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Kapitel 1
ОглавлениеSamstag, 31. Oktober, 12.00 Uhr
Captain Harpers Beerdigung war eine schöne Trauerzeremonie gewesen. Schön, im Sinne von wertvoll für die Hinterbliebenen. Für die Menschen, die einen geliebten Mitmenschen verloren hatten, und von denen ließ Conrad Harper einige zurück.
In der ersten Reihe hatten seine Frau – in schwarz gekleidet und mit schwarzem Schleier am schwarzen Hütchen – und seine beiden mittlerweile erwachsenen Söhne Platz genommen. Dahinter saßen die übrigen Verwandten und Freunde. Auf der anderen Seite erkannte Hope viele Officer, Detectives und höherrangige Polizisten des Shreveport Police Departments. Der Bürgermeister persönlich war anwesend und las eine Lobesrede, in deren Anschluss das Militär eine Ehrensalve abfeuerte. Alles, was Rang und Namen hatte, schien anwesend zu sein.
Zum Klang von Näher mein Gott zu dir begleiteten die Trauergäste Conrad Harper auf seinem letzten Weg.
Erde zu Erde; Asche zu Asche; Staub zu Staub.
Eine Schippe Sand.
Eine weiße Rose.
Tränen zum Abschied.
Beileidsbekundungen für Familie und Freunde.
Hope hielt sich gänzlich im Abstand zu den übrigen Trauergästen.
In einem schlichten schwarzen Kleid stand sie unter der großen Linde, die dem Friedhof seinen Namen gab, und trauerte dem Menschen hinterher, der für sie vielmehr gewesen war als ein guter Vorgesetzter. Es gelang ihr nicht, die Tränen zurückzuhalten und sie spürte, wie verletzlich der Verlust sie hatte werden lassen.
Conrads Tod hatte sie in einen tiefen Abgrund gestürzt.
Und sie wusste nicht, wie sie aus diesem Gefängnis wieder herauskrabbeln sollte.
Es gab keine Leiter in Aussicht, an der sie hinaufklettern konnte; kein Seil, zum Hangeln; keine helfende Hand, die Hope aus diesem Elend ziehen würde.
Lange nachdem die Trauergäste den Friedhof verlassen hatten, um entweder gleich nach Hause zu gehen oder beim üppigen Leichenschmaus den neuesten Klatsch und Tratsch auszutauschen, stand Hope noch immer unter der Linde und ließ die Gedanken und Erinnerungen vorüberziehen. So vieles, das sie mit Conrad teilte; so viele Momentaufnahmen, die unglaublich wertvoll waren. Seine letzten Worte hatten ihr gegolten.
Du bist für mich die Tochter, die ich nie hatte. Ich liebe dich wie mein eigenes Kind. Du bist ein wundervoller Mensch, ein Spitzen-Detective, eine Klasse-Frau. Lass dir von keinem jemals etwas anderes einreden!
Hope schob den Gedanken weiter, doch er erwies sich als hartnäckiger als die anderen.
Langsam, aber stetig brach die Dunkelheit herein. Hope fröstelte. Sie war es nicht gewohnt, ein Kleid zu tragen und die dünnen Feinstrumpfhosen konnten nicht mit einer Jeans mithalten.
Nachdem sie sich noch einmal versichert hatte, dass wirklich keiner mehr auf dem Friedhof verweilte, näherte sie sich Conrads Grab, das mit lockerer Erde zugeschaufelt und von zahllosen Blumenbouquets und Kränzen überhäuft war.
Conrad hasste Blumen.
Der Gedanke brachte sie zum Lächeln.
Auf einem gigantischen Strauß dunkelroter Rosen prangte ein glitzerndes Herz: „So groß war die Liebe, dass selbst der Tod sie nicht beenden kann.“
Hope legte die Stirn in Falten. Sie kannte Mrs. Harper lediglich von größeren Dienstjubiläen, bei deren offiziellem Teil die Ehefrau des Captains stets zugegen war. Ansonsten hatte sie aus Conrads Erzählungen immer herausgehört, dass die Liebe zu ihm längst nicht so gigantisch war wie ihre Liebe zu Geld und Reputation. Und Conrad stellte eine geeignete Möglichkeit dar, an beides heranzukommen. Von seinen Söhnen hatte Conrad ebenfalls nicht oft gesprochen, doch er verbrachte seine Zeit stets lieber im Polizeipräsidium als zu Hause.
Der Kranz des Shreveport Police Departments verabschiedete Captain Harper mit einem schwarzen Banner „In memoriam“. Kühl und sachlich. Vermutlich erhielt er zum Gedenken daran, dass er sein Leben im Dienst geopfert hatte, eine silberne Ehrentafel im Eingangsbereich des Polizeigebäudes. Und Mrs. Harper und ihre Söhne eine Trauerkarte mit einer stattlichen Summe Witwenrente. Es hätte dieser Frau gar nichts Besseres passieren können…
Hope rügte sich für ihre Gehässigkeit. Diese Gedanken hatten am Grab nichts zu suchen.
Aus der Tüte, die sie mitgebracht hatte, holte Hope eine einzelne Sonnenblume hervor, die in strahlendem Gelb schillerte. „Das ist es, was du mir gegeben hast, Conrad. Sonne. Wärme. Jeden einzelnen Tag. Ich hoffe, von nun an schaffe ich es allein. Sie soll dich begleiten… Dad.“
Hope bettete die Blume an einer eigentlich unauffälligen Stelle am Rand des Erdhügels, doch durch ihre Fröhlichkeit verheißende Farbe sprang sie dennoch sofort ins Auge. Ein Skandal, eine von Lebendigkeit strotzende Sonnenblume auf ein Trauergrab zwischen dunklen, feierlichen Pflanzen zu drapieren. Hope konnte sich das Gerede lebhaft vorstellen. Daher hatte sie auch bewusst darauf verzichtet, ihren Namen zu hinterlassen. Conrad wusste, dass es ihre Art war, Abschied zu nehmen, und das allein zählte.
„Du wirst mir ganz schön fehlen“, murmelte sie unter Tränen und strich sich unsicher durchs Haar, das vom Wind ganz und gar zerzaust war. „Ich hatte mir das anders vorgestellt, weißt du. Dass du es bist, der mich in das neue Amt einführt, der mir seinen Platz übergibt und zu dem ich dennoch immer kommen kann, wenn ich nicht mehr weiter weiß. Der genervte Rentner, weil es ihn in den Fingern juckt, Verhöre selbst zu führen und knifflige Fälle aufzuklären. Weil du selbst alles am besten kannst. Ich habe dich so lieb, Conrad. Und ich verspreche dir, dass ich alles geben werde, dir eine würdige Nachfolgerin zu werden. Ich werde es nicht zu deiner Perfektion schaffen, aber ich gebe mein Bestes. Das schwöre ich dir!“
Samstag, 31. Oktober, 19.00 Uhr
Es war die fünfte Wohnung, die er an diesem Tag besichtigte und da bisher nur Bruchbuden dabei gewesen waren, war Chris dementsprechend genervt. Elise saß in ihrem Kindersitz auf der Rückbank und kuschelte Klopfer, das blaue Kaninchen aus Walt Disneys Bambi.
Chris verzog das Gesicht. Bambis Mutter stirbt. Wie kann man so etwas kleinen Kindern zumuten? Schlimm genug, dass es dieses Schicksal hin und wieder in Wirklichkeit gab. Er wusste nur zu gut, wovon er sprach…
„Wollen wir, Süße?“, fragte er und registrierte das leicht genervte Gesicht seiner Tochter. Ihr ging es offensichtlich nicht anders als ihm. Wer konnte es ihr verdenken? Wenn sie hier auch kein Glück hatten, dann bedeutete das eine weitere Nacht im Auto verbringen und darauf konnten sie beide nur allzu gut verzichten. „Sieht doch von außen schon mal viel besser aus als die letzten…“ Das war eine glatte Lüge, doch immerhin ein Versuch, sie aufzumuntern.
Und auch sich selbst.
Es wirkte weder bei Elise noch bei ihm.
War ja klar.
„Können wir nicht einfach wieder zurückgehen, Daddy?“, fragte Elise.
Chris seufzte. Nein, ich will nicht mehr zurück. Nie mehr. Zu viele Erinnerungen an… Zu viele… Und zu viele Menschen, die die Wahrheit kannten. „Ach Schatz“, sagte er, „du weißt doch, dass ich hier einen Job habe. Deshalb müssen wir auch hier eine Wohnung finden. Milwaukee ist weit weg. Ich kann diese Strecke nicht täglich zurücklegen.“ Das klang auch für eine Vierjährige nachvollziehbar. Hoffte er jedenfalls.
Nachdem er ausgestiegen war und das Haus näher betrachtete, musste Chris zugeben, dass es keineswegs vielversprechender aussah als die bisher besuchten. Wieder seufzte er. Es gab bessere und schlechtere Tage; dieser hier war eindeutig einer der schlechteren…
An der Außenfassade des hellgrauen Hauses bröckelte der Putz. In dem, was wohl einmal ein Vorgarten gewesen war, standen die Überreste verwelkter Sonnenblumen zwischen ebenso hohem Unkraut und stacheligen Sträuchern.
„Ich glaube, das ist ein Gespensterhaus“, wisperte Elise. „Ich mag da nicht rein, Daddy!“
Ich auch nicht… Auch wenn Chris nicht an Gespenster glaubte, wirkte das Haus in der Tat abstoßend und bedrohlich. Ganz so, als wolle es sie wegschicken.
„Keine Sorge, Prinzessin“, sagte Chris in beruhigendem Ton, der absolut nicht zu seiner inneren Anspannung passte. „Gespenster gibt es nicht in Wirklichkeit.“
Hexen anscheinend schon.
Jedenfalls drängte sich ihm der Verdacht auf, als die bucklige, alte Frau mit den silbergrauen, hochgesteckten Haaren auf sein Läuten hin die Tür öffnete. „Familie Taylor?“, fragte sie und noch bevor Chris bestätigen konnte, winkte sie mit ausschweifenden Gesten: „Kommen Sie doch bitte herein!“
Es klang wie die Einladung ins Lebkuchenhaus…
Elise griff nach seiner Hand, während sie eintraten. Im Inneren erwartete sie das genaue Gegenteil des Eindrucks, den das Äußere des Hauses erweckte. Die Möbel waren zwar alt, doch auf Hochglanz poliert. Kein Staubfussel benetzte die Bilderrahmen, aus denen verschiedene Gesichter sie den gesamten Flur entlang willkommen hießen. Keine Spinnweben wie in Geisterschlössern und auch keine Pfefferkuchen wie im Märchen.
„Zur Wohnung geht es nach oben“, erklärte die Frau und setzte bereits einen schwerfälligen Schritt auf die erste Treppenstufe, als sie sich besann und sich, über sich selbst schmunzelnd, zu ihnen umdrehte. „Verzeihen Sie meine Vergesslichkeit. Ich wollte keineswegs unhöflich scheinen. Ich bin Mrs. Weyler.“ Sie lachte herzlich und verlor im selben Augenblick jegliche Ähnlichkeit mit einer bösen Hexe. „Wissen Sie, das Alter ist heimtückisch… Manchmal vergesse ich einfach, mich vorzustellen.“
„Ich bin Elise“, hörte Chris voller Überraschung seine Tochter plappern. „Hast du eine Katze?“
„Eine Katze?“, wiederholte Mrs. Weyler freundlich. „Nein. Aber Greta, meine Nachbarin, hat einen kleinen Hund mit blauer Zunge. Wenn du möchtest, nehme ich dich bei Gelegenheit einmal mit. Der kleine RobRoy liebt Kinder und freut sich bestimmt, mit dir zu spielen.“
Ein Strahlen breitete sich auf dem Gesicht des kleinen, blonden Engels aus. „Au ja. Können wir gleich gehen?“
Elise schien beschlossen zu haben hier einzuziehen. Chris war noch nicht so weit, wobei er zugeben musste, dass er auch keine große Lust verspürte, noch weiter zu suchen. Irgendwann wollte er ankommen. Zu Hause sein. Nicht mehr fliehen.
„Vielleicht möchtest du dir zuerst dein Zimmer aussuchen“, schlug Mrs. Weyler vor.
Elise nickte und sie folgten der Vermieterin in das obere Stockwerk.
Nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte, eilte sie zu dem großen Fenster in einem möblierten Wohnzimmer und schloss es hastig. Sofort verstummte der Autolärm, der vermutlich vom nahegelegenen Highway 71 herüberdröhnte.
Die große blaue Couch, die das Wohnzimmer dominierte, wirkte keineswegs alt und antik wie die Einrichtung im Eingangsbereich gewesen war. Auch die hellen Schränke und der große Flachbildschirm waren alles andere als in die Jahre gekommen. „Mein Sohn ist zu seiner Freundin gezogen“, klärte Mrs. Weyler sie auf. „Hat nix mitgenommen. Alles neu eingerichtet und dann kam diese Frau“, sie winkte vielsagend ab. „Naja. Ich bin nicht gern allein. Mein Mann ist vor ein paar Jahren gestorben. Wenn Sie möchten, können Sie die Möbel gerne benutzen.“
Chris blickte sich um. „Danke“, sagte er, obwohl er dieses großzügige Angebot kaum glauben konnte.
Angrenzend an das Wohnzimmer lag eine geräumige Küche unter einer Dachschräge. Weiße Hochglanzfronten waren perfekt zur Raumform eingepasst, so dass jeder Winkel des verschachtelten Raumes ausgenutzt wurde. Spülbecken und Herd schienen nahezu unbenutzt.
Darüber hinaus verfügte die Wohnung über ein Badezimmer mit Dusche und Badewanne und zwei weitere Zimmer, von denen sich Elise das größere als ihr Kinderzimmer erwählte. Das übriggebliebene Schlafzimmer war hellblau gestrichen und in der Ecke führte eine schmale Glastür hinaus auf einen Balkon mit Blick auf den hinteren Bereich des Grundstücks, wo auf geschätzten vierzig Quadratmetern eine farbenfrohe Wiese blühte.
„Wenn Sie ab und zu den Rasen für mich mähen würden, kann Elise gerne dort unten spielen“, sagte Mrs. Weyler, als sie Elises sehnsüchtigen Blick bemerkte.
„Ich will hierbleiben, Daddy“, erklärte Elise und gähnte herzhaft.
Chris selbst war auch müde und diese Wohnung in der etwas abgelegenen Finn Street schien der absolute Hauptgewinn zu sein. „Wir würden die Wohnung nehmen, Mrs. Weyler.“
Die Frau nickte erfreut. „Sehr schön. Soll ich Ihnen eine Luftmatratze hochbringen bis Ihre Möbel ankommen?“, fragte sie. „Umzugsfirmen sind manchmal so entsetzlich langsam.“
„Das wäre wirklich sehr nett“, sagte Chris, verzichtete jedoch auf den Zusatz, dass überhaupt keine Möbel hierher unterwegs waren. Sie hatten alles zurückgelassen. Er brauchte nichts, das ihn an sein altes Leben zurückerinnerte. Hier in Shreveport sollte es einen Neubeginn geben. Noch einmal von vorn. Zweite Chance… Dritte Chance, verbesserte er sich und verscheuchte den Gedanken dann aus seinem Kopf.
Montag, 02. November, 8.30 Uhr
Chief Solomon Rice tat so, als wäre Hope überhaupt nicht im Raum. Unruhig trat sie von einem Bein auf das andere, während das Polizeioberhaupt in geschäftiger Hingabe diverse Blätterstapel sortierte.
Wieso um alles in der Welt hatte er sie hereingebeten, wenn er eigentlich noch andere Dinge zu erledigen hatte? Draußen zu warten, wäre definitiv angenehmer gewesen.
Unsicher, ob sie sich räuspern oder anderweitig um Aufmerksamkeit bitten sollte, warf Hope einen verstohlenen Blick auf die Uhr, die hier, wie in jedem anderen Raum des Präsidiums, über der Tür angebracht war. Schon sieben Minuten stand sie nutzlos hier herum und Chief Rice hatte ihr noch nicht einmal einen Stuhl angeboten.
Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und sagte: „Chief, ich…“
„Sie sind noch nicht dran, Miss Cromworth“, unterbrach Rice sie ruppig.
Hope verstummte sofort. Sie war empört. Miss? Hatte sie gerade richtig gehört? Das war ja wohl die Höhe. Sie als Fräulein zu bezeichnen! Und das im Einundzwanzigsten Jahrhundert!
„So. Jetzt wäre ich soweit“, erklärte Chief Rice dann, bevor Hope sich noch mehr in die Frechheit seiner Bemerkung hineinsteigern konnte. „Ich komme ohne Umschweife zur Sache, dann erleichtern wir uns einiges“, fuhr Rice gelangweilt fort, ohne Hope dabei eines Blickes zu würdigen. „Im Gegensatz zu Conrad – Gott hab ihn selig – bin ich nicht der Ansicht, dass das weibliche Geschlecht im Beruf eines Polizisten gut aufgehoben ist. Frauen gehören an den Herd und kümmern sich um Heim und Kinder.“ Er machte eine theatralische Pause, um seine Aussage wirken zu lassen. „Nun, da es bei Ihnen ja offenbar kein Heim mit Kindern gibt“, er nahm seine Brille ab und musterte sie geringschätzend, „scheinen Sie wohl beschlossen zu haben, Unruhe in diese von Männern aufgebaute Ordnung zu bringen.“
Hope war sprachlos und schockiert. Sie fühlte sich um Jahrhunderte zurückversetzt, in eine Zeit, in der Frauen und Sklaven in etwa die gleichen Rechte hatten. War sie im falschen Film? Slapstick von primitivster Art. Das konnte doch wohl nicht sein Ernst sein! Konnte ein Polizeichef sich wirklich solch eine frauenverachtende Meinung leisten? Und damit Erfolg haben?
Frauenverachtend? Menschenverachtend! Arrogantes Arschloch!
Dennoch vermochte Hope nicht, etwas darauf zu erwidern. Zu viele Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Das alles lief anders als erwartet. Mit Turbogeschwindigkeit in die falsche Richtung. Nur war sie nicht in der Lage, die Notbremse zu ziehen.
Sollte das nun heißen, Chief Rice hatte sie hier einberufen, um ihr mitzuteilen, dass ein anderer Conrads Posten als Leiter ihrer Einheit übernehmen würde? Wer? Womöglich noch ein vollkommen Fremder?
„Zu meinem großen Bedauern kannte auch Conrad meine Einstellung diesbezüglich und nahm mir das Versprechen ab, dass ich Ihnen eine Chance geben werde…“ Rices Unmut über diese Sache stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, als ob er in Erwartung einer Zuckerstange stattdessen in eine saure Zitrone gebissen hätte.
Hope zog die Augenbrauchen hoch. Und jetzt Klartext bitte!, hätte sie ihm gerne entgegengespien, aber das stand ihr nicht zu. Also schwieg sie weiter und harrte der Dinge, die da kommen mochten.
Der Chief seufzte. „Da ich davon ausgehe, dass Ihnen früher oder später ohnehin ein Fehler unterläuft, ist es ja nur eine Zeitsache, die sie die – sagen wir Vertretung für Captain Harper übernehmen. Denn dass sie scheitern werden, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Alle Frauen in anspruchsvollen Positionen scheitern irgendwann. Und wissen Sie auch warum? Weil sie einfach nicht dafür gemacht sind, Verantwortung zu übernehmen!“
Hope sog die Wangen ein und biss sich auf die Innenseite, um nicht zu platzen. Wieso stand sie immer noch hier? Wieso warf sie ihm nicht ihre Marke vor die Füße, sagte ihm, dass sie auf ihn und seine Einstellung scheiße und reichte unverzüglich ein Versetzungsgesuch ein?
Weil es genau das ist, was er erreichen möchte, gab sie sich selbst die Antwort.
„Was stehen Sie hier noch herum, Miss Cromworth?“, schlug Rice nun einen harschen Ton an. „Haben Sie keine Arbeit? Unsere Unterredung ist längstens beendet. Sie kennen nun meine Einstellung Ihnen gegenüber. Fühlen Sie sich also beobachtet in allem, was sie tun und entscheiden. Ich werde jeden Schritt, den Sie machen, mit Argusaugen überwachen und seien Sie gewiss, dass ich nur darauf warte, dass Ihnen ein Missgeschick passiert. Falls sie noch darauf warten, dass ich Ihnen den Status eines „Captain“ verleihe, muss ich Sie leider enttäuschen. So lange ich hier das Regiment führe, wird keine Frau die Macht über ein Schiff erhalten. Und sei es auch nur ein kleines Paddelboot. Guten Tag, Miss Cromworth.“
Ein Team zu leiten, ohne einen höheren Status zu besitzen, war nicht einfach. Vor allem, da Hope die ganze Zeit über bereits auf gleicher Ebene mit ihren Kollegen zusammengearbeitet hatte. Sie waren praktisch eine eigene kleine Familie… Eine Familie, die nun zwei neue Adoptivkinder aufzunehmen plante.
Hope blätterte durch die Personalakten, die vor ihr auf dem Schreibtisch lagen, ohne wirklich bei der Sache zu sein. Bei dem ersten Polizisten, Christian Taylor, handelte es sich zwar um eine Versetzung, doch Luke Dorians Antrag war eine Neubewerbung. Der junge Mann konnte zwar einige Jahre im Streifendienst vorweisen, doch verfügte er über keinerlei Erfahrungen in der Ermittlungsarbeit. Hope hätte eigentlich erwartet, dass ein älterer Detective ihr Team komplettieren würde, beziehungsweise dass man ihr als zukünftige Leiterin dieser neu zusammengewürfelten Einheit zumindest ein Mitspracherecht bei der Besetzung der offenen Stellen zukommen ließ.
Dem war nicht so und sie konnte sich gut denken, auf wessen Mist das gewachsen war. Chief Rice würde ihr sämtliche Steine in den Weg legen. Soll er doch!
Christian Taylor wirkte auf den ersten Blick vielversprechend. Beste Beurteilungen, top Leistungen… Seine Akte sah geradezu ‚frisiert‘ aus. Warum wird ein so hoch angesehener Top-Detective plötzlich versetzt? Milwaukee müsste alles daran gesetzt haben, ihn behalten zu können… Hope blätterte weiter, doch die gewünschten Erläuterungen blieben aus. Wenig Information, nur Lobesworte. Anscheinend war es dem Polizeipräsidium der größten Stadt Wisconsins ein großes Anliegen gewesen, diesen Kollegen loszuwerden. Das kann ja heiter werden.
Hope blickte auf die Uhr. In zehn Minuten war das erste Meeting unter ihrer Führung angesetzt. Das erste Zusammentreffen des Teams seit Bertrams Selbstmord. Und Conrads Tod. Das erste Mal, dass sie wieder beruflich zusammenkamen. Es ging weiter. Auch ohne Conrad. Es muss… Auch wenn ich momentan nicht weiß, wie.
Sie war absolut nicht vorbereitet auf dieses Meeting. Es war nicht so, dass Hope sich nicht den Kopf darüber zerbrochen hätte, was sie sagen und wie sie auftreten wollte. Doch richtige Worte wollten sich einfach nicht finden lassen. Es war einfach eine Scheiß-Situation; so hätte es jedenfalls Conrad ausgedrückt. Vielleicht war das der geeignetste Einstieg. Der, den Conrad gewählt hätte; der, der ihm aus der Seele gesprochen hätte. Hope schluckte. Die Erinnerungen waren schmerzhaft.
Noch ein Blick auf die Uhr und Hope schlug die Akten zu. Auch wenn alles weitere sich ergeben musste und keiner Planung unterlag, so war sie sich doch zumindest sicher, dass sie bei ihrem unerwarteten Einstand nicht zu spät kommen sollte.
Trotz dieses guten Vorsatzes war Hope die Letzte, die das Konferenzzimmer betrat. Adrian zwinkerte ihr aufmunternd zu, Grace lächelte traurig und Marc nickte zum Gruß. Hope vermied es absichtlich, sich auf Captain Harpers Platz niederzulassen. Vielleicht wenn sie eines Tages selbst Captain war, doch momentan fühlte es sich einfach nicht richtig an.
Mit zitternden Fingern legte sie einen Stapel weißer Blätter vor sich ab. Dann räusperte sie sich, blickte in die Runde und sagte mit fester Stimme: „Das ist eine absolute Scheiß-Situation.“ Sie hätte nicht mit Sicherheit vorhersagen können, ob die übrigen ihre Aussage so auffassten, wie sie gemeint war, doch das allgemeine Schmunzeln überzeugte sie, dass sie die richtigen Worte gewählt hatte. „Ich hatte heute Morgen ein Gespräch mit Chief Rice… Fürs Erste werde ich die Leitung unseres Teams übernehmen.“
„Was heißt, fürs Erste?“, schaltete Adrian sich sofort ein und verengte die Augen.
„Der Chief stellt mich sozusagen in Probezeit ein“, versuchte Hope das offensichtliche Misstrauen des Polizeichefs in ihre Fähigkeiten mit netten Worten zu kaschieren.
Adrian schüttelte verständnislos den Kopf. „Das kann ja wohl nicht sein Ernst sein! Es war allen immer klar, dass du Harpers Nachfolge antreten wirst. Das ist wirklich das Letzte.“
Hope rückte unruhig auf ihrem Stuhl. Detective Adrian Glover war ein sehr guter Freund und absolut loyal gegenüber seinem Team, aber dennoch war es in dieser Situation angebracht, den Mund zu halten und abzuwarten. Sie stand unter ständiger Beobachtung, das hatte der Chief ihr deutlich zu verstehen gegeben und Hope wollte auf keinen Fall, dass ihre Freunde Schwierigkeiten bekamen, weil sie sich zu sehr hinter sie und damit gegen die Führungsebene stellten. „Es ist schon okay“, versuchte sie die Sache abzuschwächen. „Ich denke, es ist auch für Chief Rice eine außergewöhnliche Situation, mit der er nicht recht umzugehen weiß. Wir sollten uns allen etwas Zeit geben.“ Das war gelogen. Chief Rice würde seine Meinung bezüglich Frauen in Männerberufen niemals ändern. „Wir sollten uns jetzt erst einmal auf die nächsten Tage konzentrieren“, schlug Hope vor. „In der Hoffnung, dass die bösen Buben Shreveports uns ein paar Stunden Galgenfrist gewähren, bevor sie wieder zuschlagen, wäre es mir ein Anliegen, dass wir uns als Truppe neu zusammenfinden. Wir haben zwei Kollegen verloren. Keiner von uns hätte jemals für möglich gehalten, dass in Bertram ein so versessener, kranker Geist schlummert.“ Das zustimmende Nicken ermutigte Hope, weiterzusprechen. Du machst das gut, spornte sie sich an. Die richtigen Worte kommen automatisch. „Conrad“, sie holte tief Luft und blinzelte ein paar forsche Tränen weg. „Er wird uns sehr fehlen.“ Er fehlt mir! „Ich… werde niemals seinen Platz ausfüllen können, wie er es getan hat. Aber ich gebe dennoch mein Bestes.“
Nach einem kurzen Schweigen, in dem wohl jeder noch einmal für sich Abschied von ihrem langjährigen, hochgeschätzten Captain nahm, stellte Adrian klar: „Du bist ab sofort der Boss, du sagst, was gemacht wird, Hope. Und du weißt, dass wir alle immer hinter dir und deinen Entscheidungen stehen werden!“
„Wir unterstützen dich, wo wir können“, pflichtete Marc ihm bei. „Hey, wir sind doch ein Team! Und wenn wir ehrlich sind, warst du doch schon die letzten Jahre stets die Besonnene, die Denkerin und Planerin. Conrad hat sich voll und ganz auf dich verlassen. Du wirst einen prima Job machen!“
Grace stand auf und schlang ihre Arme um Hope, die vor Rührung nur noch verschwommen durch den Tränenfilm ihrer Augen sehen konnte, und versicherte ihr: „Wir schaffen das. Du bist unser neuer Captain, auch wenn du diesen Titel nicht von offizieller Seite hast und wir dich nicht so nennen dürfen.“
„Bleiben wir bei Hope“, schniefte Hope und nahm dankbar das von Marc angebotene Taschentuch entgegen. „Wir schaffen das“, wiederholte sie dann und fühlte sich unglaublich wohl, so gute Freunde zu haben.
Montag, 02. November, 15.30 Uhr
„Herein.“ Hope war überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass jemand an ihrem ersten Arbeitstag in neuer Position an ihre Tür klopfte. Eigentlich hatte sie gehofft, die erste Woche ruhig angehen zu können. Schonfrist sozusagen. Ließen das nicht sogar Straftäter neuen Gefängnisleitern zukommen?
Adrian, Marc und Grace schrieben die Berichte des letzten Falls, um zumindest auf sachlich-korrekter Ebene mit dem, was geschehen war, abzuschließen. Hope selbst befand sich noch immer im Zwiespalt mit sich selbst darüber, ob sie Conrads Büro zu ihrem eigenen umgestalten oder einfach so belassen sollte, wie es war. Was sie definitiv benötigte, war ihr Computer. Conrads Maschine war aus dem vorigen Jahrhundert und dementsprechend laut und langsam. Damit endete jedoch ihre Entschlussfreudigkeit.
Die Tür fiel auf und das erste, was Hope entgegenströmte, war eine dichte Wolke süßlichen Parfums, welches offenbar über den abgestandenen Zigarettenrauch hinwegtäuschen sollte, der unterschwellig mitschwang.
Hope blinzelte und erkannte die in Nerz ummantelte Dame erst, als sie unmittelbar vor ihrem Schreibtisch zum Stehen kam. „Was haben Sie im Büro meines Mannes zu suchen?“, keifte die Frau ohne Umschweife und warf dabei ihre künstlich zurechtgemachte Dauerwelle in den Nacken.
Hope legte langsam und mit Bedacht den Stift zurück auf den Schreibtisch, den sie kurz zuvor aufgenommen hatte, um die Initialen C.H. näher zu betrachten, die am oberen Ende in vornehm geschwungener Schreibschrift eingraviert waren. Conrad Harper. Ging man die Sache jedoch von hinten nach vorn an, so ließe sich auch problemlos ein Cromworth, Hope hineingeheimnissen. „Mrs. Harper, ich wusste nicht, dass Sie heute vorbeikämen, um die Sachen Ihres Mannes abzuholen“, entschied Hope sich für einen diplomatischen Weg ohne Gegenangriff. „Sie hatten sich nicht bei mir angemeldet, oder?“
„Bei Ihnen?!“ Mrs. Harpers Stimme schien Purzelbäume zu schlagen, so dass sich Hope unwillkürlich ein Vergleich zu Mozarts berühmter Figur der Königin der Nacht aufdrängen wollte. „Nein. Niemals. Das ist das Zimmer meines Mannes und ich werde mich zu keiner Zeit bei Ihnen anmelden oder gar um Ihre Erlaubnis betteln, wenn ich die Habseligkeiten meines liebsten Conrad hier abholen möchte.“ So bist du mei-ne Toch-ter ni-mme-er-mehr. Hahahaha-hahaha. Hahahaha-hahaha. Hahaha-ha. Haha. Haha-haa. Mrs. Harper presste sich bei der Erwähnung ihres verstorbenen Ehemannes eine Träne aus dem mit übertrieben blauen Lidschatten angepinselten Auge und wischte diese sogleich theatralisch mit einem bestickten Seidentaschentüchlein ab, bevor der Mascara verschwimmen und ihr Aussehen ruinieren konnte. Fühlt nicht durch dich – Sarastro Todesschmerzen. Sarastro Todesschmerzen…
Hope hob die Brauen. Hörte das denn heute überhaupt nicht mehr auf? Nur Anfeindungen und Geringschätzungen. Was hatten nur alle gegen sie? Habe ich was verpasst? Steht auf meiner Stirn: Bitte mach mich fertig, das gefällt mir!?
„Nun, genau genommen ist das jetzt mein Büro…“, versuchte Hope freundlich zu erklären und sich dabei den ausladenden Mantel als weitschweifenden, an einen abendlichen Horizont erinnernden, sternbesetzten Umhang aus Der Zauberflöte vorzustellen. An Mrs. Harper war eine bilderbuchreife, arrogante Diva verloren gegangen. Dafür hätte sie definitiv großes Talent aufgebracht.
Mrs. Harper zog eine Grimasse. „Nun, genau genommen“, wiederholte sie dreist, „glaube ich das nicht. Jedenfalls nicht nachdem, was man so hört…“
Hope war nahe daran, in die Luft zu gehen und die düstere Königin in den Abgrund zu stürzen. Oder besser noch, in das gleißende Licht der Mittagssonne… Mit mühevoll unterdrücktem Zorn sagte sie drohend: „Verlassen Sie sofort dieses Büro. Und wenn Sie das nächste Mal planen, die Habseligkeiten Ihres Mannes heimzuholen, dann vereinbaren Sie vorher einen Termin mit mir!“
Die farbkastenroten Lippen verzogen sich zu einem noch breiteren Grinsen und Mrs. Harper blieb fest an ihrem Platz stehen. „Ich denke nicht, dass ich mir das von einem Flittchen wie Ihnen sagen lassen werde. Wie oft mussten Sie mit meinem Mann schlafen, bis Sie diesen Posten bekommen haben, hm? Zweimal die Woche? Täglich?“
Hope fiel vor Erschütterung der Unterkiefer herab. Sie war sprachlos ob dieser bodenlosen Frechheit. Regelrecht entsetzt. Sie spürte, wie ihre Zunge Worte zu formen versuchte, doch ihr Gehirn war zu blockiert, um entsprechende inhaltliche Informationen auszusenden, und ihr Innerstes zu sehr damit beschäftigt, Tränen der Resignation zurückzudrängen. Schließlich bracht sie mit bebenden Lippen hervor: „Was maßen Sie sich an, mich derart zu beleidigen? Raus hier. Sofort!“ Mit einer entschlossenen Bewegung war Hope in der Höhe und stampfte mit ausladenden, wütenden Schritten zur Tür, um sie aufzureißen und dieser unverschämten Person den Ausgang zu weisen. „Raus!“, wiederholte sie noch einmal, so fest sie nur konnte.
„Ich denke ja gar nicht daran, dieses Zimmer zu verlassen. Nicht ehe ich die Sachen meines Mannes zusammengepackt habe“, erwiderte Mrs. Harper ruhig und sichtlich erheitert über Hopes aufgebrachte Reaktion.
Hope bebte vor Wut über ihre eigene Hilflosigkeit. Eine solch dreiste Frau war ihr noch selten untergekommen. Am liebsten hätte sie ihre Pistole gezückt und die verwöhnte, hochnäsige Dame damit nach draußen befördert. Doch das wäre mit Sicherheit bereits das erste Fehlverhalten gewesen, auf das Chief Solomon Rice geradezu fanatisch wartete. Ob er Mrs. Harper sogar persönlich hergeschickt hatte, um sie zu provozieren?
In diesem Moment tauchte vom Flur her Adrian auf. „Gibt es hier ein Problem?“, fragte er mit seiner sonoren, ruhigen Stimme.
Hope schluckte, um sich zu sammeln. „In der Tat“, bestätigte sie dann mühevoll beherrscht. „Mrs. Harper weigert sich trotz mehrfacher, deutlicher Aufforderung, mein Büro zu verlassen.“
Adrian runzelte die Stirn und schien die Reichweite des Unausgesprochenen abzuschätzen. Schließlich wandte er sich an die Lady in Pelz und sagte mit freundlicher Schärfe: „Mrs. Harper, wir alle bedauern Ihren Verlust zutiefst und sicher können wir alle nicht im Mindesten nachfühlen, wie Ihnen nach dem Tod Ihres Gatten zumute ist. Doch ich muss Sie dennoch leider bitten, jetzt zu gehen. Selbstverständlich können Sie jederzeit mit Detective Cromworth oder mit mir einen neuen Termin vereinbaren, damit wir Sie auch gebührender empfangen können als unter den momentanen Turbulenzen, die hier im Präsidium Einzug gehalten haben. Es tut uns sehr leid, aber Sie sehen ja, dass bei uns auch einiges neu geordnet werden muss und dass Ihr Mann auch hier eine große Leere hinterlassen hat.“
Mrs. Harper schürzte die Lippen und machte auf ihrem hochhackigen Absatz kehrt. Langsam und gemächlich stöckelte sie auf die beiden zu, musterte Hope vom tiefschwarzen Haaransatz bis zu den uneleganten Sneakern und sagte dann mit unverhohlener Geringschätzung: „In der Tat. Das sehe ich.“ Dann warf sie sich den Nerz fester um die Schultern und stolzierte hoch erhobenen Hauptes davon, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen.
„Alles in Ordnung?“, fragte Adrian, nachdem Mrs. Harper um die Ecke gebogen war und lediglich noch der Duft nach diesem schrecklich süßen Parfum an ihren Auftritt erinnerte.
Hope nickte. Sie fühlte sich elend und zittrig, aber sie war erleichtert, dass Adrians autoritäres Auftreten den unliebsamen Gast verscheucht hatte.
„Du bist ganz blass“, stellte Adrian fest und in seinen grauen Augen lag Besorgnis.
Hope wankte mit unsicheren Schritten zurück ins Büro und ließ sich auf dem nächstbesten Stuhl nieder. „Sie hat mich als Flittchen bezeichnet“, sagte sie noch immer verständnislos. „Nach allem, was man so hört, hüpft sie mit jedem Kerl ins Bett und nennt mich ein Flittchen. Mich!“ Sie spürte heiße Tränen in den Augen brennen und brach abrupt ab, bevor sich ihre Stimme überschlug. Wieso ärgerte es sie sehr, was diese Frau dachte? Hope wusste, dass sie sich nichts vorzuwerfen hatte. Ihr Verhältnis zu Conrad war niemals ein derartiges gewesen.
Adrian gab ein verächtliches „Pah“ von sich. „Solch eine Frechheit. Du könntest Anzeige wegen Beamtenbeleidigung erstatten. Oder wegen Verleumdung, da sind die Strafen höher gesteckt. Was bildet diese Frau sich überhaupt ein? Plustert sich auf wie eine Gräfin, und in Wirklichkeit ist sie die einzige, die Conrad keine ehrliche Träne hinterherweint.“
In diesem Punkt konnte Hope ihrem Kollegen nur zustimmen. „Danke“, flüsterte sie schließlich.
„Ach, schon gut.“ Adrian winkte ab. „Ich bin sicher, du wärst auch alleine mit ihr fertig geworden.“
Hope musste unwillkürlich grinsen. „Ich war drauf und dran, sie mit meiner Waffe durchs gesamte Haus zu scheuchen.“
Adrian lachte. „Na, das hätte ich gern gesehen. Nächstes Mal schalte ich mich nicht ein.“
Hope atmete tief ein und wurde wieder ernst. „Vielleicht doch“, sagte sie. „Bei dem kleinsten Fehltritt wird Chief Rice mich in die Wüste schicken. Er wartet nur darauf, dass ich versage.“ Sie schwiegen einige Augenblicke und in Hope keimte wieder der Gedanke, welch ungeheures Glück Samantha Carrington hatte, Adrian Glover ihren Freund nennen zu dürfen. Verlobten, verbesserte sie sich mit Erinnerung an den Ring an dem Finger der jungen Brünetten, den sie bei Conrads Beerdigung stolz getragen hatte. Samantha war im letzten Jahr zu einer wirklich guten Freundin geworden und Hope war nicht der Typ Frau, der davon unzählige besaß. Sie war äußerst vorsichtig in der Auswahl ihrer Vertrauenspersonen. Sie gönnte den beiden Verliebten ihr Glück von Herzen, doch ihre unbeschwerte Fröhlichkeit führte Hope stets die Leere in ihrem eigenen eintönigen Leben vor Augen. Diesen Platz in ihrem Herzen, den noch niemals jemand auszufüllen vermocht hatte. Ob es tatsächlich für jeden Topf einen passenden Deckel gab?
„Hope, ich würde heute gerne etwas früher gehen. Sam hat ihre Präsentationsprüfung und ich möchte sie mit einem selbst gekochten Abendessen überraschen.“ Was für ein verflucht gut aussehender Traummann, der auch noch wusste, was Frauen wollen! Das Leben war einfach ungerecht…
„Selbstverständlich.“ Hope räusperte sich, um mit ihren Gedanken in das Hier und Jetzt zurückzukehren. „Ach Adrian, eines noch. Ich habe hier die Akten der zwei neuen Kollegen, die uns zugeteilt wurden. Sie werden unser Team ab nächster Woche komplettieren.“
Adrian nickte. „Okay“, sagte er langsam. „Und wo liegt das Problem?“ Er war wirklich extrem aufmerksam.
„Einer der beiden ist bereits länger dabei“, begann Hope umständlich. „Detective Christian Taylor. Versetzung. Aber der andere scheint ein echter Frischling zu sein. Ich selbst sehe mich nicht in der Lagen, mich seiner Einführung zu widmen, weil ich das alles selbst erst auf die Reihe kriegen muss. Grace ist mir aber noch zu jung; ich habe Angst, es könnte sie überfordern, einen Neuling als Partner zu haben.“
„Verstehe“, sagte Adrian. „Es ist für Marc und mich kein Problem, für einige Zeit andere Partner zu haben, falls es das ist, was du mir mitteilen möchtest. Schließlich sind wir nicht verheiratet“, fügte er augenzwinkernd hinzu.
Hope atmete erleichtert aus. „Ich danke dir.“
Adrian schüttelte abwehrend den Kopf. „Nun komm schon, Hope. Wir sind doch ein Team. Einer für alle – Alle für einen. Außerdem gibt Marc bestimmt einen guten Ausbilder ab. Der wird mit unserem Frischling schon fertig. Oberlehrer sein, wird ihm Spaß machen. Und Grace und ich kommen auch prima miteinander klar. Mach dir nicht so viele unnötige Sorgen. Das wird schon alles. Du hast viel zu wenig Selbstvertrauen. Du wirst Conrads Platz perfekt ausfüllen. Captain!“
Hope schmunzelte unter einem plötzlichen Anfall von Optimismus und Tatendrang. „Ich kriege diesen Titel! Ob es dem Chief passt oder nicht.“
„Das ist die richtige Einstellung!“, stimmte Adrian ihr zu. „Wir lassen uns hier nicht unterkriegen. Von keinem!“
Mittwoch, 04. November, 8.30 Uhr
Nach dem ersten Erfolgserlebnis mit der neuen Wohnung, dem Glücksgriff einer Vermieterin wie Mrs. Weyler und einer gehörigen Portion Schlaf, war Chris guter Dinge, auch eine geeignete Vorschule für seine Tochter zu finden. Es war Mittwoch und für kommenden Montag war sein erster Arbeitstag festgelegt. Demnach war es höchste Zeit, eine Betreuungsinstitution für Elise ausfindig zu machen.
Auf dem Weg zwischen Finn Street und Texas Avenue, in der sich das Shreveport Police Department befand, gab es drei Einrichtungen, die über Betreuungsangebote für Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren verfügten: das Rainbow-House, den Little People’s Kindergarten und die Villa Sunshine, die zwar sämtliche Verbindungen zur Holy Church of Scientology abstritt, sich gegenteilige Meinungen jedoch hartnäckig hielten. Chris setzte die Villa Sunshine deshalb vorsichtshalber auf den letzten Platz der möglichen Optionen. Zwischen den beiden anderen ließ er seine Tochter wählen und anhand der Bilder, die er für Elise auf sein Tablet zauberte, entschied sich das Mädchen für das farbenfrohe Gebäude des Rainbow-House.
„Ich will aber das rote Kleid anziehen!“, schimpfte Elise und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Aber das ist viel zu dünn“, erklärte Chris mit Blick auf die Uhr. In einer knappen Stunde war er mit der Leiterin des Rainbow-House verabredet. „Für ein leichtes Sommerkleidchen ist es heute zu kalt. Was hältst du von dem grünen, wenn es unbedingt ein Kleid sein muss?“
„Ich hasse grün!“, schmollte Elise und stampfte mit dem Fuß auf.
Chris verdrehte die Augen. Frauen waren also schon als kleine Mädchen so schwierig, wenn es um die Auswahl des geeigneten Outfits ging. „Ich könnte dir grüne Bänder ins Haar flechten“, schlug er vor.
Noch vor wenigen Monaten hätte er jeden anderen Mann belächelt, der die Fertigkeit besaß, für Männerhände ungeeignete Frisuren zu kreieren. Männlich war das jedenfalls nicht. Er seufzte. „Elli“, bat er, doch das kleine Mädchen blieb eisern.
„Wir haben auch rosa Haargummis“, hielt sie dagegen und schob trotzig das Kinn vor.
Wie ihre Mutter…
Chris wehrte den Gedanken sofort ab. „Dann eben rosa und rot“, gab er sich geschlagen und kramte in Elises Kinderkoffer nach einem weißen Wolljäckchen, das neben den üblichen Rüschen-verspielten Verzierungen über jede Menge bunter Flecken verfügte, die jedem Waschmittel standhaft trotzten. „Aber plus Jacke“, sagte er etwas strenger. „Deal?“
Elise überlegte. „Deal“, willigte sie schließlich ein und schlüpfte in Kleid und Jäckchen.
Chris setzte Neue-Klamotten-kaufen als einen Punkt auf seine imaginäre To-Do-Liste, von der er gerade das Stichwort Wohnung-finden gestrichen hatte. Zwei Wochen zwischen dem Ende des einen und dem Beginn eines neuen Vollzeitjobs waren einfach nicht genug. Insbesondere dann nicht, wenn man seine gesamte Vergangenheit zurückließ.
„Gibt es dort jeden Tag einen Regenbogen?“, fragte Elise, während sie sich umständlich in eine Strumpfhose quälte.
Es dauerte einige Augenblicke, bis Chris begriff, wovon sie sprach. „Im Rainbow-House?“, fragte er nach. „Bestimmt.“
Elise strahlte. „Wohnt der Regenbogen dort?“
Chris lachte. „Wahrscheinlich, ja. Oh je, Süße, du hast die Strumpfhose verkehrt herum. Zieh sie nochmal aus.“ Die Kunst des Strumpfhosen-Anziehens gehörte ebenfalls nicht zu den Eigenschaften, über die ein Mann verfügte. Wie hatten die feinen Kerle im Mittelalter das nur ausgehalten?
Elise gehorchte und überließ es ihrem Daddy, die Sache in Ordnung zu bringen. „Wenn das stimmt“, überlegte sie laut, während Chris sich abmühte, das enge, gummiartige Kleidungsstück über ihre kleinen Füße und Beine zu stülpen, „dann bringe ich dir den Goldschatz mit. Dann können wir uns ganz viele Süßigkeiten kaufen. Und du musst nicht mehr arbeiten gehen.“
Da hätte ich definitiv nichts dagegen… „So ein Topf voll Gold wäre wirklich prima“, sagte Chris und gab den Versuch auf, die Strumpfhose vollkommen frei von Falten zu kriegen. „Aber zuerst sollten wir dafür sorgen, dass wir nicht zu spät kommen.“
Mittwoch, 04. November, 09.30 Uhr
Das Rainbow-House in der Milam Street machte seinem Namen alle Ehre. Die Außenfassade war in frohem, strahlendem Gelb gestrichen, das Dach mit karmesinroten Ziegeln gedeckt. Die Eingangstür himmelblau, die Fensterrahmen waren von einem saftigen, dunklen Grün. In grellem Orange strahlten die beiden Säulen, die das kleine Vordach trugen und gleich zwei Zinnsoldaten den Eingang flankierten, und in lila Lettern prangte in comicähnlicher Schrift ‚Welcome to Rainbow-House‘. Einzig ein Lebkuchenhaus hätte womöglich noch als größerer Anzugsmagnet für Kinder wirken können.
Elise stand mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund staunend auf dem Gehsteig. „Was steht da, Daddy“, fragte sie, mit ausgestrecktem Arm auf den Schriftzug zeigend.
„Herzlich Willkommen im Rainbow-House“, las Chris.
Die Tür war verschlossen und auf sein Läuten hin erfolgte zunächst keine Reaktion. Elise trat bereits unruhig von einem Fuß auf den anderen und wollte gerade anfangen, zu nörgeln, als eine Frau mittleren Alters mit knallpinkem Kostüm und lustiger Hochsteckfrisur an die Tür kam und von innen öffnete. Ihr Lächeln sprühte vor Lebensfreude. „Sie müssen die Taylors sein“, sagte sie strahlend. „Herzlich Willkommen im Rainbow-House.“ Sie reichte Chris die Hand, ging dann in die Hocke, um auf Augenhöhe mit Elise zu sein, und begrüßte auch sie mit Händedruck. „Du bist also Elise? Ich finde deinen Namen wunderschön. Ich bin Maya.“
„Hallo Maya“, sagte Elise weniger schüchtern als Chris vermutet hatte.
„Na, dann kommt doch erst einmal herein“, schlug Maya vor und führte Vater und Tochter durch einen schmalen Gang, von dem zu beiden Seiten verschiedenfarbige Türen abgingen. An den hellbeige getünchten Wänden hatte sich eine Vielzahl Kinder durch bunte Abdrücke ihrer kleinen Hände verewigt.
„Unser Kindergarten hat drei Gruppen“, begann Maya zu berichten. „Die Blue Birds, die Red Rabbits und die Green Guyneas. Das ist die Gruppe, in der ich einen Platz für dich habe“, erklärte Maya und wies auf eine grüne Tür mit einem großen Bild eines Meerschweinchens. „Das gelbe Zimmer dort hinten ist mein Büro. Ich würde vorschlagen, dass ich dich zuerst in deiner Gruppe vorstelle und du dich dort umschaust. Währenddessen kann ich mit deinem Vater noch ein paar langweilige Erwachsenendinge besprechen und danach holt er dich wieder hier ab. Megan ist sehr nett. Sie und ich betreuen die Green Guyneas.“
Elise warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu, der offenbar heißen sollte: Ist das okay, was Maya vorschlägt? Chris nickte beruhigend. „Es dauert auch bestimmt nicht lange“, versprach er und hielt sich im Hintergrund, während Maya die grüne Tür öffnete und mit Elise an der Hand in eine lärmende Gruppe Kinder trat.
Der Gruppenraum war größer als er von außen den Anschein hatte und verfügte über einen riesigen Mal- und Basteltisch, eine Puppenkuschelecke, eine Baunische, eine Lesecouch und über jede Menge weiterer Spielsachen. Ein absolutes Traumparadies, das jedes Kinderherz schneller schlagen ließ. Über allem dominierte ein gigantischer Regenbogen, aus klitzekleinen Mosaiksteinchen zusammengeklebt, die Decke und spannte sich über zwei gegenüberliegende Wände bis zum Boden. Wow, staunte Chris und hob beeindruckt die Brauen. Hier steckte so viel Liebe und Hingabe in jedem Detail, dass das Große und Ganze wirklich atemberaubend war.
Während er noch immer fasziniert die Aufmachung des Gruppenzimmers begutachtete, hatte Elise es sich bereits, an der Hand eines anderen Mädchens, mit ein paar Plastikzootieren in der Bauecke bequem gemacht.
Eine Frau mit blonder Kurzfrisur und lila Haarspitzen winkte ihm lachend zu. Megan, kombinierte Chris und winkte vorsichtig zurück.
Die beiden Erzieherinnen besprachen sich kurz, dann kam Maya zurück und schloss die Tür hinter sich. Schlagartig war der Lärm gedämmt und Chris fühlte sich, als ob er gerade aus einer laut beschallten Diskothek ins Freie getreten wäre.
„Folgen Sie mir, Mr. Taylor“, forderte Maya ihn auf und ging zielstrebig auf die kanariengelbe Tür zu, hinter der sich ein kleines Büro voll farbenfroher Regale, Möbel und Ordner auftat.
„Ihr Haus macht seinem Namen wirklich alle Ehre“, stellte Chris fest, während er sich auf einem roten Stuhl niederließ.
Maya nickte stolz. „Farben sind unheimlich wichtig. Sie bringen Abwechslung und Fröhlichkeit in unser Leben. Aber kommen wir zum Formellen. Sie sagten am Telefon, Sie seien alleinerziehend?“
Chris nickte. „Ja, das stimmt.“ Mit der folgenden Pause versuchte Maya wohl zu bezwecken, dass er ihr weitere Details zu dieser Situation preisgab, doch Chris konnte solche unausgesprochenen Andeutungen meisterhaft ignorieren.
Als die Pause zu lange zu werden drohte, räusperte sich Maya und fuhr fort: „Und ich nehme an, Sie sind berufstätig?“
„Richtig. Ich arbeite bei der Polizei.“
Ein „Oh“ in zweideutigem Tonfall. „Das bedeutet, Sie arbeiten Schicht?“
„Ich hoffe nicht“, sagte Chris. Er konnte auf eine Standpauke verzichten, die ihm ins Gewissen reden sollte, dass er als alleinige Bezugsperson für seine Tochter auch noch unregelmäßige Arbeitszeiten hatte. „Jedenfalls nicht regelmäßig“, fügte er vorsichtshalber hinzu.
Maya zog die Stirn kraus, gab sich aber mit der Aussage zufrieden. „Unsere Betreuungszeiten dauern von sieben Uhr früh bis fünf am Abend. Freitags ist bereits um halb zwei Schluss. Im August und im Dezember ist das Rainbow-House für jeweils drei Wochen geschlossen.“
„Das passt“, sagte Chris und verteilte im Kopf bereits seinen Jahresurlaub.
„Prima. Zum finanziellen Teil… Unser Haus ist geringfügig teurer als die umliegenden Einrichtungen. Das rührt daher, dass…“
„Wenn es Elise hier gefällt, dann werde ich sie anmelden“, versuchte Chris eine lange Sache kurz zu machen. Geld spielte in Bezug auf seine Tochter keine Rolle.
„Na dann“, sagte Maya abschließend. „Ich gebe Ihnen die Anmeldedokumente mit. Wir können Ihre Tochter gemeinsam abholen und Sie besprechen das in aller Ruhe zu Hause mit ihr. Ich warte dann morgen auf Ihren Anruf.“
Freitag, 06. November, 13.30 Uhr
Es gab noch so vieles zu erledigen und die Zeit raste. Chris hatte zwar bereits den kürzesten Weg zum Supermarkt und eine preisgünstige Tankstelle mit Imbiss in der Nähe gefunden. Es gab zwei Spielplätze, die für Kinder in Elises Alter geeignet waren; bei keinem von ihnen würde er sie jedoch unbeaufsichtigt spielen lassen. Ein Frisör bot seine Dienste direkt in der Finn Street und nur drei Häuser entfernt an, so dass er sich am Morgen noch einen neuen Haarschnitt gegönnt hatte, bevor er nach dem Wochenende seinen neuen Job begann. Die Wartezeiten auf den Ämtern hatten ihm täglich einen Strich durch die straffe Planung gemacht, doch mit dem Ende der Woche waren Elise, er und sogar das Auto erfolgreich umgemeldet. Christian Taylor und seine Tochter waren nun offizielle Bürger der Stadt Shreveport.
Der wichtigste Punkt, der für dieses Wochenende noch anstand, lautete: einen Taco-Bell finden, denn Elise liebte die mexikanischen Köstlichkeiten, die diese Fastfoodkette anbot.
Als Chris sein glückliches, blondes Mädchen nach Kindergartenende abholte, kam ihm in den Sinn, dass sie ihm einiges voraus hatte. Sein anstehender Neubeginn beim Shreveport Police Department lag ihm schwer im Magen. Während Elise diese Hürde mit Leichtigkeit genommen hatte, bereitete Chris allein der Gedanke an neue Kollegen, neue Fälle, neue Vorgesetzte Bauchschmerzen. Ein neuer Partner…
Es war nicht einfach, jemanden zu finden, bei dem die Chemie stimmte, das Ganze harmonierte, so dass man über Jahre hinweg den Großteil des Tages mit ihm verbringen konnte. In Milwaukee hatte Chris damals großes Glück gehabt. Auf eine solch glückliche Wiederholung konnte er wohl nicht hoffen.
„Wir haben heute gebacken, Daddy“, erzählte Elise in kindlicher Aufregung. „Einen Regenbogenkuchen. Der hatte alle Farben. Rot, gelb, lila, blau, grün… Sogar orange!“
Chris grinste. Lebensmittelfarbe… aber wenn es die Kleinen nun einmal glücklich machte. Skittles waren auch nicht gesünder und diese Bonbons aß er für sein Leben gern.
„Habt ihr dafür extra einen Regenbogen vom Himmel geholt?“, fragte Chris in vorbildhafter Vatermanier.
„Ne-in!“, sagte Elise und schlug sich die Hand an die Stirn. „Ach Daddy. Du weißt ja gar nichts.“
Er lachte. „Dann wirst du es mir wohl erklären müsse. Aber zuerst musst du mir verraten, ob der Kuchen dich so satt gemacht hat, dass du heute keine Lust mehr auf Taco-Bell hast.“ Vorsorglich hatte er den Gilbert Drive bereits ins Navigationssystem seines Wagens eingespeichert. „Und ein paar neue Klamotten müssen wir dir auch noch besorgen. Was hältst du von einem lustigen Vater-Tochter-Tag?“
Elises Augen strahlten noch heller als zuvor. „Juhu! Taco-Bell!“, jubelte sie.
Freitag, 06. November, 17.55 Uhr
Eine Woche voll Höhen und Tiefen lag hinter ihr und als Hope sich auf ihr weiches, weißes Kuschelsofa fallen ließ, fühlte sie sich erschöpfter als nach einer Woche voller Nachtschichten. Sie schloss die Augen und lauschte der Stille.
Wenn man davon absah, dass der pubertierende Marvin aus der Nachbarwohnung seine Stereoanlage wieder einmal auf Schwerhörigkeitsmodus eingestellt hatte, war es in dem großen Mehrfamilienhaus tatsächlich ruhig. Noch zu früh für lautes Fernsehprogramm, aber bereits zu spät zum Bohren oder Staubsaugen.
Noch zwei Tage zum Vorbereiten auf den großen Tag am Montag. Es war die erste, richtige Prüfung, die Hope zu bestehen hatte: die Einführung zweier neuer Kollegen. Und sie war die Chefin, der Boss, der Captain ohne Titel. Ihr Team wusste ihre Leistungen zu schätzen, doch bei den beiden Neuen würde sie sich ihren Status erst verdienen müssen. Dabei bereitete ihr der Frischling weniger Kopfzerbrechen als der gestandene Cop mit der frisierten Akte. Er war älter als sie und ganz sicher würde er sie nicht einfach so als Vorgesetzte akzeptieren, wie sie das von einem jüngeren Kollegen erwartete. Hoffentlich ist er wenigstens nicht so ein chauvinistisches Arschloch wie Rice…
Das erste, lautere Geräusch, das an ihr Ohr drang, war das Knurren ihres eigenen, hungrigen Magens. Hope überlegte, dass sie viel zu müde und viel zu faul dafür war, sich selbst an den Herd zu stellen. Ein Anruf beim China-Restaurant würde zu einem leckereren Abendessen führen als eine Stunde ihrer eigenen mittelmäßigen Kochkünste. Darüber hinaus hatte sie auch kaum Vorräte im Kühlschrank. Ihre Mutter hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.
Hope setzte sich auf und blätterte durch die Post der vergangenen Tage, die sie allesamt unbesehen auf dem Wohnzimmertisch gesammelt hatte. Dabei war auch ein Faltblatt ihres Lieblingschinesen gewesen… Neben diverser Rechnungen, fiel ihr ein Brief in die Hände, der die Absenderadresse eines Notariats vorwies. Hope runzelte die Stirn und schließlich siegte ihre Neugier über den Hunger. Mit den Fingern riss sie ungeschickt den Umschlag auf, so dass die Briefmarke in Mitleidenschaft gezogen wurde, was jedem Philatelist das Herz gebrochen hätte.
Während sie die Zeilen überflog, wurde ihr flau im Magen. Was sie hier in Händen hielt, war eine Ladung zu einer Testamentseröffnung.