Читать книгу Neubeginn - Stephanie Carle - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеMontag, 09. November, 7.00 Uhr
Viel zu schnell war das Wochenende vorüber und auch wenn es Hope gelungen war, die nagenden Unsicherheiten zwei Tage lange auszublenden, so ließen sie sich jetzt nicht mehr aufhalten. Bereits um fünf Uhr war ihre Nacht vorübergewesen und auch zuvor hatte sie sich lediglich in einem unruhigen Halbschlaf befunden. Jetzt war es Punkt sieben Uhr und sie saß vor ihrem alten Schreibtisch, weil sie nicht den Mut aufbringen konnte, Conrads Büro für sich zu beanspruchen.
Die unterschiedlichsten Gedanken fuhren Achterbahn in ihrem Kopf und wenn sie so recht darüber nachgrübelte, konnte sie nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob die Ampel an der großen Kreuzung auf ihrem Arbeitsweg vorhin grün gewesen war, als sie ohne zu bremsen darüber gerast war.
Wieso erwähnt Conrad mich in seinem Testament?
Wie werden die beiden neuen Kollegen sein?
Um Himmels Willen, der erste von ihnen kommt bereits in einer Stunde!
Hoffentlich lässt sich Mrs. Harper heute nicht wieder blicken, um Conrads Büro auszuräumen.
Auch auf ein weiteres Zusammentreffen mit Rice kann ich gut verzichten.
Was steht in diesem Testament, das mich betrifft?
„Ach Conrad. Wenn deine Frau das erfährt, wird sie toben wie eine Furie.“
„Guten Morgen, Hope!“
Hope fuhr herum und erkannte Adrian. „Hi“, sagte sie. „Du bist aber früh. Wir haben doch gar keinen akuten Fall.“
„Du bist noch früher“, konterte Adrian und legte Rucksack und Jacke ab. „Ich bin ja am Freitag so zeitig weg, da ist ein bisschen Arbeit liegengeblieben. Außerdem können wir nicht unbedingt auf eine weitere ruhige Woche warten.“
„Das stimmt“, nickte Hope. „Hat Sam ihre Präsentation bestanden?“
Adrian zuckte die Achseln. „Wer hätte daran gezweifelt?“, fragte er zurück. „Mit Bravur natürlich. Es wird höchste Zeit, dass ich sie heirate, bevor sie sich einen Klügeren als mich angelt.“ Er lachte, wie nur einer lachen kann, der sich der Liebe seiner Partnerin absolut sicher ist.
„Auf Hochzeiten gibt es immer leckeren Kuchen“, kommentierte Hope. Es wurde höchste Zeit, ins Büro zu gehen. Hier im Gruppenraum an ihrem alten Arbeitsplatz konnte sie unmöglich ein Kennenlerngespräch mit den neuen Kollegen führen. Außerdem musste sie ihren Schreibtisch für Detective Christian Taylor räumen. „Wenn du kurz Luft hast, könntest du vielleicht Samuel Bescheid sagen, dass er meinen Computer in Conrads Büro verkabelt? Allerdings erst wenn ich mit den Gesprächen durch bin.“
„Klar“, sagte Adrian. „Hollister arbeitet sowieso erst nach dem Mittagessen. Davor ist der Freak zu nichts zu gebrachen.“ Er zwinkerte und Hope ärgerte sich darüber, dass sie sich durch diese Geste geschmeichelt fühlte.
Adrian ist vergeben. Punkt, mahnte sie sich streng. Kannst dir ja Taylor anlachen. Auf dem Foto sieht er ja auch ganz nett aus.
Ein wenig schwermütig erhob sie sich und verabschiedete sich still von ihrem Schreibtisch. Sie hatte diesen Platz geliebt. Eine eigene Nische und trotzdem in der großen Gruppe. Mit ihrem Umzug in das Einmannbüro des Captains kam ihr automatisch eine von den anderen isolierte Stellung zu, mit der sie sich noch nicht anfreunden konnte.
Um kurz vor acht war Hope endlich startklar für erste Gespräch und sie war froh, dass Detective Taylor noch nicht da war. Als er jedoch zwanzig Minuten später immer noch auf sich warten ließ, schwang ihre Erleichterung in Ärger um. Für neun war ja bereits Luke Dorian bestellt und danach hätte sie die beiden neuen Kollegen gerne noch im Team eingeführt. Danach war ein gemeinsames Mittagessen im Bistro, welches im Erdgeschoss des Gebäudes gelegen war, vorgesehen. Dabei konnten sie sich gegenseitig besser kennenlernen. Hope konnte es nicht leiden, wenn man ihren Zeitplan durcheinander brachte, ohne dass sie etwas daran ändern konnte.
Montag, 09. November, 8.00 Uhr
Der Verkehr war die Hölle. Aber das war ja mal wieder typisch. Wenn es darauf ankam und Chris es eilig hatte, wollte einfach nichts laufen. Irgendein Schicksalsgott schien sich auf seine Kosten einen Spaß zu gönnen.
Erst hatte Elise nicht aufwachen wollen, dann war ihr beim Frühstück das Toast zu dunkel und die Milch zu heiß gewesen. Die Cornflakes waren nicht süß genug und nachdem die Milch endlich eine trinkbare Temperatur angenommen hatte, war sie mit einer Haut überzogen, die Elise eklig fand. Ihre Lieblingsstrumpfhose hatte ein Loch im Knie, das Chris zuvor nicht aufgefallen war, und es gab Tränen, weil die neue Strumpfhose am großen Zeh kniff. Deshalb bestand Elise darauf, ihre Sandalen zu tragen, was Chris ihr bei Regen und für Louisiana untypisch kalten Wind nicht erlauben konnte. Das Haarekämmen ziepte so sehr, dass Chris es schließlich aufgab und seine Tochter im Bed-Head-Look zum Kindergarten brachte.
Auf dem Weg fiel ihm auf, dass er das Pausenbrot für sie zu Hause neben der Spüle vergessen hatte, und so verloren sie noch unnötig viel Zeit in der Menschenschlange vor einer Bäckerei, in der heute nur eine Bedienung Dienst hatte. Dann waren die Laugenbrötchen aus und auch die Donuts mit dem hellen Überzug. Elise schmollte und erklärte Hungerstreik.
Nachdem er seine kleine Zicke endlich im Rainbow-House abgeliefert hatte, benötigte Chris fünf Minuten, um wieder herunterzukommen und sich zu sammeln. Dann fuhr er los, um geradewegs in den nächsten Verkehrsstau zu düsen und zwischen wütend hupenden Autos zu warten, bis irgendein dämlicher Truckfahrer sein gigantisches Gefährt in aller Seelenruhe rückwärts in irgendeine viel zu kleine Einfahrt gelenkt hatte.
Es war bereits viertel nach acht, als er seinen Wagen in das für Mitarbeiter der Polizei reservierte Parkhaus des Shreveport Police Departments lenkte und glücklicherweise recht schnell einen Parkplatz fand.
Gleich am ersten Arbeitstag zwanzig Minuten zu spät zu erscheinen, versprach beste Voraussetzungen! Damit kann ich mir der überschwänglichen Sympathien der neuen Kollegen sicher sein! Murphy lässt grüßen…
Hastig schwang er sich aus dem Fahrersitz und eilte durch die Eingangstür ins Gebäude, wo ihm eine Hitzewelle entgegenschlug und kräftiger Kaffeegeruch verführerisch empfing. Ohne weiter darauf zu achten, ging er zielstrebig zum Aufzug und wartete ungeduldig, bis die Türen sich öffneten.
In seinem Brief zur Einstellung stand, dass er sich in Zimmer 205 im zweiten Stock bei Detective Cromworth einzufinden hatte. Um acht! Mittlerweile war er gut eine halbe Stunde in Verzug. Blieb nur zu hoffen, dass sein neuer Chef kein Erbsenzähler war.
Aus dem engen Fahrstuhl heraus, blickte Chris sich nach beiden Seiten um, um abzuschätzen, in welcher Richtung Zimmer 205 lag. Er entschied sich für links und stellte fest, dass es tatsächlich die richtige Entscheidung gewesen war. Unmittelbar vor der steril-weißen Tür, die einen krassen Gegensatz zu den fröhlichen Farben des Rainbow-House bildete, angekommen, fühlte Chris seinen schnellen Herzschlag. Doch es blieb keine Zeit mehr, sich zu sammeln, und so klopfte er schwer atmend an.
Eine Frauenstimme bat ihn herein und während er noch grübelte, wie reich die Shreveporter Polizei sein musste, wenn sich Detective Cromworth eine Vorzimmerdame leisten konnte, trat er ein und hielt dann perplex im Türrahmen inne. Detective Cromworth konnte sich keine Vorzimmerdame leiste, die Vorzimmerdame war Detective Cromworth!
Montag, 09. November, 8.37 Uhr
Hope schaute demonstrativ auf die Uhr, als Detective Christian Taylor zur Tür hereinstolperte. „Schön, dass Sie es auch noch für nötig halten, zum Termin zu erscheinen“, empfing sie ihn, vielleicht ein wenig zu bissig, doch Unpünktlichkeit war eine Untugend, die Hope verabscheute. Wenn er bereits an seinem ersten Arbeitstag über eine halbe Stunde zu spät zum Dienst erschien, dann konnte sie sich die Verlässlichkeit dieses Kollegen bei zukünftigen Fällen an drei Fingern abzählen.
„Es tut mir leid, Detective“, sagte Taylor und besaß wenigstens so viel Anstand, ein schuldbewusstes Gesicht zu machen. „Der Verkehr… Ich bin erst seit einer Woche in der Stadt. Es wird nicht wieder vorkommen.“
Das kann ich abwarten. „Das käme mir sehr entgegen“, erklärte Hope. „Setzen Sie sich, Chris.“
„Detective Taylor“, berichtigte er sie und Hope war einen Moment lang verwirrt. „Ich zeihe es vor, einander auf der förmlichen Ebene zu begegnen“, führte Christian Taylor aus.
Arrogant also. Davon stand nichts in der Akte. Vielleicht war das der Grund, warum die Kollegen aus Milwaukee ihn loswerden wollten…
„Gut.“ Hope sammelte sich wieder und setzte erneut an: „Setzen Sie sich, Detective Taylor.“
Sie wartete, bis der neue Kollege ihrer Aufforderung nachgekommen war. Dann stellte sie sich vor: „Ich bin Detective Hope Cromworth und ich leite die Abteilung für Kapitalverbrechen. Ich weiß nicht, inwieweit man Sie über die Neustrukturierung unseres Teams in Kenntnis gesetzt hat. Neben Ihnen wird es noch einen weiteren neuen Kollegen geben. Die übrigen Teammitglieder stelle ich Ihnen später vor, für zehn Uhr ist ein Meeting angesetzt.“
Taylor nickte. „Prima.“
Hope fand dieses erste Gespräch zwar alles andere als prima, aber bitteschön, wenn er diesen Eindruck hatte, würde sie versuchen, ebenfalls gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Dann erzählen Sie doch kurz etwas über sich.“
Christian Taylor fuhr sich mit der Hand durch die kurze, schwarze Igelfrisur, was Hope als Zeichen dafür wertete, dass er trotz seiner überheblich wirkenden Haltung unter der Oberfläche auch ein wenig nervös war. „Eigentlich steht alles in der Akte, die Sie gelesen haben“, sagte er ausweichend.
Hope blickte ihn streng an. „Eigentlich steht gar nichts in der Akte, die ich gelesen habe“, entgegnete sie ihm. Wieso sind es immer die Arschlöcher, die gut aussehen? Sie erschrak über ihren eigenen abschweifenden Gedanken. „Außer dass Sie lange Zeit in Milwaukee gearbeitet haben. Was war der Grund für Ihre Neuorientierung hier im Süden?“
Detective Taylor hob die Schultern und senkte den Blick. „Es gab diverse Gründe privater Natur, die einen Tapetenwechsel verlangten“, antwortete er kurz.
„Hm“, brummte Hope. Das kann ich mir vorstellen. Doch sie hakte nicht weiter nach. Wie es schien, würde sie mit diesem Menschen niemals Freundschaft schließen, von daher mochte er seine privaten Probleme gern für sich behalten. Sie hatte derzeit genügend eigene Sorgen, die ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. „Sie haben dort aber bereits als Ermittler gearbeitet, ist das richtig?“
„Ja.“ Kurz und bündig.
Hope zwang sich, nicht die Augen zu verdrehen. Bei einem Bewerbungsgespräch hätte er definitiv verloren. „Es ist schade, dass wir nicht mehr Zeit haben, uns näher kennen zu lernen“, sagte sie mit einer gewissen Ironie, „doch, wie bereits erwähnt, habe ich gleich noch ein Gespräch mit dem zweiten neuen Kollegen. Ich werde Detective Glover bitten, Ihnen Ihren neuen Schreibtisch zu zeigen, dann können Sie sich ein wenig mit Ihrem neuen Job hier bekanntmachen. Er wird Ihnen auch das Besprechungszimmer zeigen, wo wir uns um zehn Uhr zusammenfinden. Und zwar pünktlich.“
Taylor hob den linken Mundwinkel und bewegte den Unterkiefer, verzichtete jedoch auf einen Kommentar zu ihrer spitzen Bemerkung.
Sollte Adrian sich mit ihm herumschlagen. Vielleicht hatte der ja mehr Glück. Blieb nur zu hoffen, dass Luke Dorian ein angenehmerer Zeitgenosse war.
Montag, 09. November, 9.55 Uhr
Luke Dorian war das exakte Gegenteil von Detective Christian Taylor, sowohl optisch, als auch charaktermäßig. Der blonde, junge Cop mit der hellen Haut und den blauen Augen war aufgeschlossen und sichtlich glücklich darüber, dass Hope ihn mit Vornamen ansprach. Er sprudelte wie ein Wasserfall von seinem bisherigen Aufgabenfeld – hauptsächlich bei der Highway Patrol – und von Kollegen und seiner Ausbilderin, die ihn alle in seiner Entscheidung, zur Kriminalpolizei aufzusteigen, unterstützt hatten. Luke war ambitioniert und freundlich und Hope war sicher, dass er sich gut in ihr Team einfinden würde. Im Gegensatz zu Taylor, der um seine Person und Vergangenheit ein riesengroßes Geheimnis machte. Irgendetwas hatte dieser Typ zu verbergen und seit ihrer Fehleinschätzung bezüglich Bertram Sand, der vor wenigen Wochen alles zerstört hatte, was Hope lieb und teuer war, war sie ein gebranntes Kind. Dem gutaussehenden Dunklen konnte sie nur mit Distanz und Misstrauen begegnen.
Hope eröffnete die Teamsitzung, zu der tatsächlich ausnahmslos alle rechtzeitig erschienen waren, mit gemischten Gefühlen. Sie blickte in die Runde und versuchte sich vorzustellen, wie die ‚Alteingesessenen‘ mit den beiden Neuen zu einer funktionierenden ‚Familie‘ zusammenwachsen konnten. Mit Detective Taylor gab es dazu wahrscheinlich keine Chance.
„Einen wunderschönen, guten Morgen. Ich danke euch, dass ihr alle eure Arbeit liegen gelassen habt und zur Einführung unserer beiden neuen Kollegen erschienen seid“, sagte Hope und überlegte, ob Taylor die verallgemeinernde, informelle Anrede des gesamten Teams bereits schon als persönliche Beleidigung betrachtete. Jedenfalls würde sie darauf keine Rücksicht nehmen. Sie mochte ihm als Einzelperson den von ihm geforderten Respekt durch Nachnamensnennung entgegenbringen, aber hier waren sie ein Team, auf das sie sich verlassen musste und zu dem sie auch eine gewisse Beziehung aufbauen wollte. Deshalb konnte sie Taylors Sonderstatus in dieser Hinsicht kein Verständnis entgegenbringen.
„Bevor ich große Reden schwinge, überlasse ich den zweien die Vorstellung ihrer Person selbst. Vorher fände ich es schön, wenn jeder von uns kurz etwas über sich selbst berichtet, damit unsere Kollegen einen kleinen Einblick in unser Team erhalten. Zum besseren Kennenlernen in ungezwungenerem Rahmen habe ich ein teaminternes Mittagessen unten im Bistro um zwölf Uhr veranschlagt. Adrian, darf ich dir das Wort als erstes übergeben?“
„Selbstverständlich“, nickte Adrian und straffte den Rücken. „Ich bin Detective Adrian Glover und seit acht Jahren in der Abteilung für Kapitalverbrechen. Bisher habe ich immer mit meinem Partner Marc zusammengearbeitet; durch die aktuelle Umstrukturierung werde ich in nächster Zeit jedoch mit Grace im Team ermitteln.“
„Grace bin ich“, verstand Grace Adrians Kopfnicken richtig. „Grace Packet.“
„Oder Bambi, weil sie noch so jung ist“, zwinkerte Marc.
Die rothaarige Detective lachte. „Oder Bambi. Gemeinsam mit unserem ehemaligen Kollegen Bertram Sand war ich unter anderem für die Zusammenarbeit mit der Justiz zuständig, was ich fortan als Hauptaufgabengebiet übernehmen werde. Und damit gebe ich weiter an den alten Marc.“
„Touché“, sagte Marc. „Detective Marc Williams. Wir haben uns ja bereits eben kurz kennengelernt“, erklärte er mit einem Nicken in Richtung Luke Dorian, „und ich glaube, dass wir ein ziemlich gutes Team abgeben werden. Ich fürchte, viel mehr gibt es von mir gar nicht zu berichten. Mein Lebenslauf gleicht dem meines werten Kollegen Glover.“
„Abgesehen davon, dass Marc mit unserer Gerichtsmedizinerin liiert ist“, warf Adrian ein. Alle lachten.
Abgesehen von Taylor.
„Luke?“, richtete Hope sich an den Jüngsten in der Runde.
„Ich bin Luke Dorian“, begann der Aufgeforderte. „Noch nicht Detective, aber ich hoffe, mit euch im Team einer zu werden. Bisher war ich hauptsächlich auf dem Highway unterwegs. Verkehrskontrollen, Unfälle, auch die eine oder andere Polizeiverfolgung. Ich bin jetzt Ende zwanzig und damit in einem Alter, wo ich mich neu orientieren möchte.“
„Ruhiger als auf der Straße geht es hier aber bestimmt auch nicht zu“, warnte ihn Marc.
Luke grinste breit. „Das hoffe ich doch“, verkündete er.
„Taylor“, kam Hope zum letzten Kollegen in der Runde.
Der Angesprochene hob den Kopf und für den Bruchteil einer Sekunde hielt er ihren Blickkontakt, was in Hope undefinierbare Gefühle heraufbeschwor. Sie war regelrecht erleichtert, als er wieder seine stoische Miene aufsetzte und mit seiner Vorstellung begann. „Detective Christian Taylor. Ich habe in Milwaukee ebenfalls für die Abteilung für Gewalt- und Kapitalverbrechen gearbeitet, habe also bereits einige Jahre Erfahrung in der Sache.“ Kurz und bündig. Wie zu erwarten war.
Wir werden ein absolutes Dream-Team, seufzte Hope, bemühte sich aber darum, ein heiteres Gesicht an den Tag zu legen.
„Marc, wäre es für dich in Ordnung, wenn du unsere beiden neuen Kollegen durchs Präsidium führst? Chief Rice wäre bereit, sie gegen elf-dreißig persönlich zu begrüßen. Mache sie mit allen wichtigen Leuten bekannt.“
„Klar – Boss“, sagte Marc und Hope registrierte die ungewollte Pause zwischen den beiden Worten. Luke wollte Detective werden, sie musste Captain werden. Boss wollte sie jedenfalls nicht sein. Das klang so böse und hatte einen überheblichen Beigeschmack. Nicht ihr Stil.
„Grace, du könntest mir einen großen Gefallen tun, indem du mir beim Zusammentragen von Conrads persönlichen Sachen aus seinem Büro hilfst. Alles müsste in Kartons verpackt werden, damit seine Frau sie demnächst abholen kann.“
„Selbstverständlich“, nickte Grace.
„Ich hätte noch ein paar Berichte fertigzustellen…“, vermeldete Adrian kleinlaut.
„Kein Problem. Dein nächster Termin ist erst für zwölf in der Cafeteria angesetzt“, beruhigte ihn Hope.
Montag, 09. November, 16.30 Uhr
Beim Lunch hatte Chris erfahren, dass Williams mit der – laut Erzählungen – superscharfen Leiterin der Rechtsmedizin Lynne Cooper zusammen war. Sein bisheriger Partner Glover war verlobt mit einer Frau, die in einem früheren Fall eine tragende Rolle gespielt haben musste; mehr wollten die Kollegen jedoch offenbar nicht preisgeben. Nicht, dass es ihn näher interessiert hätte. Es war nur so ungerecht, dass es bei allen anderen mit der Liebe funktionierte, während bei ihm…
Er schluckte und verscheuchte den Gedanken, ehe er ihn zu Ende führen konnte.
Es war Vergangenheit.
Und er hatte schmerzlich gelernt, dass man an der Vergangenheit nichts ändern konnte.
Menschen lernten aus ihren Fehlern, doch das half ihm in dieser Situation auch nicht weiter.
Sie war weg.
Und sie würde nie mehr zurückkehren.
Jetzt hatte er den unliebsamen Gedanken doch weiterverfolgt. „Ach, scheiß drauf!“, schimpfte er laut und lenkte seinen Wagen mit quietschenden Reifen aus der Parklücke.
Bambi-Grace war noch jung und unvergeben. Eigentlich hätte Detective Cromworth ihr den Jungspund Dorian als Partner zuweisen sollen. Die beiden hätten sicherlich nicht nur auf geschäftlicher Ebene prima harmoniert… Dann hätte er vielleicht das Glück gehabt, mit Glover zusammenarbeiten zu können.
Stattdessen würde die Chefin persönlich sich seiner annehmen.
Cromworth war eigentlich viel zu hübsch für diesen verhärmenden Job. Aber er war nicht hierhergekommen, um denselben Fehler noch einmal zu begehen. Er hatte sich geschworen auf Abstand zu gutaussehenden Frauen zu gehen, um nicht wieder derart leiden zu müssen wie in Milwaukee. Noch einmal könnte er das nicht ertragen.
Chief Solomon Rice war, nach seiner ersten Einschätzung, ein absolutes Arschloch und Chris konnte dankbar dafür sein, dass er in seiner Position als einfacher Ermittler – wahrscheinlich abgesehen vom Zusammensitzen beim feierlichen Bankett zu Thanksgiving – nicht viel mit ihm zu tun haben würde.
Der Technikfreak… Chris grübelte, bis er auf den Namen kam. Samuel Hollister. Einen wie ihn gab es wohl auch in jeder Polizeiwache. Die übrigen Personen, mit denen Williams ihn bekannt gemacht hatte, würde er nicht mehr auf die Reihe bekommen. Das brauchte Zeit.
Wie so Vieles Zeit brauchte.
Viel Zeit.
Montag, 09. November, 16.45 Uhr
Abgesehen von Adrian war das Großraumbüro leer, als Hope es betrat, um sich endgültig von ihrem alten, liebgewonnenen Schreibtisch zu verabschieden. Die übrigen hatten sich einen frühen Feierabend erlaubt, was ihnen nach den Strapazen der letzten Wochen absolut zustand. Die nächste Ermittlung würde nicht lange auf sich warten lassen und dann hieß es wieder Überstunden klopfen und Nachtschichten ackern.
„Was hältst du von den beiden Neuen?“, fragte Adrian mit ehrlicher Direktheit.
Hope hob die Schultern und ließ sich auf einem Stuhl neben ihm nieder. „Ich bin mir nicht sicher, ob sie in unser Team passen“, seufzte sie.
Adrian nickte verständnisvoll. „Keiner ist Conrad“, brachte er die Sache auf den Punkt.
Hope stützte die Ellbogen auf seinem Tisch ab und vergrub müde das Gesicht in den Händen. „Keiner ist Conrad“, wiederholte sie durch ihre eigenen Hände gedämpft. Dann rieb sie sich über die Augen und drückte den Rücken gerade. „Luke ist in Ordnung, aber es beruhigt mich, dass Marc ihn unter seine Fittiche nimmt. Ich glaube, dass seine Unerfahrenheit ihm im Ernstfall zum Verhängnis werden könnte, wenn er nicht einen guten Lehrer an seiner Seite hat. Aber ich denke, er wird es zum Detective schaffen.“
„Ja, das trifft meine eigene Einschätzung. Wir haben alle einmal klein und unerfahren angefangen und wir haben alle einen Mentor, zu dem wir aufblicken.“
Ich habe meinen Mentor verloren… „Deshalb hat er ja auch meine volle Unterstützung. Und Taylor ist ein seltsamer Kauz.“
Adrian lachte. „Das haben die Leute aus dem Norden doch so an sich.“
„Ich dachte, das zählt nur für Boston“, scherzte Hope. „Nein, im Ernst. Ich kann ihn nicht einschätzen und das macht mich unsicher ihm gegenüber.“
„Ich weiß, was du meinst. Er wirkt ein wenig undurchsichtig und grimmig. Aber wir wissen nicht, was der Job aus ihm gemacht hat. Uns haben die Ereignisse in diesem Jahr auch verändert. Jeden von uns.“
„Das stimmt“, überlegte Hope. „Vielleicht mache ich mir auch einfach zu viele Gedanken.“
„Definitiv“, stimmte Adrian ihr zu. „Ich mache jetzt Feierabend. Vielleicht solltest du das auch tun.“
„Mache ich“, sagte Hope. Sie wollte nur noch die Einstellungen an ihrem Computer überprüfen, den Samuel ihr im Laufe des Tages in ihrem neuen Büro installiert hatte. „Wir sehen uns dann morgen.“
Hope fuhr den PC hoch und versuchte, sich dabei bequem im Sessel zu positionieren. Wie immer, wenn sie nur kurz etwas nachsehen wollte, gestaltete sich diese Kürze zu einer ausgedehnten Computersitzung. Als mit Wucht die Tür aufgerissen wurde, war Hope vollkommen verdattert.
Heute in schwarzem Ledermantel mit großen, goldenen Stickereien auf Rücken, Armen und am Saum gekleidet, stürmte Mrs. Harper ins Büro. Mit zornesgerötetem Gesicht kam sie gerade noch rechtzeitig vor Hopes Schreibtisch zum Stehen.
Hope blieb nicht einmal die Zeit, den Mund zu öffnen, da prasselte eine wüste Schimpftirade wie eisige Hagelkörner auf sie herab.
„Wie können Sie es wagen, die persönlichen Habseligkeiten meines Mannes, die jetzt mein Eigentum sind, ohne mein Einverständnis lieblos in Kartons zu werfen? Das ist ja wohl die Höhe! Was bilden Sie sich eigentlich ein, wer Sie sind? Als er noch lebte, da haben Sie ihn ausgenutzt und er war so dämlich, auf Sie hereinzufallen, Sie elendes Flittchen!“
Hope platzte beinahe vor Wut. „Ich glaube, es war eher dämlich von ihm, dass er auf Sie hereingefallen ist!“
„Wie bitte?“, schrie Mrs. Harper mit überschlagender Stimme und schnappte stoßweise nach Luft, so dass ihre aufgespritzten Lippen wie das vorstehende Maul eines Fisches auf dem Trockenen wirkten. Wie sie sich aufführte, hatte sie nichts mehr mit der Königin der Nacht gemein. Diese wahrte wenigstens ihre Würde. „Das ist ja wohl die Höhe. Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten beschweren, darauf können Sie sich verlassen! Solch eine Dreistigkeit muss sich eine arme Witwe wohl kaum gefallen lassen!“
Mit wehendem Mantel fuhr sie herum und raste wie eine Furie aus dem Zimmer.
Noch ehe Hope das Ausmaß dessen, was eine Beschwerde dieser unverfrorenen Dame bei Chief Rice ausrichten konnte, abschätzen konnte, war Mrs. Harper auch schon wieder zurück. In Begleitung des Chiefs höchstpersönlich. Für gewöhnlich dauerte es Tage, bis Solomon Rice einen Termin freihatte, doch offenbar war es ihm eine besondere Herzensangelegenheit, Hope so schnell wie möglich aus ihrem Amt zu entheben.
„Hier sehen Sie, Chief“, sprudelte Mrs. Harper, die jetzt eine mitleidssuchende Miene aufgelegt hatte. „Alles weg. Eigenmächtig hat Ihre Detective die wertvollen Erinnerungen an meinen Mann ohne Rücksicht auf mögliche Schäden, die zerbrechliche Dinge nehmen könnten, in Kisten gesteckt. Und als ich sie höflich darauf hingewiesen habe, dass dies ein unangebrachtes Verhalten sei, war diese unverschämte Person sogar noch in der Lage, mich zutiefst zu beleidigen.“
Hope traute ihren Ohren nicht. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und erklärte zu ihrer Verteidigung: „Der höfliche Ausdruck, den Mrs. Harper mir gegenüber gebraucht hat, war Flittchen.“
„Was unterstellen Sie mir?“, rief Mrs. Harper konsterniert. „Wertester Chief, nun legt sie mir sogar noch Worte in den Mund, die niemals über meine Lippen kommen würden.“
„Genug“, sagte Rice bestimmt. „Sehen Sie, Miss Cromworth, das genau ist der Grund, warum ich Frauen in Führungspositionen nicht ausstehen kann. Ständig gibt es nur Probleme. Ich hatte Ihnen ja bereits eine Bewährungsfrist angekündigt. Sie sind gerade auf dem besten Weg, dieses Büro schneller zu räumen als Sie es bezogen haben. Das ist meine erste und letzte Verwarnung. Ich werde diesen Zwischenfall in Ihrer Akte vermerken.“
Dass der Chief sie vor den Augen und Ohren dieser widerwärtigen Person zurechtwies und herabwürdigte, übertraf wirklich alles. Hope war den Tränen nahe. Der Zorn über diese Ungerechtigkeit eines offensichtlich abgekarteten Spiels war einfach zu groß. Ich will hier weg. Weit weg. Ihr könnt mich alle mal!
„Mrs. Harper, selbstverständlich wird Cromworth für die Kosten dessen aufkommen, was in ihrem eigenmächtigen Handeln an Ihrem Eigentum zu Schaden gekommen ist.“ Die Worte zogen an Hope vorbei, ohne dass sie sie noch wirklich zur Kenntnis nahm. „Ich weiß, dass das den ideellen Wert des Vermächtnisses Ihres Mannes niemals aufwiegen kann, aber betrachten Sie es als kleine Entschädigung von unserer Seite. Sollte es in Zukunft noch einmal zu neuen Vorfällen dieser oder ähnlicher Art kommen, dann zögern Sie nicht, mein Büro aufzusuchen. Ich wünsche einen schönen Abend.“
Nachdem er aus dem Zimmer und außer Hörweite verschwunden war, setzte Mrs. Harper ein triumphierendes Lächeln auf, bei dem sie die Eckzähne wie Reißwerkzeuge bleckte.
Hope schaltete den Computer aus, ohne ihn herunterzufahren. Sie verspürte nicht die geringste Lust, noch länger unbeobachtet und ohne Zeugen an ihrer Seite in einem Raum mit dieser falschen Schlange zu sein. In Windeseile packte sie ihre Aufschriebe zusammen und erhob sich. Mochte Mrs. Harper doch in Conrads ehemaligem Büro versauern! Jedenfalls würde sie sich nicht die Blöße geben, auch noch in ihrer Gegenwart in Tränen auszubrechen.
Sie wollte gerade an der Frau vorbeieilen, da packte Mrs. Harper sie mit festem Griff am Arm. Hope fuhr herum und blickte direkt in die kalten, grünen Augen. „Wagen Sie es ja nicht, zur Testamentseröffnung meines Mannes zu erscheinen, junge Lady. Das will ich Ihnen nur geraten haben.“
Mit einem energischen Ruck riss Hope sich los. Sie war nicht in der Lage, eine entsprechende Antwort zu formulieren, sie wollte nur noch möglichst schnell hier raus und möglichst viel Distanz zwischen sich und diese unangenehme Dame bringen. Mit eiligen Schritten hastete sie den Flur entlang, nahm zwei Treppen auf einmal und rannte die letzte Teilstrecke im Parkhaus zu ihrem Wagen. Während ihr die Tränen jetzt in Strömen über die Wangen liefen, beschloss Hope, dass sie heute Abend nicht nach Hause fahren würde und lenkte das Auto stattdessen auf den Highway 49 in Richtung Süden.