Читать книгу Der Zwillingsring - Stephanie Carle - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеHjundrash war wütend. Normalerweise gelang es ihm, seine Gefühle gut unter Kontrolle zu halten. Hervorragend sogar. Er stellte für gewöhnlich die Entscheidungen seines Hauptmanns nicht infrage. Er war ein guter Soldat. Ein guter Offizier und er würde verdammt nochmal auch ein guter Leutnant werden! Wütend kickte er einen Stein in Richtung See. Er landete mit einem leisen ‚Plopp‘ auf dem Wasser und versank.
Wütend. Schon wieder dieses Wort. Er hatte keinen Grund wütend zu sein. Und darüber hinaus erst recht kein Recht dazu. Wut gegenüber einem Vorgesetzten war schändlich und würde bestraft werden. Er musste sich beruhigen.
Das Mädchen war ihm egal. Es war nicht das erste, das er durch die Hand seines Hauptmanns sterben sah. Sie war eine Frau und es gab Tausende von ihnen. Ihr Leben war ohnehin nichts wert. Die Pferde genossen in dieser Welt mehr Respekt als die weibliche Lebensform der menschlichen Rasse.
Warum zum Teufel war er dann trotzdem wütend?
Irgendwo meldete ein Kauz sich zu Wort und läutete die Nacht in den Wäldern ein. Hier im Norden gab es zahlreiche Wälder und auch wenn Hjundrash keine Angst vor wilden Tieren hatte, sehnte er sich doch nach der ungehindert vom Himmel strahlenden Sonne, die hier kaum durch die hochverzweigten Tannen drang. Sie nahmen Wärme und Licht und er konnte sich nicht vorstellen, was die Menschen bewog, hier leben zu wollen, geschweige denn wofür die Männer kämpften, anstatt sich ihnen anzuschließen und im Süden zu leben. NeuAmerika war gigantisch. Stattdessen starben sie lieber einen ihrer Ansicht nach ehrenvollen Tod und entsagten einem feudalen Leben in Luxus.
Troscer wollte immer weiter in die Ferne ziehen. Noch ein Dorf aufspüren und zerstören. Das heutige war so schnell in Flammen aufgegangen, dass sie die Frauen noch nicht einmal alle auf die Beine gebracht hatten, als es nur noch Schutt und Asche gab. Die meisten hatten geheult und geschrien, wie sie es immer taten und Hjundrash war genervt vorausgeritten. Er hasste ihr Gejammer und Gewinsel. Wieso konnten sie sich nicht einfach damit abfinden, dass sie nun einmal von Natur aus den Männern untergeordnet waren und sich deren Willen fügen? Immerhin wussten sie besser, was für die Frauen gut war und wie sie behandelt werden mussten. Insgeheim sehnten sie sich doch nach einer starken Hand, die sie in ihre Schranken wies.
Hjundrash hob einen weiteren Stein auf. Er war flacher. Vielleicht würde er ein wenig über die Wasseroberfläche hüpfen. Hjundrash warf ihn weit von sich, doch auch dieser Stein sank sofort hinab in die Tiefe. Der Kauz rief ein weiteres Mal und Hjundrash wurde bewusst, dass er sich langsam auf den Rückweg zur Truppe machen sollte, bevor seine Abwesenheit irgendwelche Fragen aufwarf.
Er wollte nicht noch weiterziehen. Er wollte nach Hause. Noch weiter in den Norden, noch weitere Tage nur Bäume sehen und Schlachten schlagen. Seit sie die Hauptstadt verlassen hatten, waren fünf Monate vergangen und in der Zeit hatten sie zwölf Dörfer befreit und die Frauen nach NeuAmerika geschickt. Dadurch hatte sich ihre Zahl deutlich reduziert und langsam wurde es gefährlich, noch weitere Angriffe zu planen. Es konnten zwar nicht mehr viele Nordmänner am Leben sein, doch ganz genau konnte man das nie wissen.
Troscer wollte die Prinzessin des Nordlands finden und Hjundrash konnte diesen Ehrgeiz durchaus nachvollziehen, der den Hauptmann anspornte, immer weiter zu machen. Doch sie hatten die Auserwählte bis jetzt nicht ausfindig gemacht; warum sollte sie sich ausgerechnet im nächsten Dorf befinden? Und wenn sie sich dort aufhielt, war es nicht wahrscheinlich, dass sämtliche verbliebene Krieger sie bewachten?
Hjundrash war müde. Er wollte schlafen. Endlich einmal wieder in seinem bequemen Bett schlafen. Ausruhen. Die Freuden des Lebens genießen. Er vermisste das reichhaltige Essen, die Dienerinnen und die Anerkennung, die einem ‚Jäger‘ zu Hause zuteilwurden. Es wurde höchste Zeit, dass sie den Rückweg antraten. Er würde mit Troscer reden. Seine Argumente waren logisch und hatten Gewicht. Sie sollten mit dieser Gruppe Frauen zurückkehren. Den Sommer über die Sonne genießen, die die nördlichen Lande ebenso verschmähte wie er. Im Herbst konnten sie sich wieder auf den Weg machen. Über den Winter waren die Bewohner des Nordens unaufmerksamer, weil sie nicht mit Angriffen rechneten. Und den Pferden war es gleichgültig, ob sie durch den Schnee preschten oder über unausgetretene Waldwege galoppierten.
Zu Hause warteten Vergnügen und Anerkennung. Ganz zu schweigen von seiner längst überfälligen Beförderung zum Leutnant.
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Anjella fror. Die Nächte kamen hier im Norden früh und sie waren kalt. Daran konnte auch die am Tag Wärme verströmende Aprilsonne nichts ändern. Sobald sie untergegangen war und die Dunkelheit hereinbrach, war es kalt und ungemütlich. Den einzigen Mantel, den sie besaß und der ihr bisher stets gute Dienste geleistet hatte, war in der Hütte verbrannt, die sie so viele Jahre ihr Zuhause genannt hatte. Das gleißende Licht des Feuers hatte sich tief in ihre Erinnerung eingebrannt, während sie wie gebannt auf die alles zerstörenden Flammen gestarrt hatte, die alle Fröhlichkeit unter sich vergruben.
Sarinja war tot.
Auf Anweisung des Hauptmanns hatten zwei Soldaten sie einfach in das Feuer geworfen, welches sich begierig auf ihren kleinen Körper gestürzt und ihn verschlungen hatte.
„Sie ist tot“, schniefte Valessa unaufhörlich neben ihr. „Meine kleine Schwester ist tot. Und ich durfte sie nicht einmal anständig begraben.“
„Wir werden zurückkommen, Val“, versprach Anjella. „Und dann werden wir ihr einen Stein mit ihrem Namen setzen.“
Sie würden nicht zurückkommen. Und das falsche Versprechen vermochte Valessa nicht zu trösten. Trotzdem wiederholte Anjella es noch einmal. Sie konnte nicht sagen, weshalb, aber aus irgendeinem Grund konnte sie nicht anders, als an diesem Glauben festzuhalten. Die Wahrheit war einfach zu ungeheuerlich.
Das hatte man ihnen heute nachdrücklich vor Augen geführt. Die Wahrheit. Grausam, kalt und unbarmherzig. In Gestalt des Hauptmanns war sie gekommen, um ihr aller Leben zu zerstören.
„Schsch“, wisperte Anjella, als ein neuerlicher Heulkrampf sich Valessas bemächtigte. Die Soldaten hatten ihnen ausdrücklich verboten, miteinander zu sprechen und Anjella verspürte nicht den Wunsch, die Sonderfunktionen der Fußfessel am eigenen Leib zu erfahren. Magride war nach der angeblich ‚nicht sehr intensiven‘ Folter nur schleppend vorwärtsgekommen und hatte den ganzen Fußmarsch über leise vor sich hin geweint.
Um sie herum stellten sich die Frauen schlafend. Oder einige von ihnen waren tatsächlich eingeschlafen, was der erschöpfend langen Wanderung zuzuschreiben war. Anjella flehte insgeheim um Schlaf für Valessa, damit sie endlich aufhörte, geräuschvoll zu schluchzen und damit früher oder später die Aufmerksamkeit in ihre Richtung zog. Das Letzte was Anjella wollte, war erneute Aufmerksamkeit.
Der blonde Soldat kehrte zurück. Es war Anjella nicht entgangen, dass er bereits vor dem Abendessen, welches recht spärlich ausgefallen war, in das Dickicht des Waldes entschwunden war. Womöglich hatte der unausgesprochene Kampf zwischen ihm und seinem Vorgesetzten ihm doch mehr zugesetzt als er nach außen hin gezeigt hatte.
Wieso machte sie sich Gedanken um die Gemütsverfassung eines Soldaten? Eines Soldaten, auf dessen Befehl hin man ihr und allen anderen Frauen ihres Dorfes feste Fußfesseln angelegt hatte, und der ohne das leiseste Zögern im Stande war, ein unschuldiges Mädchen per Knopfdruck zu foltern?
Valessa schniefte so laut, dass Anjella unwillkürlich zusammenzuckte. Sie fühlte sich ertappt. Eigentlich hätte ihre Sorge ihrer besten Freundin gelten sollen, die sie in diesem Augenblick mehr denn je brauchte. Stattdessen grübelte sie noch immer darüber nach, wo der junge Mann sich aufgehalten haben könnte und worüber er wohl nachgedacht hatte.
Sie beobachtete, wie er, den Blick streng geradeaus gerichtet, auf direktem Weg zum Lagerfeuer, um welches sich die übrigen Soldaten, die nicht die erste Wache übernommen hatten, versammelt hatte. Nachdem er ein paar Worte mit dem Hauptmann gewechselt hatte, erhob jener sich und die beiden verzogen sich einige Schritte in den Wald hinein, wo sie sich ungestört unterhalten konnten. Jeder Versuch zu ergründen, wie die beiden zueinander standen, endete in einem großen Fragezeichen.
Anjella seufzte leise. Sie sollten schlafen. Ein weiterer Tag gnadenloser Wanderung lag vor ihnen. Und vielleicht noch einer. Sie wusste aus Erzählungen, dass es in NeuAmerika Magnetbahnen gab, mit denen man die Hauptstadt in rasender Geschwindigkeit erreichen konnte, doch wie weit entfernt vom Nordland der nächste Bahnhof war, vermochte sie nicht abzuschätzen. Es war durchaus möglich, dass sie noch Wochen zu Fuß unterwegs sein würden.
Während sie für ungewisse Zeit ihren Gedanken nachhing, wurde das Schluchzen neben ihr leiser und ging in gleichmäßiges Atmen über. Und als die Männer schließlich aus der Dunkelheit zurückkehrten, war Valessa bereits eingeschlafen.
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Hjundrash war froh, dass Troscer wenigstens so einsichtig war, den Einwand der schwindenden Soldatenzahl als Rückzugsgrund gelten zu lassen. In ein paar Monaten konnten sie dann wieder mit vollständiger Aufstellung und ausgeruhten Männern ausrücken. Wenn Hjundrash viel Glück hatte, dann wurde ihm bis dahin ein eigenes Heer unterstellt und er konnte sich als frisch gebackener Leutnant beweisen. Ob es ihm gelingen würde, die Karriereleiter ebenso hoch zu erklimmen, wie Troscer es getan hatte, würde die Zeit zeigen. Es war schwer zu sagen, wie viele unbezwungene Orte noch im weitreichenden Norden des Nordlandes darauf warteten, entdeckt und erobert zu werden. Und in irgendeinem dieser Dörfer, in einer einfachen Hütte, unter einfachen Bewohnern musste die Prinzessin sich versteckt halten. Wenn es ihm gelänge, sie vor Troscer aufzuspüren…
Er verbot sich, den Gedanken weiterzudenken. Das war nicht fair. Er verdankte Troscer sehr viel. Zu viel, um eine ernsthafte Rivalität entfachen zu wollen. Zu viel, um sich das törichte Gefühl der Wut gegenüber dem Hauptmann erlauben zu dürfen.
Als er sich jetzt zufrieden am Feuer zur Nachtruhe niederlegte, fiel ihm auf, wie problemlos sich dieser erste Abend gestaltet hatte. Für gewöhnlich gab es doch immer die ein oder andere Heldin unter den Gefangenen, die zu fliehen versuchte oder einen Soldaten angriff. Wenn sie schließlich durch die praktischen Stromstöße der Fußfessel gestorben war, gab es allgemeines Wehklagen und hin und wieder auch lautstarke Angriffe oder Weinen. Hjundrash hasste es, wenn sie weinten. Er konnte Tränen nicht leiden. Es war ihm zuwider, dass diese kleinen Tropfen salzigen Wassers seine harten Mauern unterwandern konnten und in sein Innerstes vorzudringen vermochten.
Heute war es still. Auffallend still. Vielleicht war es gar nicht so schlecht gewesen, gleich zu Beginn ein Exempel zu statuieren. Nun wussten alle, woran sie waren und wenn manch eine während der Wanderung geweint hatte, so war es ihm wenigstens nicht aufgefallen. Jetzt, da der volle Mond sein Licht hier und da durch die Baumwipfel schickte, schienen alle zu schlafen. Auch das Reh, wie er die junge Frau mit den kastanienbraunen Haaren im Geheimen getauft hatte. In langen Locken fielen sie ihr über die Schultern und an mehreren Stellen durchzogen wie vom Morgenrot geküsste Strähnen ihr Haar. Alles in allem wirkte sie wie ein farbenreicher, edler Herbstwald, aus dem jedoch himmelblaue Augen wie ein unüberwindbarer Kontrast hervorstachen. Ganz im Gegensatz zu ihrem auffälligen Erscheinungsbild, welches sofort seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, schien sie äußerst scheu, wie ein junges Reh. Und er, Hjundrash, war ein Jäger. Ein vortrefflicher. Daher war es nicht schwer nachzuvollziehen, dass er sich bereits beim ersten Augenkontakt genau dieses Mädchen als Beute auserkoren hatte.
Ï Ð
Während Anjella zu Beginn noch die Stunden gezählt hatte, so hatte sie mittlerweile kaum noch die Kraft, sich zu merken, wie viele Tage sie bereits unterwegs waren. Das Wenige an Essen, das die Soldaten den Frauen überließen, reichte nicht einmal annähernd, um die vom stundenlangen Wandern leeren Mägen zufriedenzustellen. Nachts blieben ihnen sechs Stunden Schlaf und das auch nur, weil die Akkus der Fußfesseln so lange benötigten, um an den portablen Stationen wieder vollständig aufgeladen zu werden. Hunger und Müdigkeit waren somit an der Tagesordnung.
Die Gespräche waren längst verstummt. Während die Soldaten auf ihren Pferden ritten, mussten die Gefangenen alle Konzentration darauf verwenden, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wer zusammenbrach und nicht mehr weiter konnte, wurde an ein Pferd gebunden und so lange mitgeschleift, bis sein Körper die Strapazen nicht mehr länger ertrug. Bereits vier ältere Frauen hatten auf diese Weise ihr Leben gelassen. Unter den Übrigen herrschte eine überlebenswichtige Gleichgültigkeit.
Als sie nach zweiundvierzig schrecklichen Tagen bei Einbruch der Dunkelheit den Äußersten Bahnhof erreichten, war es bereits so warm, dass Anjella den Sommer beinahe fühlen konnte. Wenn sie noch fähig gewesen wäre, überhaupt irgendetwas zu fühlen.
Der mit knalligen Farben bemalte Zug, der mitten in der kargen Landschaft abgestellt worden zu sein schien, glich einem Raumschiff, welches Außerirdische zufällig hier platziert hatten. Hätten die Soldaten ihr mehr Zeit zum Nachdenken gelassen, bevor sie sie in das mittlere Abteil gescheucht hatten, wäre Anjella versucht gewesen, zu glauben, dass sie vor lauter Entbehrungen den Verstand verloren hätte.
Nachdem jede Frau auf einen Sitzplatz verfrachtet und ihre Fessel an die Dockingstation angeschlossen war, setzte der Zug sich in Bewegung und Anjella überkam eine unbeschreibliche Übelkeit. Das Gefährt raste mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit über den Boden hinweg, so dass die Welt dort draußen nur als buntes Farbenspiel vor ihren Augen hinüberflog. Farbenfrohe Kleckse in verschwimmenden Nuancen. Ein Bild, das ihr Vater so geliebt hatte, rief sich ihr in Erinnerung. ‚Impressionistisch‘, war das Wort, das er dafür gebraucht hatte.
Anjella fand es hässlich. Jetzt hasste sie es noch mehr.
Entschlossen wandte sie ihren Blick vom Fenster ab und schloss die Augen. Der Sitz unter ihr vibrierte leicht, doch das Abteil war so gut isoliert, dass keine Fahrgeräusche an ihr Ohr drangen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob der Zug überhaupt welche verursachte. Ihr Wissen über Fahrzeuge jeglicher Art beschränkte sich auf die Überlieferungen der Alten.
„Wir werden nicht zurückkommen“, flüsterte Valessa neben ihr. Es waren die ersten Worte, die sie seit zweiundvierzig Tagen von sich gab. „Nicht wahr?“
Anjella schluckte, obwohl ihr Mund eigentlich viel zu trocken dafür war. Sie wünschte sich, ihrer Freundin widersprechen zu können, doch sie hatte einfach nicht mehr die Kraft dazu. Sie würden nicht zurückkommen. Keine von ihnen würde je zurückkommen. Mit dem Daumen strich Anjella über ihre Handfläche und fühlte die sanften Konturen des halben Rings. Selbst wenn sich der Träger des zweiten Teils in der Hauptstadt aufhielt, so hegte sie keine große Hoffnung, dass sie ihn auch erkannte. Wenn keiner ihr ansah, dass sie die Prinzessin aus dem Nordland war, wieso sollte der andere Auserwählte sich dann ausgerechnet ihr offenbaren?
Nein. Es war genauso, wie Valessa festgestellt hatte. Und deshalb verhallte ihre Frage unbeantwortet.