford Transit. „Steig schon mal aus, die Tür geht gleich nicht mehr auf“, fordert Behrendt seinen Kollegen auf. Das Wohnhaus ist typisch für das Schanzenviertel. Fünf Geschosse, gebaut in den frühen Siebziger Jahren. Es wirkt ein bisschen heruntergekommen, was es hier aber unauffällig macht. Hässliche Graffiti, wilde Schmierereien, und bröckelnder Putz. Frauke Asmus wohnt oder besser wohnte in der dritten Etage und Niels öffnet die grau gewordene Tür mit dem alten Spion und einem Durchsteckbriefkasten, wie er früher üblich war. „Zumindest habe ich den richtigen Schlüssel gefunden“, meint Niels beim öffnen. Beide lassen den Flur und die Atmosphäre auf sich wirken, ohne sofort einzutreten. Es riecht dezent nach abgestandenem Essen, es ist still. Eine alte Kommode mit einem aufgesetzten Spiegel steht links an der Seite, daneben der Garderobenständer mit einer Regenjacke und einem Wintermantel. Zwei gemalte Bilder aus den 60iger und 70iger Jahren hängen als Kunstdrucke gegenüber an der Wand. Der erste Eindruck bestätigt sich beim Rundgang. Die Wohnung ist aufgeräumt und sauber, aber nicht klinisch rein. Auf dem Küchentisch stehen noch die Tasse für den Frühstückskaffee und Besteck mit einem Brotbrett aus Holz. Eine alte Illustrierte liegt herum, ansonsten ist keine Unordnung zu sehen. „Sie scheint alleine zu sein, keine Männersachen. Auch nichts, was auf Kinder oder Enkel hinweist“, sinniert Niels Behrendt. Langsam und konzentriert schlendert er durch die zweieinhalb Zimmerwohnung. Im Wohnzimmer stehen ein auffälliger Röhrenfernseher und eine kleine Kompaktstereoanlage mit der klassischen Wohnzimmerausstattung drum herum. Ein kleines, abgewetztes, dunkelgraues Sofa und dazu ein passender Sessel. An der Wand einige Schwarz-Weiß und auch ein paar Farbfotos. Niels studierte jedes Bild. „Das scheinen Erinnerungsbilder zu sein, aber sie selbst ist nirgendwo abgebildet“, spricht er mehr zu sich selbst, als zu seinem Partner. Bernd Struck schaut zum Sessel: „Das wird ihr abendlicher Platz gewesen sein, Fernseher an und sich berieseln lassen. Keine Hobbys, wenig oder gar kein Besuch. Wonach suchen wir?“ Niels Behrendt bleibt stehen. „Ich weiß es nicht genau. Irgendwas, das uns etwas über Frauke Asmus erzählt. Etwas Aktuelles oder aus der Vergangenheit, irgendwas, das einen Zusammenhang erbringt. Kannte sie ihren Mörder? Kannte der Mörder sie? Oder ihre Familie? Ich will, dass es einen Zusammenhang gibt, ich weiß es einfach. Da sind zwei lose Enden und wir müssen sie verbinden.“ Niels will sich wieder eine Zigarette anzünden, doch Bernd Struck macht eine verneinende Fingerbewegung. „Verpeste die Luft nicht, das verändert die Atmosphäre hier und dann kann ich nicht denken!“ Niels versteht das und die Zigarette bleibt unangezündet zwischen seinen Lippen. „Bernd ich möchte, dass deine Leute im Bad und hier ein paar Spuren einsammeln. Fingerabdrücke, Fasern, was auch immer. Wir haben zwar schon eigene Spuren hinterlassen, aber wer weiß. Vielleicht gibt es im Bad oder auf Klo DNA die nicht Frauke Asmus gehört. Und ich möchte alles Private haben: Fotoalben, Briefe, Dokumente, also auch alle Fotos mit Rahmen von dieser Wand. Im Labor sollen sie versuchen festzustellen, wann die Abzüge gemacht wurden und in welchem Jahr die Bilder entstanden. Einen Computer scheint sie ja nicht zu haben, ansonsten auch den. Bekommt ihr das zeitnah hin?“ Bernd verzieht das Gesicht, „Dann müssen wir uns mit einer anderen Dienststelle oder gleich mit der KTU kurzschließen.“ Eine Antwort bleibt Niels Behrendt schuldig, für ihn ist es nun abgemacht. Nach der Versiegelung der Eingangstür machen sich beide wortkarg auf den Weg ins Präsidium. Endlich kann sich Behrendt die am Filter schon aufgeweichte Zigarette anzünden.
Bernd Struck und Niels Behrendt kennen sich schon seit mehr als vierzig Jahren. Die beiden norddeutsch wortkargen Polizisten wuchsen im gleichen Stadtteil auf und besuchten auch bis zum Umstieg auf das Gymnasium die gleichen Schulen. Behrendt bewarb sich mit einem ganz anständigen Abitur erfolgreich bei der Polizei, als Struck mit seinem glänzenden Fachabitur die technische und elektrotechnische Fakultät besuchte. Behrendt gab seinem ehemaligen Spiel- und Spaßkameraden den Tipp, dass das LKA die Spurensicherung und die Kriminaltechnik vehement erweitert, es würde aber an Fachleuten mangeln. Struck absolvierte das Bewerbungsverfahren neugierig mit der Freude am Wettbewerb. Seine Beobachtungsgabe und das besondere Talent sich alles exakt anscheinend unbegrenzt merken zu können, brachten ihn im Prüfungsverfahren weit nach vorne. Zu guter Letzt musste er einfach nur entscheiden, ob er diese Laufbahn einschlagen will. Er wollte. Denn hier wurden sein Wissen und sein Talent benötigt, zeitgleich gab es viel zu entwickeln und aufzubauen. In der freien Wirtschaft war ein Vorankommen weniger gesichert. Behrendt ist ein „Bulle“ der alten Schule. Mittlere Laufbahn, vom Revier-Einzeldienst bis zum KDD, zwischendurch Lehrgänge. Durch seine zielorientierten und erfolgreichen Jobs in Projekten und Sonderermittlungen kam er zum LKA. Kumpel Struck war da schon Gruppenleiter der Spurensicherung und half durch sein Wissen auch innerhalb der KTU immer wieder mal aus. Aber die reine Labor- und Untersuchungsarbeit wäre ihm zu eintönig gewesen, ihn faszinierte die Arbeit vor Ort. Struck und Behrendt verstanden sich schon früher ohne viele Worte und ihr Mix aus verschiedenen Erfahrungen und Talenten führte sie oft zum Erfolg. „Ich steige am AK Wandsbek aus, konferieren können die anderen. Ich muss mit den Eheleuten Johannsen reden“, bestimmt Behrendt nach einer halben Zigarettenlänge.
11:00 Uhr. ER sitzt noch unbeweglich auf der Bank. Nur der Rabe macht einen kleinen Ausflug zum Gebäude des Krankenhauses. Mit einer plumpen Bewegung landet der schwarze Vogel auf den verchromten Metallröhren des kleinen Fenstergeländer am Krankenzimmer von Friederike-Liselotte Johannsen. Seine Augen starren hinein und mit einem niedergeschlagenen Blick schaut Frieder Johannsen zum Fenster, das sich wie eine Balkontür öffnen ließe. Doch der Balkon davor wurde wohl vergessen oder eingespart. Er schaut auf den düsteren Gesellen, der ihn direkt ansieht. „Was willst du? Mich holen? Meine Frau oder uns beide? Du tust uns einen Gefallen damit“, seufzt der erschöpfte, einst so dynamische Hanseat. Unerwartet schaut ER von der Bank zum entfernt liegenden Fenster hinauf und seine Gedanken flüstern: „Habt ein wenig Geduld, es soll geschehen, alles wird sich ändern.“