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Anders als bei den Menschen war die Zeit des Erwachens für den Bäumling: nicht nur, dass er vieles gar nicht zu lernen brauchte. Eine Sprache besaß er bereits, eine Sprache sowie einen eigenen Sinn und eine eigene Deutung von den Dingen, die ihn umgaben:

Die Begriffe, die er malte, waren wie fließende Worte. Seine Beobachtungen waren sehr genau und verliefen sich bis in kleinste Einzelheiten. Darum bemerkte er auch die vielen kleinen Veränderungen um sich herum. Das von hellem grünen Moos belegte Wurzelgeflecht einer Buche, das sich so faserig, aber auch so verspielt über den Höckern ausfranste, erhielt vom Bäumling bei Tag eine andere Deutung als in der Nacht. Es erhielt eine andere Deutung, aber auch einen anderen Namen, welchen er für sich mit Genauigkeit aussprach und den er ab dem Zeitpunkt, da er ihn in seinem Sinn geformt hatte, unverwechselbar und auch für alle Zeiten in der Erinnerung zu verankern wusste.

Gerade eben lief sirrend ein Fädchen Luft über den Waldboden. Wie schön sich das anhörte! Mittlerweile war es für den Jüngling allerdings an der Zeit, den Wald zu verlassen. Er entfernte sich vom Standort der Mutter, immer staunend und immer beglückt über das viele Neue, das er sehen durfte. Der Wald wurde weiter und lichter, die Bäume vom Wuchs her kümmerlicher, fast schien es dem Jüngling, als neigten sie sich zur Erde nieder, als seien sie etwas niedergedrückt. Er verstand nicht, dass und warum sie darbten.

Nach einem weiteren Tagesmarsch gelangte er schließlich an ein von Apfelbäumen gesäumtes Feldstück. In den Bäumen hingen Mistelbüsche mit weißen, perlengleichen Früchten.

Der Bäumling wusste nicht, was Misteln waren, aber er erkannte sie durch Vergleich stets wieder. Wie große beblätterte Sterne mit lustigen Platzknospen sahen sie für ihn aus!

Mit geraden Schritten lief er über eine weiche, in Richtung Bächlein abfallende Wiese, deren Gras noch taufeucht war vom Morgennebel. In der Nacht hatte er gut geruht und so lief er also beglückt durch den nächsten Tag. Bald brannte die Sonne wieder schön auf seiner Holzhaut, es knisterte das Gras unter seinen Füßen.

Der Bäumling badete im Wechselspiel der Farben. Am Bachlauf unterlag er zunächst einem Trugspiel: Er dachte erst, die Luft über dem Wasser sei weiteres Wasser. Denn immer webten dort zarte Schleier hin und her. Endlich aber bemerkte er seinen Irrtum, und sah zwischen den Bäumen bewundernd zum Himmel hinauf. Schon lief das Blau die Rundungen hinab und wurde weißlich ausgestrichen. Es ging gen Mittag zu und die Hitze bündelte sich.

Da trieb ihn plötzlich wieder das Heimweh. Er hatte seinen ersten Ausflug hinter sich, hatte vieles lieb gewonnen unterwegs. Und das alles wollte er jetzt gerne der Mutter Eiche erzählen!

Er sprang und lief, trabte und galoppierte fast über jedes Hindernis hinweg. Unglaublich, wie viel Kraft er besaß! Und wie schön, den Raum mit seiner Kraft zu durchmessen! In der Hälfte der Zeit war er zurückgekehrt und noch nicht einmal außer Atem, als er wieder daheim anlangte. Es roch nach Harz und nach der Liebe seiner Mutter, die ihn so unendlich anschmiegsam machte!

Zwei Tage lang stellte er sich auf ihre Wurzeln und wollte sie nicht mehr verlassen. Wenn frühmorgendlich der Nebel die Eiche umwallte, dann fühlte er sich wie unter einem Kleid, unendlich geborgen! Die Vögel schmetterten ihre Konzerte und besangen dieses gegenseitige Zutrauen. Wahrscheinlich durch die Liebe seiner Mutter bedingt, wuchsen dem Bäumling weitere Kräfte zu. Er streckte sich außerdem und wurde größer. Die alten Schuppen blätterten von ihm ab und es wuchsen ihm neue.

Am Morgen des dritten Tages endlich, die Sonne schien zwar, zerriss aber nicht die Nebelbank, sondern zog nur einzelne Milchfäden zu sich herauf, die sie dann wie Flatterbänder in den Himmel streute, löste der Baummensch sich aus der Umarmung. Er vermeinte die Eiche leise lächeln zu hören.

Interessanterweise empfand er fast auf einen Schlag dazu einen grausamen Hunger. Der Bäumling musste zwingend essen!

Bis hierher hatte er von einer Art naschigem Sekret gelebt, das ihm stündlich unmittelbar vom Gaumen in den Mund getropft war. Aber nun schien jener nach Harz schmeckende Dotter leergesogen. Er musste schauen, sich eine andere, äußerlich von ihm existierende Nahrungsquelle zu erschließen. Wie fordernd stieß die Zunge noch ein paar Mal gegen den Dottersack, der jetzt leer war und nichts mehr hergab. Er fühlte etwas im Mund zwischen seinen Zähnen und spie es aus. Es war die durchscheinende Hülle, die ihm bisher am Gaumen geklebt und ihn, inwendig gefüllt, genährt hatte!

»Mutter«, stöhnte der Bäumling in seiner Sprache, als der Hunger ihn schon schwach machte. Mit einem Mal zerriss der Nebel seine Schleier. Die Sonne schickte einen goldenen Strom durch das Geäst der Eiche. Und dort, wo der Sonnenspeer auf den Boden zielte, dort entdeckte der Sohn des Waldes und der Eiche eine frisch umgewendete Erdschicht.

›Ein anderes Waldwesen muss dort gewühlt haben‹, dachte der Bäumling. Er bückte sich hungrig und entdeckte ein ganzes Lager an Eicheln, frisch glänzend und angenehm duftend. Gleich aß er ein Dutzend davon mit großer Gier. Die Schale knackte unter seinen Zähnen und er war glücklich über das neue Erlebnis, die Früchte als so wohlschmeckend erfahren zu dürfen.

Kaum dass er etwas gegessen hatte, wuchs er übrigens um einiges in die Höhe: Sein Nacken streckte sich, vom Lenden- bis zum obersten Halswirbel gab es einen Ruck. Die Schultergelenke dehnten sich und wurden breiter. Die Haut seines gemaserten Torsos wurde in die Länge gezogen, bis sie spannte. Auch die Beine stockten an Höhe auf, was drollig anzusehen war, denn irgendwie lag ein Knie an Höhe immer über dem anderen. Durch die vielen Verwerfungen der Haut über der Kniescheibe sahen sie einem Astknoten zum Verwechseln ähnlich. Nur dass sie halt miteinander wetteiferten, wer von ihnen rascher in die Höhe getragen wurde!

Auch die Füße des Baummenschen verbreiterten sich, die Fersen drückten breitere Mulden als bisher in den Boden und die Zehen, wenn sie sich durchkrümmten, sie glichen echten Wurzelhöckern.

So gewaltig war auch der Zuwachs an Energie, den der Baummann unterm Essen verspürte, dass er gleich übermütig wurde und zu einigen Späßen aufgelegt war. Er sprang in einem einzigen Satz aus der Hocke heraus nach oben, vier, fünf Meter waren es, die er in einem Zug bewältigte. Rasch fasste er die Eiche an einem Ast, der der Krone schon sehr nahe kam. Sodann lachte er aus voller Kehle, gluckste und trällerte, bis er merkte, der Mutter wurde sein Gewicht zu viel. Der Ast ächzte unter seiner Last und er hörte also auf, daran zu rütteln.

Zum ersten Mal sah er zum Wald hinaus, wie er sich von einer höheren Warte aus darstellte: wie schön die Hügel einander kreuzten! Eine bewaldete Anhöhe schnitt in die nächste ein. Das so entstandene Tal wogten die Bäume gleichsam hinab, wie fließend ergossen sie sich nach weiter unten. Auch rauschte und brauste es auf sehr angenehme Art, sobald der Wind darüber strich.

Das muss die Stimme des Vaters sein!, freute sich der Bäumling, der ganz andächtig zuhörte den säuselnden Winden.

»Wie schön, solch gute Eltern zu haben!«, sprach er sehr leise die bedeutsamen Worte für sich aus.

Nicht genug kriegen konnte er davon, zu betrachten, wie der Wald eine zusammenhängende Fläche bildete, immer leicht bewegt vom Wind für den Augenblick. Die Nadelbäume griffen schön ineinander über, verzahnten und stützten sich.

Über einem Wipfel hing ein kleines weißes Wölkchen, bauchig träge und trotzdem irgendwie flatterhaft. Es war, als könne es sich nicht gleich losreißen von seinem Platz. Langsam zerging es in Bändern, die Tannen hielt es noch ein bisschen fest.

»Wohin gehst du, Wolke?«, wollte der Bäumling wissen. Er blieb noch, sinnend, alles genau betrachtend, auf dem Ast sitzen, bis die kühlere Abendluft heraufzog und sein Holz anfing zu frieren. Ein paar dicke Dohlen umflatterten ihn, die mit ihren hellen Augen sehr klug aussahen.

Überhaupt fiel es dem Bäumling jetzt auf, wie oft es geschah, dass Vögel zur Stelle waren, sobald er sich irgendwo niederließ. Aber immer waren es andere, unterschiedliche, die kamen, sodass sein Herz nicht an einem fest umrissenen Charakter erblühen konnte.

Jedem schenkte er ein ehrliches Lächeln. Am liebsten streichelte er sie leise, sobald sie es zuließen. Schließlich kletterte er hinab vom Baum und legte sich zur Ruhe, weiter zufrieden lächelnd im Schlaf.

Am nächsten Morgen war alles ein wenig anders. Es hatte geschneit in der Nacht, über allen Dingen lag ein weißes Tuch ausgebreitet, kleine weiße Häubchen saßen auf jeder Erhebung.

Der Wald hatte seinen Wäldling geboren und nun legte er sich zur Ruhe. Er hielt seinen weißen Schlummer, lediglich der Wind fegte weiter durch das Geäst der Bäume und Büsche, welche kältestarrend rasselten. Für den Bäumling bedeutete all dies, dass er bald zu gehen habe, dass er gehen müsse.

Ihm tat der Abschied sehr weh, und er knickte dort, wo er kaum noch durchblutet war, einen Zweig von der Mutter Eiche ab. Diesen streichelte er zunächst, zur Mutter aufblickend mit großen, traurigen, den Trennungsschmerz nicht ganz verstehenden Augen. Sodann streckte er sich den Zweig zwischen zwei Schuppenränder, wo er etwas zerrieben, aber auch gut festgehalten wurde. Er weinte eine Träne, die warm die vereiste Wange hinablief und dann zur hölzernen Brust sprang, wo sie klirrend in allerlei Splitter zersprang.

Der junge Mann besaß ein wirklich ausgezeichnetes Gehör.

Der Schuppenmann

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