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Ende November in Bayern

„Hallo und einen wunderschönen guten Morgen, liebe Hörer und Hörerinnen. Ich bin Kathrin Müller und begrüße euch zum Guten-Morgen-Programm aus dem Sendestudio München. Es ist jetzt genau fünf nach fünf und ich freue mich, dass ihr unseren Sender eingeschal…“

Rums.

Mit einem Schlag auf den Radiowecker war Ruhe. Zumindest vom Radio.

„Halt die Klappe, du doofe Nuss“, nuschelte es unter der Decke, „ich will mich nicht freuen. Ich will schlafen und das lange!“

Daniel Huber drehte sich noch mal um. Eine Minute noch. Draußen war es kalt, dunkel und dem Monat November entsprechend nebelig feucht. Warum sollte er die warme, weiche Betthöhle verlassen? Gestern Abend, Sonntag, war es wieder spät geworden – zu spät wie Daniel an seiner narkoseschweren Müdigkeit spürte. Zunächst hatten er und seine Freunde nach einem seit Jahren feststehenden Sonntagabend-Ritual den Fernsehkrimi „Tatort“ geguckt. Und der war wieder gut, wie immer, wenn die Münsteraner Ermittler agieren. Später, nach dem Tatort, saßen sie noch lange zusammen, tranken einige Liter Bier und bestellten weit nach Mitternacht noch eine große Familien-Pizza bei einem Lieferservice.

Warum wurde er eigentlich nie klüger und verzichtete auf das Wettsaufen und ging stattdessen sonntags mal früh schlafen? Immer diese Quälerei am Montagmorgen! Und heute fühlte er sich, als würde er 300 Kilo wiegen. Dabei war Daniel Huber nur mittelgroß und er hatte eine eckige, magere Figur.

Er war 25 Jahre alt, lebte in einem möblierten Zimmer zur Untermiete bei einer Vermieterin, die genau darauf achtete, dass Daniel seine Schuhe im Flur auszog. Frauen durfte er über Nacht nicht mit in das Zimmer nehmen und die Küchenbenutzung unterlag genauen Uhrzeiten, die nie zu Daniels Hungergefühlen und Essgelüsten passten.

Seine berufliche Laufbahn war keine Bahn, sondern eine ungebremste, schnelle Fahrt abwärts.

Zwei Ausbildungen brach er ab, weil er sich mit den Vorgesetzten nicht verstand. Danach folgten nur noch Gelegenheits- und Aushilfsarbeiten: In einer Großschlachterei zerteilte er Schweine, in einer Bäckerei mussten Brötchen nach Norm geformt werden und in einem Lager war er für Verpackungseinheiten zuständig. Aus allen Arbeitsstätten flog Daniel aufgrund seiner Faulheit und Langsamkeit raus. Dabei träumte Daniel von einer festen Arbeit, die ihm Spaß machte und bei der er so viel Geld verdienen konnte, dass er sich endlich eine richtige Wohnung und ein Auto leisten konnte. Dann würden ihm auch die Mädchen nicht mehr weglaufen. Seinen jetzigen Job hatte er vor einer Woche als Hilfsarbeiter bei einem Seil- und Tauwerkhersteller angetreten. Bislang gab es über ihn keine Klagen und er hoffte, einen unbefristeten Vertrag zu bekommen.

Während Daniel dumpf zwischen Traum und Wach döste, lief in seinem Kopfkino der Film „Ich-kauf-mir-einen-Porsche.“ Just als er im Traum aufs Gaspedal seines neuen Wagens trat, sprang die Snooze-Funktion seines Radioweckers an: „Money, money, money must be funny in a rich man’s world.“

‚ABBA! Die haben ausgesorgt‘, dachte Daniel und schälte sich schwerfällig aus den krumpligen Decken.

Um kurz nach sieben stand Daniel an seinem Arbeitsplatz in der großen Halle der Seilerei.

‚Was hatte der Vorarbeiter am Freitag gesagt? Die roten Fäden kommen nach oben und die grünen nach unten. Oder doch anders herum? Grün oben und rot unten.‘ Daniel sah sich hilfesuchend um. Seinen Kollegen ging die Arbeit flott von der Hand. Der Vorarbeiter war nicht zu sehen. ‚Ach, ist ja auch egal, was unten und was oben hängt, rot und grün wird sowieso in einem Seil verdreht. Das ändert ja an den Farben nichts‘, entschied Daniel. Und so nahm das Unglück seinen Lauf. Die Maschinen an der Reeperbahn drehten zwei Farben völlig verkehrt.

Nachdem ungefähr 300 Meter Standard-Festmacher-Leine für den Wassersportbedarf gedrillt waren, kam der Vorarbeiter und sah das Fiasko. Mit einem Klick stellte er die Maschine ab, nahm das Seil aus der Rolle und stellte es auf einen Handwagen.

„Wenn wir das nicht verkaufen können, zieh ich dir das vom Lohn ab, du Schnarchsack! Alles falsch! Sag mal, kannst du oben nicht von unten und rot nicht von grün unterscheiden? Geh ins Büro und hol dir deine Papiere!“

‚Okay, mach ich. Dann kann ich morgen ausschlafen. Hat auch was.‘

Ende Juni auf der Ostsee

Jochen Petersen, Eigner und Kapitän der PAULINE, einem klassischen zwölf Meter langen Fischkutter mit blauem Anstrich und weißen Aufbauten, blickte besorgt in den südwestlichen Morgenhimmel, an dem sich dunkle Wolken formierten. Schwerfälliger, grauer Seegang schob sich unter den Kutter und ließ ihn unregelmäßig rollen und nicken. Die im Mai begonnene Schönwetterperiode würde jetzt – Ende Juni – höchstwahrscheinlich mit dem aufziehenden Unwetter zu Ende gehen.

Sie fischten zu zweit. Sein Sohn Uwe arbeitete an Deck und er, Jochen, steuerte den Kutter und bediente das Fanggeschirr. Uwe trug neben einer verfilzten weinroten Pudelmütze einen wasserdichten blauen Overall, Gummistiefel und dicke gelbe Arbeitshandschuhe. Jochen Petersen gab seinem Sohn ein Zeichen, dass er das Fangnetz einholen wollte.

Wenig später hing das prall gefüllte Netz über dem Kutterdeck; Uwe löste die Zugleine und der Fang glitt in die tiefe Sortierwanne. Fische schlugen im Todeskampf mit ihren Schwänzen, hektische Krabben versuchten zu entkommen und Seesterne wölbten träge flehend ihre Arme. Im Luftraum flog das für einen Fischkutter typische Möwengeschwader mit durchdringendem Krakeel und spektakulären Luftkämpfen um die beste Position in der Nähe von Uwe, der jetzt begann, den Fang zu sortieren. Die großen Fische, das meiste waren Dorsche, rutschten unter Deck, Schollen sammelte Uwe in einem Korb, der neben ihm stand und der Beifang flog zur Freude der Möwen über Bord. Der Blick, den Uwe mit seinem im Ruderhaus stehenden Vater tauschte, beurteilte den Fang und bedeutete so viel wie: ‚Könnte besser sein, aber was soil’s? Wir sind Fischer.‘

Während die PAULINE mit monotonem Dieselmotorbrummen Kurs auf ihren Heimathafen Langballigau an der äußeren Flensburger Förde nahm, arbeitete Uwe – die Schiffsbewegungen breitbeinig abfedernd – mit stoischer Routine weiter an der Sortierwanne. In seinem Mundwinkel hing eine erkaltete Zigarette. Er griff in das zuckende Gewimmel von Fischen und Schalentieren. ‚Oh-ha, da hat Vadder wohl einen Tümmler erwischt!‘ Uwe zog kräftig an einem Stück, das er für die Schwanzflosse eines Tümmlers hielt. Seine Hand rutschte immer wieder ab, er bekam das Stück nicht zu fassen. Schließlich nahm er ein Gaff zu Hilfe, schlug den Haken in das vermeintliche Schwanzende des Tümmlers und zog das schwere Etwas hervor. Die Zigarette fiel aus Uwes Mundwinkel, erschrocken sah er in die Richtung seines Vaters, aber sah dieser auch, was in der Wanne lag?

Uwe sah einen nackten menschlichen Fuß mit rosa lackierten Fußnägeln und Teile eines Frauenkörpers.

25. März in Hamburg

Eine Schlägerei in Altona mit mehreren Verletzten hatte das pünktliche Ende der Spätschicht von Dr. Stefan Martin verhindert. Stefan Martin war Assistenzarzt am Universitätsklinikum Eppendorf. Die jungen Assistenzärzte übernahmen zu Beginn ihrer Ausbildung den undankbaren Job in der Notaufnahme des UKEs, in der nie Ruhe einkehrte und die Mediziner von geregelten Arbeitszeiten nur träumen konnten. An diesem Abend war es zunächst ruhig, es gab Einlieferungen aufgrund von Haushaltsunfällen oder Sportverletzungen. Stefan schaute auf die Uhr, wenn jetzt nicht noch etwas passierte, wäre er in einer Stunde bei seiner Frau Sofie, die offiziell noch nicht seine Frau war. Sie würden jedoch bald heiraten, auf jeden Fall bevor das Kind kam, mit dem Sofie seit einigen Wochen von ihm schwanger war. Seine Gedanken wurden durch den Notfallpieper unterbrochen. ‚Mist!‘

Drei Jugendliche hatten eine Prügelei unter Alkoholeinfluss begonnen und sich mit Bierflaschen, denen sie die Hälse abschlugen, heftig verletzt. Zwei Patienten ließ er gleich in die Not-OP bringen. Einen Verletzten konnte er in der Ambulanz versorgen. Danach erledigte er den Papierkram und machte sich anschließend auf den Heimweg. Von unterwegs rief er Sofie an: „Hi, ich bin’s, Pappi! Seid ihr noch wach? Ich bin gleich bei euch! Haltet das Bett warm. Pappi kommt nach Hause.“

Stefan hatte 30 Stunden Dienst im Krankenhaus hinter sich, er war erschöpft und nicht mehr konzentriert. Das Telefon glitt ihm aus der Hand und fiel in den Fußraum. Stefan Martin versuchte mit der Hand nach dem Telefon zu angeln und gleichzeitig über das Lenkrad zu spähen. Er sah, dass er das Telefon nicht ausgeschaltet hatte und bückte sich tief unter das Lenkrad, um das Telefon zu greifen. Es gelang ihm und er richtet sich wieder auf. In diesem Moment sah er die dunkle Limousine, die stadteinwärts auf der Vorfahrtsstraße unterwegs war. Stefan bremste mit aller Kraft.

Im Sitzungszimmer eines renommierten Restaurants einige Kilometer östlich von Hamburg saßen sieben Personen um einen rötlich glänzenden Besprechungstisch.

„Meine Herren, ich danke Ihnen. Wir werden die Finanzierungsbeispiele wie besprochen vorbereiten. Sie erhalten die Unterlagen mit dem Protokoll.“

Johannes C. Luehrs, Seniorchef und Inhaber der gleichnamigen Reederei in Hamburg, sah sich in der Runde von vier weiteren Reedern und zwei Herren, die die Interessen eines Hamburger Kreditinstitutes vertraten, um. Neben Johannes Luehrs saß seine langjährige Assistentin und Sekretärin, Marion Meisters. Sie hatte das Protokoll über dieses informative Treffen, welches in Reedereikreisen absolut geheim bleiben musste, geführt.

Auf Frau Meisters’ Diskretion war tausendprozentig Verlass. Aber auf Frau Meisters war nicht nur Verlass, sie war auch eine Augenweide. Das Alter von Ende 30 sah man der rassigen, langbeinigen schönen Frau nicht an. Sie kleidete sich, ihrer Stellung entsprechend, sehr stil- und geschmackvoll. Zum Sitzungstermin trug sie ein dunkelgraues Kostüm, der Rock war eng und umspielte die Knie. Die Jacke: kurz, tailliert, darunter eine weiße Bluse ohne Kragen mit Perlmuttknöpfen. Die langen schwarzen Haare wurden von einer zu den Knöpfen passenden Spange zu einem Zopf zusammengefasst.

„Ich lege meine Hand für diese Mitarbeiterin ins Feuer“, ließ Johannes Luehrs zeitweilig verlauten.

Im Anschluss an die Sitzung war ein gemeinsames Abendessen geplant. Danach saßen die Herren und Marion Meisters noch lange bei Kaffee und Cognac und spekulierten über die Pläne, die sie mit einer auf finanzielle Schlagseite geratenen Bremer Reederei hatten. Da Johannes Luehrs zum Essen einige Gläser Rotwein trank, hielt Marion Meisters sich zurück und trank Mineralwasser. Marion Meisters ging davon aus, dass sie ihren Chef – wie sie es häufig nach Sitzungen oder ähnlichen Treffen tat – heimbringen musste. Sie tat dies stets mit Nonchalance, obwohl die Fahrt nach Blankenese, dem Wohnort ihres Chefs, viel Zeit in Anspruch nahm. Sie genoss das Fahren mit der edlen Firmenlimousine und stellte sich vor, es wäre die ihrige und sie hätte einen Fahrer …

Als die Gruppe aufbrach, war es bereits nach 23 Uhr, der Hamburger Straßenverkehr war schwächer geworden. Sie kamen gut voran. Marion Meisters kannte ihren Chef gut. Sie wusste, er wollte jetzt nicht reden, sondern noch mal über die geplanten Transaktionen nachdenken. Vermutlich würde er ihr für den morgigen Arbeitstag noch eine Aufgabe mit in den Feierabend geben. Sie gähnte verhalten. Es war wirklich spät. Sie fuhren als einziges Fahrzeug auf einer Vorfahrtsstraße stadteinwärts, die Ampeln waren zu dieser Stunde abgeschaltet. Plötzlich wurde der schwere Wagen von einem von rechts kommenden Kleinwagen kräftig getroffen. Der Kleinwagen prallte ab und überschlug sich, bis er an einem Laternenpfahl hängen blieb. Der Wagen von Johannes Luehrs hatte sich lediglich gedreht und stand jetzt in umgekehrter Fahrtrichtung.

„Ist Ihnen etwas passiert?“, fragte Johannes Luehrs. Marion schüttelte den Kopf. Sie war geschockt und spürte den Aufprall und die Vibration immer noch in den Knochen. Ihr Chef war ausgestiegen und befahl: „Kommen Sie, Frau Meisters, wir müssen Hilfe holen und nachsehen, was mit dem Fahrer ist. Steigen Sie hier aus, die Beifahrertür ist eingedrückt.“

Marion Meisters kletterte über den Fahrersitz und stand jetzt neben ihrem Chef. Sie konnte seinen intensiven Alkoholatem riechen.

Ihr Chef sagte: „Setzen Sie sich wieder rein und stellen Sie den Sitz auf Ihre Fahrposition ein. Sie haben den Wagen gefahren, ist das klar?!“

Marion war noch immer wie betäubt und folgte, ohne nachzudenken oder Einspruch zu erheben, den Anweisungen ihres Vorgesetzten. Sie wusste, dass Johannes C. Luehrs nicht in einen Unfall verwickelt werden durfte. Er hatte neben dem Wein zum Essen anschließend zum Kaffee diverse hochprozentige Obstbrände getrunken. Beim Aufbruch war sie selbstverständlich zur Fahrerseite gegangen, Johannes Luehrs hielt sie zurück und sagte, keinen Widerspruch duldend: „Ich fahre.“

26. März in Hamburg

In einer imposanten Villa in Hamburg-Blankenese frühstückten Johannes C. Luehrs und seine Gattin Dorothea im Wintergarten, aus dem man einen prachtvollen Blick auf den parkähnlichen Garten und auf die Elbe genoss. Dorothea war zehn Jahre jünger als ihr Gatte, man sah ihr an, dass sie keine Sorgen hatte und viel Zeit und noch mehr Geld in die Konservierung ihrer gepflegten Erscheinung investierte.

Telefonklingeln störte die harmonische Frühstücksroutine des Hanseatenpaares. Johannes Luehrs nahm den Hörer ab. Er hörte mit ernster Miene zu, nickte leicht mit dem Kopf und sagte schwer ausatmend: „Danke“, bevor er das Gespräch beendete. Seiner Frau erklärte er: „Der Fahrer ist tot. Sie konnten ihn nicht retten.“

Dr. Stefan Martin war plötzlich und unerwartet gestorben. Das ungeborene Kind würde seinen Vater nie kennenlernen.

Dorothea Luehrs griff an den Unterarm ihres Mannes und sagte: „Johannes! Um Gottes Willen …! Wie schrecklich! Du hast keine Schuld – oder? Und Frau Meisters doch auch nicht, sagtest du? Sie ist doch gefahren? Ihr hattet doch Vorfahrt! Was machen wir denn jetzt? Muss Frau Meisters verhört werden?“

Dorotheas Griff wurde stärker. Johannes Luehrs tätschelte beruhigend die Hand seiner Frau: „Nein, nein, meine Liebe, mach dir keine Sorgen. Es ist schon alles erledigt. Wir haben Blutproben abgegeben und Frau Meisters hat zu Protokoll gegeben, dass sie am Steuer saß. Sie war völlig nüchtern. Ich bin als Zeuge befragt worden. Ich weiß nicht, ob noch mehr kommt. Ich werde es ja in der Firma erfahren, der Wagen ist auf die Reederei zugelassen.“

Die Reederei, die seinen Namen J. C. Luehrs-Shipping trug, und der Erfolg seines Unternehmens waren sein Ein und Alles neben Jasper Magnus, dem gemeinsamen Sohn, den er mit Dorothea hatte. Jasper Magnus war als Junior in der Reederei erfolgreich und würde nach dem Ausscheiden seines Vaters die Geschicke der Firma verlässlich weiterführen. Sie verstanden sich prächtig, zwischen ihnen gab es kaum eine Vater-Sohn-Konkurrenz. Sie wussten, was sie voneinander zu halten und zu erwarten hatten.

Johannes C. Luehrs wurde vor 62 Jahren in Emden geboren. Nach dem Abitur begann er eine Ausbildung zum Schifffahrtskaufmann. Er absolvierte seinen Wehrdienst und bewarb sich in Hamburg bei Hapag-Lloyd. Dort sammelte er Erfahrung und bald stand fest: Er wollte auch Schiffe besitzen. Ein bescheidenes Erbe, welches er seiner begüterten Großmutter väterlicherseits aus Ostholstein verdankte, trug er zur Bank und hörte sich um. Aus dem Konkurs einer kleinen Stückgutreederei ersteigerte er den ersten Frachter, den er BLUE SEA taufte. Ende der sechziger Jahre wurde deutlich, dass Container das Behältnis der Zukunft waren. Containertransporteure benötigten passende Schiffe. In Bremen begann man die Häfen auszubauen und in Bremerhaven die europaweit modernste Containerkaje an der Weser anzulegen. Die Hamburger Stadtväter zogen nach und bauten Containerladebrücken im Hamburger Hafen. Mit einer glücklichen Hand für das Geschäft und aufgrund des Container-Booms sowie seiner freundschaftlichen und guten Kontakte zum Hamburger Senat konnte Johannes Luehrs in den nächsten Jahren weitere Schiffe bereedern. Ununterbrochen expandierte die Reederei. Die weltweit größten Reedereien wie Maersk, Hapag oder MSC wurden in einem Atemzug mit der Hamburger Reederei Johannes C. Luehrs Shipping genannt. Im letzten Sommer wurde die BLUE DIAMOND, ein Containerschiff mit einer Ladekapazität von 11.000 Containern, getauft. Damit gehörten die Luehrs-Schiffe zur modernsten und erfolgreichsten Flotte im nordeuropäischen Raum. In Hamburg war Johannes Luehrs ein angesehener Bürger. Gremien von Rang und Namen wetteiferten um seine Gunst und um die Ehre, Johannes C. Luehrs als Vorsitzenden und damit als Fürsprecher zu gewinnen. Natürlich verkehrte er auch privat mit dem Bürgermeister und hatte nach wie vor gute Freunde unter den Senatoren und Abgeordneten in der Hamburger Bürgerschaft.

Mit dem Innensenator verband ihn eine lange Freundschaft, sie hatten sich damals bei Hapag kennengelernt und verstanden sich erstklassig. Heute pflegten sie ihre Beziehung während gemeinsamer Segeltörns – wenn die Terminsituation es erlaubte – auf der BLUE BALTIC, einer der Reederei gehörenden Segelyacht, die Johannes auch nutzte, um mit Geschäftspartnern in lockerer Atmosphäre zum Abschluss zu kommen.

Die BLUE BALTIC hatte ihren Heimathafen in Hamburg – so stand es im vergoldeten Schriftzug am klassischen schmalen Yachtheck. In den Sommermonaten lag die 15 Meter lange weiße Yacht jedoch in Kiel an der Förde oder in der dänischen Stadt Sonderburg am Alsensund.

Bevor Johannes Luehrs am Morgen nach dem Unfall in die Reederei fuhr, besuchte er seine Mitarbeiterin, die er für heute beurlaubt hatte. Marion Meisters war unverheiratet und wohnte allein. Obwohl Johannes seine Sekretärin sehr attraktiv fand, hatte er, auch wenn es ihm zeitweilig schwerfiel, keine Affäre mit ihr. Er schätzte ihre Arbeit und Loyalität und wollte langfristig keine Unruhe im Reedereibüro. Für die sexuellen Bedürfnisse und Ausschweifungen eines Mannes in seiner Stellung gab es in Hamburg genügend Frauen. Frauen, die einem Mann reichlich Spaß und Vergnügen bereiten konnten. Natürlich waren solche Abende nicht billig. Locker gab er – wenn er mit Geschäftsfreunden eine Sause machte – etliche tausend Euro aus. Er zahlte jedoch gerne, solange er seine Unabhängigkeit behielt.

Johannes Luehrs hatte an der Wohnungstür von Frau Meisters geklingelt und sagte, als seine Mitarbeiterin ihm öffnete: „Liebe Frau Meisters“, im Büro nannte er sie manchmal Meisterin, „ich wollte schauen, wie es Ihnen geht.“

Er wickelte Blumen aus und überreichte seiner Mitarbeiterin einen zierlichen Frühlingsstrauß.

„Kommen Sie doch bitte herein, Herr Luehrs.“

Marion Meisters nahm ihm die Blumen ab und sagte doch tatsächlich und überflüssigerweise: „Aber das hätte doch nicht nötig getan! Treten Sie bitte näher, darf ich Ihnen etwas anbieten?“

Johannes steuerte auf eine gemütliche Sitzgruppe zu und setzte sich unaufgefordert. Er sah sich im modern eingerichteten Wohnzimmer um und fragte sich, warum seine attraktive Mitarbeiterin scheinbar allein lebte. Ob sie einen Freund hatte?

„Ich bin gekommen, um zu sehen, ob es Ihnen gut geht. Und um Ihnen zu sagen, dass der Fahrer des Wagens heute Morgen gestorben ist.“

Marion wurde blass und setzte sich. Sie konnte nichts sagen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Nach Aktenlage hatte sie einen Menschen auf dem Gewissen. Nur sie und ihr Chef wussten, wie es wirklich gewesen war.

„Kann ich irgendwas für Sie tun?“, fragte Johannes.

„Nein, nein. Es ist schon gut, dass ich heute nicht ins Büro muss. Es geht schon.“

„Liebe Frau Meisters, meine Frau und ich sind Ihnen unendlich dankbar – das verstehen Sie doch? Also, wir haben uns überlegt, was wir für Sie tun können. Haben Sie einen Wunsch, der schon lange unerfüllt ist?“

Langsam dämmerte es Marion, was ihr Chef sagen wollte. Wenn sie es geschickt anging, war der Unfall der letzten Nacht für sie wie ein Sechser im Lotto. Sie würde ihren Job bei J. C. Luehrs-Shipping nicht aufgeben, denn es könnte wichtig sein, dass sie auf der Kommandobrücke der Reedereiverwaltung das weitere Geschehen live mitbekam.

„Ich verstehe, Herr Luehrs. Vielen Dank für das Angebot. Sie wissen, ich bin sehr zufrieden bei Ihnen in der Reederei. Vielleicht könnten Sie die Personalabteilung informieren, dass ich in Zukunft mehr Verantwortung habe und deshalb eine Gehaltserhöhung bekomme?“

Das war geschickt argumentiert und formuliert.

„Natürlich, Frau Meisters, natürlich. Gar kein Problem.“

Es freute ihn, dass sie nicht dreist wurde und somit der Reederei treu blieb. Auch er hatte ein Interesse, Marion Meisters im Auge zu behalten. Wenn die Sache mit dem Unfall rauskam, wäre er erledigt, gesellschaftlich auf jeden Fall. Und das nationale Geschäft würde zugleich unter seiner Entgleisung leiden.

In der Woche nach dem Unfall kam Jasper Magnus Luehrs in das Büro seines Vaters. Er fragte höflich: „Hast du einen Moment Zeit, Papa?“

Die Anrede Papa nutzte Jasper selten. Wenn Dritte dabei waren, sprach er seinen Vater mit Boss oder John an.

„Ja, was gibt es denn?“

Jasper Magnus hatte Papiere in der Hand und wedelte mit einem Blatt.

„In dieser Abrechnung über das letzte Gehalt von Frau Meisters ist ein dicker Fehler. Schau mal, was wir ihr überwiesen haben.“

„Das ist okay. Lass es gut sein, Junge.“

„Es hat etwas mit dem Unfall zu tun, nicht wahr?“

Sein Vater sah ihn lange an und war einerseits sehr stolz auf seinen Sohn und dessen Cleverness, andererseits gab es nun einen weiteren Mitwisser, der von seiner Schuld am Tod eines Menschen wusste.

„Sag Deiner Mutter nichts davon. Sie glaubt an die offizielle Version.“

„Okay, Boss.“

Hanseaten-Mord

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