Читать книгу Der Zwillingsring - Stephanie Carle - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеDie letzten Männer waren fort – und das nun schon so lange, dass keiner mehr an eine Rückkehr glaubte. Anjella hatte nie Hoffnungen gehegt; sie wusste, dass King Lears Streitmächte auch ihr Dorf eines Tages finden würden und womöglich rückte dieser Tag mit dem Untergang ihrer letzten Beschützer in greifbare Nähe. Sie wusste, dass es so kommen musste, denn – wenngleich sie kaum Erinnerungen an ihren Vater hatte – so mahnte sie der kaum durch die Hautfläche schimmernde Ring in ihrer Handfläche doch jeden Morgen an seine Worte. Das Heer würde kommen und sie mitnehmen – jede einzelne Frau, jedes einzelne Mädchen – und was sie in NeuAmerika erwartete, konnte Anjella sich nur vage vorstellen.
Doch Valessas Schmerz berührte sie zutiefst. Ihre beste Freundin hatte bis ans Ende verzweifelt daran festgehalten, dass die Männer zurückkamen. Vor allem Salmonn, der in letzter Zeit zu mehr als ‚nur ein Freund‘ für sie geworden war. Seit zwei Tagen war sie ohne Unterlass am Weinen und weder ihre drei Jahre jüngere Schwester Sarinja noch Anjella vermochten sie zu trösten.
Anjella war vor der Stadtmauer Kräutersammeln gegangen. Zwar war das eigentlich nicht nötig, weil der Boden innerhalb der Dorfgrenzen genauso fruchtbar war wie hier und eine ebensolch reichhaltige Ernte hervorbrachte, doch irgendwie fühlte Anjella sich außerhalb der kühlen, langsam in sich zusammenfallenden Steinmauern auf seltsame Weise frei.
Sie würde nie frei sein, dessen war sie sich bewusst; jeden Tag erinnerte sie die kaum wahrnehmbare Naht in ihrem Handteller mit immer neuer Grausamkeit daran. Sie würde niemals ein unbeschwertes Leben führen, denn ihre ganze Existenz stand untergeordnet zu dem großen Auftrag, den ihr Vater ihr als Erbe hinterlassen hatte. Ganz gleich welche Opfer du bringen musst, es zählt nur, dass du am Leben bleibst. Ohne dich ist die Prophezeiung wertlos und die Welt verloren.
Das Mantra hatte sich so tief in ihr Bewusstsein gegraben, dass sie ständig daran dachte. Seitdem sicher war, dass die Männer nicht zurückkehren würden, verstärkte sich dieses Wissen noch.
Anjella erhob sich seufzend. Es begann bereits zu dämmern und ewig konnte sie Valessas Verzweiflung nicht aus dem Weg gehen. Bedächtig klopfte sie sich den Staub von den Jeans und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Tag war nicht übermäßig heiß gewesen, ein durchschnittlicher Apriltag, aber dennoch schien sich am Himmel ein Gewitter zusammenzubrauen.
Nein – Anjella blieb wie angewurzelt stehen. Sie schluckte, während sie versuchte, die Tragweite dieser dunklen Wolke zu erahnen.
Sie kamen.
Das Feuer kündigte sie an.
Wenn sie Glück hatten, würde es bis morgen dauern, bis das Dorf angegriffen wurde. Womöglich ahnten die Soldaten nicht, dass sie ihrem Ziel bereits so nahe waren, dass ihr Feuer sie ankündigte. Oder es war ihnen schlichtweg egal, weil sie wussten, dass niemand ihnen entkam, niemand sie aufzuhalten vermochte, niemand die Mittel besaß, sich ihnen in den Weg zu stellen.
Es kostete Anjella große Überwindung, nicht einfach Richtung Wald davonzulaufen, was ihrer ersten Eingebung zufolge die einzige Rettung sein konnte. Aber das durfte sie nicht. Dieser Tag war nun einmal Teil ihrer Bestimmung und auch wenn sie sich dieser Tatsache stets bewusst gewesen war, so hatte sie doch nicht erwartet, dass er so plötzlich kommen würde.
Es war die erste Nacht, in der Anjella nicht das verzweifelte Schluchzen ihrer besten Freundin vom Schlafen abhielt, sondern ein seltsames Gefühl der Angst und Ungewissheit. Tatsächlich war Valessa ungewöhnlich schnell eingeschlafen und Sarinja war ohnehin ein Murmeltier.
Würden die Soldaten in der Nacht kommen? Oder warteten sie bis zum Morgengrauen?
Anjella befiel ein leichtes Schuldbewusstsein, weil sie die anderen nicht gewarnt hatte. Sie trugen nicht dieselbe Bürde wie sie es tat und eigentlich verdienten sie es, eine Wahl zu haben. Doch aus irgendeinem Grund vermochte Anjella nicht, eine Warnung auszusprechen. Vielleicht weil sie insgeheim die Hoffnung hegte, durch friedliche Unterwerfung die Verluste so gering wie möglich halten zu können. Immerhin waren die Dorfbewohnerinnen wie eine große Familie.
Anjella schloss die Augen. Zweifellos würde es Verluste geben. Ganz gleich wie aussichtslos die Lage war, einige Bürgerinnen würden sich nicht kampflos in ihr Schicksal ergeben. Sie würden den Tod einem Leben in Unterdrückung vorziehen.
Anjella wünschte, sie hätte auch eine Wahl.
Aber Selbstmitleid half nichts; das Schicksal hatte sie auserwählt und dagegen war sie machtlos. Ihre Wahl belief sich darauf, sich zu fügen oder zuzulassen, dass die Welt um sie herum versank.
Irgendwann musste Anjella eingeschlafen sein, denn das aufgeregte Treiben um sie herum ließ sie hochschrecken. Valessa rüttelte wild an ihrem Arm. „Reiter“, zischte sie. „Steht auf!“
Anjella spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Mit einem Ruck war sie aus dem Bett. Und wenn sie sie erkannten? Was, wenn man es in ihrem Gesicht ablesen konnte? Ihre Augen sie verrieten? Dann war alles umsonst und ihre Freundinnen und das ganze Dorf verloren.
„Anjella, nun komm schon“, drängte Valessa und warf ihr die Kleider zu, die sie bereits am Tag zuvor getragen hatte. Ein einfaches Paar Jeans, das mittlerweile zu einer echten Rarität geworden war, weil es keine Fabriken mehr gab, die die Kleidung herstellten. Dann streifte Anjella sich hastig ein einfaches dunkelgrünes Baumwollshirt über den Kopf und zog die langen, hellbraunen Haare, die von zahlreichen rötlichen Strähnen durchzogen waren, aus dem Ausschnitt hervor, so dass sie ihr in langen Wellen über den Rücken fielen. Valessa warf ihr noch das Paar abgetragener Schuhe zu und packte dann Sarinjas Arm, um das erschrockene Mädchen aus der Hütte zu führen.
Sarinja war erst vierzehn und damit drei Jahre jünger als ihre Schwester und Anjella. Da ihre Mutter schon lange gestorben war, hatte Valessa sich immer verantwortlich für ihre kleine Schwester gefühlt. Die beiden glichen einander so sehr, dass jeder Außenstehende sie für Zwillinge gehalten hätte. Dieselben haselnussbraunen Augen, die kleine Nase, zarte und ebenmäßige Gesichtszüge und schmale Lippen. Nur das dunkle, fast schwarze Haar, welches Valessa weit über die Schultern reichte, trug Sarinja lediglich kinnlang.
„Anjella!“ Valessa war noch einmal zurückgekommen und ihre Stimme war schneidend. Das Glitzern in ihren Augen verriet ihre Panik.
Was sollten sie denn tun? Sich auf dem Hof versammeln, damit die Soldaten sie nicht erst zusammentreiben mussten?
Widerwillig erhob Anjella sich ein zweites Mal, nachdem sie sich zum Schuhebinden wieder auf die Bettkante gesetzt hatte.
„Das ganze Dorf ist in Aufruhr“, erklärte Valessa. „Einige sind schon weg, wir müssen uns beeilen.“
Weg? Glaubten sie tatsächlich, dass sie King Lears Häschern entkommen konnten? Niemals. Keiner war ihnen je entkommen. Jedenfalls gab es keine Berichte über Geflohene. „Wo willst du denn hin?“, fragte Anjella.
Valessa blickte sie entgeistert an. „Weg natürlich. In den Wald, uns verstecken, ganz egal, Hauptsache weit weg von den Soldaten.“
Anjella schüttelte ungläubig den Kopf. „Du denkst nicht im Ernst, dass wir vor ihnen fliehen können…“
„Würdest du nicht so viel Zeit verschwenden, wären wir schon längst fort!“
Valessa meinte es ernst und Anjella war klar, dass ihr daran gelegen war, unter allen Umständen ihre Schwester zu beschützen. Aber wenn sie davonliefen, würden die Soldaten sie mit Sicherheit töten.
Noch bevor Anjella diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, wurde der Lärm draußen lauter und mit bleichem Gesicht stand Sarinja in der Tür. „Sie kommen von allen Seiten“, berichtete sie atemlos. „Diejenigen, die geflohen sind, treiben sie vor sich her wie Vieh. Wir werden alle sterben!“ Ihre Stimme überschlug sich und Valessa eilte zu dem schluchzenden Mädchen, um es tröstend in die Arme zu schließen.
„Wir werden ihnen keinen Grund geben uns zu töten“, sagte Anjella. „Folgt einfach ihren Anweisungen, dann werden sie uns nichts tun.“ Sie wusste nicht, ob das stimmte, aber ihre Worte schienen Sarinja ein wenig zu beruhigen.
„Alle Bewohner dieses Dorfes haben unverzüglich ihre Hütten zu verlassen und sich auf dem großen Platz einzufinden!“
Die Stimme, die laut und irgendwie blechern von draußen hereindröhnte, ließ keinen Widerspruch gelten. „Wer sich nicht zeigt, wird mit seinem Haus verbrennen.“
Sarinja weinte erneut. „Ich habe Angst“, wimmerte sie.
Valessa schob sie sanft aus der Tür hinaus. „Ich werde dich beschützen, das weißt du doch. Wir machen es wie Anjella gesagt hat. Wir sind gehorsam und bleiben unauffällig, dann werden sie uns am Leben lassen.“
Anjella schloss die Augen und sandte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Vorschlag wirklich den gewünschten Erfolg erzielte.
Die frühmorgendliche Aprilsonne stand so ungeschickt über den Hausdächern, dass Anjella zunächst schützend die Hand an die Stirn legen musste, um die blendenden Strahlen abzuschirmen. Nachdem ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, nahm Anjella die Reiter wahr, deren Zahl sie spontan auf etwa dreißig schätzte. Während sie langsam hinter Valessa zur Mitte des Platzes ging, wo sich bereits ein großer Pulk Bewohnerinnen versammelt hatte, versuchte sie die Lage zu überschauen.
Ein dunkelhaariger Mann saß aufrecht und mit wachem Blick auf einem stattlichen Schimmel, dessen Mähne in prächtiger Weise geflochten und mit allerlei Schmuck verziert war. Dieser Mann hatte das Sagen, er musste der Anführer sein, denn während die übrigen Reiter damit beschäftigt waren, die Menschen zusammenzuhalten und Flüchtige zurückzutreiben, machte der Dunkle sich seine Hände nicht schmutzig. Er überblickte die Szenerie von oben herab.
Dann ergriff ein anderer das Wort und zog damit Anjellas Aufmerksamkeit auf sich. Sie erkannte an seiner Stimme denjenigen, der zuvor die Forderung ausgesprochen hatte, alle mögen sich unverzüglich hier versammeln. Sie machte seine Person als hochgewachsenen Mann aus, ein schlanker, junger Reiter von stattlicher Figur. Die blonden Haare trug er sehr kurz und der stoppelige Dreitagebart verlieh seinem Aussehen etwas Verwegenes. Unwillkürlich wandte Anjella sich ab.
„Alle knien sich in einer Reihe nebeneinander und senken ihren Blick“, befahl er und diesmal klang seine Stimme nicht so blechern.
„Ich habe Angst“, weinte Sarinja von Neuem und Valessa strich ihr zärtlich über den Arm. Dann lotste sie ihre Schwester zu der Stelle, an welcher die ersten Frauen dem Befehl Folge leisteten, und drückte sie sanft zu Boden.
Anjella tat es ihnen gleich. Das Wichtigste war es jetzt, nicht aufzufallen, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, stillhalten.
Vom anderen Ende der Schlange hört Anjella wütende Stimmen. Ein Tumult machte sich breit, sofort waren Soldaten zur Stelle und ihre Pferde scharrten unruhig mit den Hufen. Anjella schloss die Augen. Sie hatten doch bereits verloren, was versprachen die Frauen sich von ihrer Weigerung?
Es bedurfte nur zweier Schüsse, vereinzelte kurze Schreie und jeglicher Ungehorsam war gebrochen. Neben sich spürte Anjella das Zittern der weinenden Sarinja, die verzweifelt versuchte, ihre Tränen und ihre Angst in den Griff zu bekommen. Anjella zwang sich, tief einzuatmen, bevor sie die Augen wieder öffnete. Auf der anderen Seite schleppten zwei vom Pferd abgestiegene Soldaten die Leichen der Aufrührerinnen unter den entsetzten Blicken der Knienden beiseite und warfen sie dann achtlos in einen Hauseingang.
„Möchte noch jemand den Helden spielen?“, fragte der Blonde und Anjella entging das fiese Grinsen des Dunklen auf dem weißen Pferd nicht. Die beiden waren ein eingespieltes Team.
Nachdem keine der noch Übrigen denselben Fehler begehen wollte, sprang der Blonde von seinem Pferd und lief langsam die Reihe der knienden Frauen ab, während er hin und wieder ein wenig länger an einer Stelle verweilte und die ein oder andere am Kinn packte, um ihr ins Gesicht zu sehen.
Anjella spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Ihre Handflächen waren sofort tropfnass. Sie ballte die Fäuste an ihren Seiten und zwang sich zur Ruhe. Nicht auffallen! Gib ihnen keinen Grund, dich näher zu beobachten!
„Eigentlich suchen wir nur die Auserwählte“, begann der Mann mit den klugen, blauen Augen, während er weiterging und immer näher in ihr Blickfeld kam. „Ich bin sicher, ihr habt von ihr gehört. Die Prinzessin aus dem Nordland. Ist sie hier?“ Er blieb vor Magride stehen, die kaum zwei Jahre älter war als Anjella, und zwang ihr Gesicht nach oben. „Wie heißt du?“
„M… Magride“, stammelte die junge Frau.
„Magride, Sir!“, verbesserte der Soldat sie streng.
Magrides Unterkiefer zitterte. Lediglich fünf Frauen trennten sie von Anjella. „Sir“, wisperte sie, gefolgt von einem Schluchzen.
„Nun, Magride, wenn ich dir sage, dass ich dich verschonen werde, wenn du mir sagst, wer von deinen Freundinnen hier die ist, die ich suche“, begann er langsam und stellte sicher, dass sie ihn verstand. „Was würdest du sagen?“
Magride zog geräuschvoll die Nase hoch. „Diese Frau ist nicht hier“, sagte sie dann mit bebender Stimme und fügte ein ersticktes „Sir“ hinzu.
Egal wie viele Frauen er direkt ansprach, keine würde ihm die Person seiner Begierde zeigen. Anjella hatte viele Jahre unter diesen Menschen gelebt, doch niemandem, nicht einmal Valessa hatte sie ihre wahre Identität offenbart. Es war zu deren eigenem Schutz. Und zu ihrem.
„So, so“, sagte der Mann vielsagend, ließ aber von ihrem Kinn ab. Er ging ein paar Schritte weiter und als er erneut zum Sprechen ansetzte war seine Stimme so unglaublich nah, dass Anjella glaubte, er hätte ihr mit diesen wachen Augen direkt in die Seele geblickt. „Vielleicht bist du ja die Auserwählte“, sagte er und es dauerte einige Augenblicke bis Anjella realisierte, dass er mit Sarinja sprach.
Sarinja versteifte sich, schüttelte dann heftig den Kopf und brach in jämmerliches Weinen aus.
„Bitte Sir“, meldete Valessa sich sofort zu Wort. „Sie ist meine Schwester und weder eine Prinzessin, noch die Auserwählte. Sie hat einfach nur große Angst.“
Sein Blick flog in Valessas Richtung und Anjella vermochte nicht zu sagen, ob der Ausdruck auf seinem Gesicht Ärger oder Achtung war.
„Sir, ich schwöre Euch, es gibt hier keine Prinzessin. Wir sind allesamt einfache Bürgerinnen“, setzte Valessa beharrlich ihre Rede fort.
Anjella bewunderte ihren unerschütterlichen Mut, für ihre Schwester einzustehen ohne den geringsten Gedanken daran zu verschwenden, welche Konsequenzen ihre Unverfrorenheit für sie selbst nach sich ziehen könnte.
Eine Weile angespannten Wartens folgte. Quälend lange Augenblicke, in denen der Blonde anscheinend abwog, ob er Valessas Worten Glauben schenken oder sie für ihre dreiste Respektlosigkeit bestrafen sollte. Schließlich wandte der Krieger sich ab und schritt wortlos in Richtung seines Pferdes zurück.
Er kam etwa zwanzig Schritte weit. Dann meldete der Hauptmann auf dem stolzen Schimmel sich zu Wort. „Diese Lüge lässt du dir auftischen?“
Der Blonde blieb abrupt stehen und in seinem Gesicht war Überraschung zu lesen. Offenbar erntete er nur selten Kritik von seinem Vorgesetzten. Jedenfalls interpretierte Anjella seine Reaktion so. „Sie ist nur ein Kind“, sagte er ernst mit einem Kopfnicken zu Sarinja, deren zarter Körper auch in der Obhut der schützenden Umarmung ihrer Schwester noch immer von Schluchzen geschüttelt wurde. „Sie kann es unmöglich sein.“
Der Anführer grinste und wirkte dabei äußerst verschlagen. „Sie soll es beweisen“, forderte er und fixierte den Blonden.
„Ich glaube ihr“, entgegnete der sachlich. „Die Kleine ist zu jung, um die Auserwählte sein zu können.“
Anjella entging nicht, dass die beiden Männer sich mit Blicken duellierten und sich so wortlos verständigten. Der Blonde senkte zuerst seinen Blick und der Dunkle übernahm die Führung. Er gab seinem Pferd die Sporen und preschte direkt auf Anjella zu. Unwillkürlich schloss sie die Augen und hielt den Atem an. Neben ihr kreischte Sarinja in heller Panik. In letzter Sekunde brachte er das Pferd zum Stehen. Anjella spürte den heißen Atem des Tieres direkt vor ihrem Gesicht. Nur langsam wagte sie es, ihre Augen zu öffnen.
Das Pferd speichelte und um die Trense herum waberte Schaum. Es roch unangenehm nach Tier.
Mit einem eleganten Satz sprang der Hauptmann vom Pferd und packte mit schnellem Griff Sarinjas Handgelenk, um sie grob ein paar Meter mit sich zu zerren. Valessa entfuhr ein kurzer Schrei und der krampfhaft zusammengezogene Gesichtsausdruck verriet ihren inneren Kampf. „Bitte Sir, wie sollen wir es Euch beweisen?“
Der Angesprochene grinste und drückte den Lauf seiner Pistole gegen Sarinjas Schläfe. Das Mädchen wirkte wie zu Eis erstarrt. Nur ihre bebenden Lippen, aus denen sämtliches Blut gewichen war, zeugten davon, dass sie noch am Leben war. „Ganz einfach“, sagte der dunkelhaarige Mann scharf, „zeig du mir die Prinzessin aus dem Nordland. Ich weiß, dass sie sich unter euch befindet.“
Anjellas Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Wie kann er das wissen? Wie ist das möglich?
Es war nicht möglich!
Sie wagte einen scheuen Blick und seine Augen verrieten ihn. Er wusste gar nichts. Es war seine Masche, die er in jedem Dorf auf dieselbe Weise durchführte. Und Anjella musste zugeben, dass er in seiner Rolle sehr überzeugend wirkte.
Valessa weinte. „Sir, keine von uns ist etwas Besonderes. Bitte, lasst meine Schwester los. Ich flehe Euch an. Bestraft mich an ihrer statt für mein Unwissen!“
„Nun, wenn sie nicht diejenige ist, die wir suchen“, der Hauptmann zuckte theatralisch mit den Schultern, „wen kümmert es dann?“ Ohne das leiseste Zögern drückte er den Abzug.
Anjella fühlte die kalte Erstarrung, die von ihr Besitz ergriff, hörte den markerschütternden Schrei ihrer besten Freundin neben sich wie durch einen schweren Nebel. Sie beobachtete, wie Valessa sich nach vorn warf und gerade im Begriff war, auf den Soldaten loszugehen, als mehrere Frauen sie packten und von ihrem sicheren Todesurteil abhielten. Magride redete unablässig auf sie ein und stellte sich vor sie, um sie an den Schultern zurückzudrängen.
Anjella war unfähig zu sprechen, unfähig, ihrer Freundin beizustehen, unfähig überhaupt irgendeine Reaktion zu zeigen. Ihr Gehirn weigerte sich einfach, die Situation zu verarbeiten. Sie sah Magrides Lippenbewegungen, ihre weit aufgerissenen Augen und ihre gestikulierenden, ausholenden Bewegungen, doch alles ergab keinen Sinn. Sie selbst stand nur daneben und begriff nicht. Sie stand neben Magride und neben Valessa, doch es fühlte sich an, als stünde sie neben sich selbst.
Die sinnlose Ermordung ihrer Freundin war so schnell vorüber, dass die Auswirkungen dieser Tat überhaupt nicht greifbar waren. Anjella realisierte, dass sie atmete. Sie atmete noch.
Eigentlich hätte dieses Schicksal ihr gegolten.
Sie konzentrierte sich voll und ganz auf diese automatische Körperfunktion: Einatmen – ausatmen.
Sie hätte Sarinja retten können. Sie war diejenige, die diese Männer suchten. Diejenige, die hätte sterben sollen.
Einatmen – ausatmen.
Du wirst Opfer bringen müssen, hallte es unentwegt in ihrem Kopf. Ja, ich!, schrie jede Faser ihres Körpers zurück. Ich! Aber doch nicht ein unschuldiges, vierzehnjähriges Bauernmädchen!
Einatmen – ausatmen.
Die Welt um sie herum begann sich wieder zu drehen. Die erstarrte Menge kam in Bewegung. Auch die letzten Frauen sanken nun auf die Knie. Nicht ein Laut war mehr zu vernehmen. Völlige Fassungslosigkeit.
Einatmen – ausatmen.
Anjella war froh darüber, ihren Beinen nicht länger das Gewicht ihres Körpers und die unendliche Last ihrer Schuld aufbürden zu müssen, als sie ebenfalls in die Knie ging. Opfer. Und manchmal wirst du glauben, dass es nicht mehr weitergeht. Dass du es nicht mehr ertragen kannst. Dass alles zu viel wird. Aber, egal wie schlimm und ausweglos die Situation auch immer sein mag, du wirst nicht daran zerbrechen. Du bist stark, Anjella. Du wirst stark sein, weil du stark sein musst!
Einatmen – ausatmen.
Anjella zwang sich noch immer, ihre volle Aufmerksamkeit nur auf diesen einfachsten, aber lebenswichtigen Mechanismus zu fokussieren, als der Blonde wieder das Sprechen übernahm. Sie hatte die Anwesenheit der Soldaten so ausgeblendet, dass es ihr vorkam, als wären Stunden vergangen, seitdem die Stimme, die das Befehlen gewöhnt war, zuletzt an ihr Ohr gedrungen war. In Wahrheit konnten kaum mehr als fünf Minuten vergangen sein.
„Ihr werdet jetzt alle euer rechtes Bein nach vorn strecken, so dass meine Männer euch dieses hübsche Schmuckstück anlegen können“, erklärte der junge Soldat und hob einen silberglänzenden Reif in die Höhe. Keine Spur von Mitleid mit dem gerade gestorbenen Mädchen oder seiner hinterbliebenen Schwester war seiner Stimme zu entnehmen.
Es schwang überhaupt kein Gefühl mit.
Keine Regung ließ darauf schließen, wie er die Entscheidung seines Hauptmanns bewertete. Vollkommene Unterwerfung unter den Willen des Höhergradierten. Anjella schluckte, während sie die Fußfessel betrachtete, wie sie einst Sklaven angelegt wurden. Mehr war ihr Leben vom heutigen Tag an auch nicht mehr wert.
Gehorsam streckte Anjella ihr Bein aus und krempelte die Hose bis knapp unters Knie hoch. Der Soldat, der ihr den Reif anlegte, war in seiner Arbeit routiniert und gelangweilt und blickte sie dabei nicht einmal an. Mit einem leisen ‚Klick‘ rastete der Verschluss ein und zog sich dann mechanisch so eng zusammen, dass Anjella das kalte Metall wie eine heiße Flamme in die Haut einbrennen fühlte. Am Verschluss begann eine kleine grüne Leuchtdiode in immer gleichmäßigem Abstand vor sich hinzublinken.
„Dieses Licht“, erklärte der Blonde weiter, „gibt Aufschluss über die Akkuladung eures Fußreifs. Leuchtet es grün, ist alles in Ordnung. Wird das Lämpchen jedoch rot, habt ihr genau dreißig Minuten Zeit, eine Ladestation aufzusuchen. Schafft ihr das nicht rechtzeitig, sendet der eingebaute Mechanismus entsprechende zellzerstörende Impulse an euer Gehirn. Die Folge ist ein recht schneller, aber nicht ganz schmerzfreier Tod.“
Er legte eine bewusste Pause ein und ließ die Worte auf seine Zuhörerinnen wirken.
„Im Normalfall werdet ihr jede Nacht an eine Dockingstation angeschlossen“, fuhr er schließlich fort. „Ich denke, euch ist klar, dass jegliche Fluchtversuche demnach unsinnig sind. Jeder Versuch, das Gerät zu zerstören oder mit Hilfe eines unprofessionellen Werkzeugs abzunehmen, hat selbige Konsequenzen zur Folge. Verhaltet ihr euch unangemessen oder solltet ihr es gar wagen, euch den Anweisungen der euch übergeordneten Herren zu widersetzen, besitzen wir diese äußerst nützlichen Armbanduhren, die sich in weniger als einer Zehntelsekunde mit dem entsprechenden Sender an eurem Fußkettchen verbinden und…“, er ging auf Magride zu und drückte einen winzigen Knopf.
Magride fiel sofort zur Seite und riss die Hände nach vorn. Unter gequälten Aufschreien griff sie nach der Fessel und rollte mit schmerzverzerrtem Gesicht hin und her.
In diesem Moment ließ der Soldat von seiner Uhr ab.
Magride blieb leise weinend am Boden liegen.
„Und das war nur eine sehr schwache Intensität der elektromagnetischen Wellen, die euer Schmerzzentrum angreifen und euch peinigen ohne irgendwelche sichtbaren Schäden zu hinterlassen. Und das so lange, bis ihr euch – erfahrungsgemäß eher früher als später – schließlich dem Willen eurer Herren fügt.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und salutierte vor seinem Vorgesetzten. „Hauptmann Troscer – wir können gehen.“