Читать книгу Der Schuppenmann - Stephanie Schnee - Страница 5
3
ОглавлениеDer Bäumling lief aus dem Wald hinaus wie aus einem vertrauten Haus. Eisfäden hingen mittlerweile an den Zweigen. Es hatte kurzzeitig geschauert und daraufhin war alles gefroren.
Aber auch das ist schön, beinah zeitlos schön!, dachte er verwundert. Dabei schlug er in die Hände, und die Luft dampfte etwas davon zurück.
Es dauerte nicht lange und er lief einen hottelnden Trab, mit welchem er am Ausgang des Waldes loses Geröll, das unter dem feinen Schnee noch nicht festgebacken war, lostrat. Gleichzeitig blickte er noch immer mit größter Verwunderung um sich. Drei Birken standen am Wegesrand, Schnee hatte ihre Stämme von der einen Seite angedickt. Es schien ihnen aber nichts auszumachen. Sie trotzten dem Wind in bescheidener Stille.
»Ach, ihr zarten Schwestern«, rief, tief bewegt, der Bäumling, ohne recht zu wissen, was er ihnen eigentlich sagen wollte und worüber er jetzt seufzte.
Langsam kam er gegen ein Dorf, von dem er aber nicht gleich verstand, wie es im Einzelnen beschaffen war. Hier und da brannten Lichter, vereinzelt bewegte sich etwas hinter den Fensterscheiben. Der junge Mann zitterte vor Kälte und vor Hunger, wusste aber, dass er noch lange nicht zur Mutter Eiche zurückkehren könne.
Er kam schließlich, recht verzagt, an ein Haus, das ihn lockte. Es war fast ausschließlich aus Holz beschaffen und roch darum so eindringlich und auch so lieblich nach Harz.
Der Hunger wurde jetzt wieder sehr groß und er musste sich sehr beherrschen, nicht laut aufzustöhnen.
In dem Garten vor dem Haus befand sich ein weiblicher Mensch. Und in seiner fiebrigen Unrast, ihn anzusprechen, trat der Bäumling plötzlich von einem Fuß auf den anderen.
Es klapperte, denn seine Holzsohlen stießen auf etwas Festes unter dem Schnee! Der Mensch in dem Garten hörte das Geräusch und verharrte mit einem Mal völlig reglos. Es war eine alte Frau, die der Bäumling gesehen hatte, eine ganz besonders alte Frau, welche mit den Bäumen flüsterte und mit den Blumen sprach, immer mit einem Zwicken im Herzen, denn sie liebte sie sehr.
Jetzt, da über ihrem Kopf die alte Kastanie rauschte, schien es ihr, als wolle jene ihr etwas sagen, auf etwas deuten.
Die alte Frau stellte den Eimer mit den Grünabfällen zur Seite, den sie gerade in den Händen gehalten hatte, und blickte von der zwar entblätterten, aber immer noch großmächtigen Krone der Kastanie zu dem Schemen auf der Straße.
Der Bäumling wurde von einer Straßenlaterne gerade bleich angeblitzt, eine Schneewehe hatte sich hinter ihn gestellt wie eine Wand. Nun war er im Dunkeln aufgetan worden wie eine Erscheinung. Ein ungewöhnlicher Glanz ging von ihm aus: Er hatte schon bemerkt, dass sich seine Schuppen in der Kälte noch mehr anlegten, die feuchte, kühle Luft bestrich seine Holzhaut wie mit Firnis!
Die alte Frau näherte sich dem menschenähnlichen Gebilde vor ihrem Gartenzaun, und sie sah sich in ihren Erwartungen nicht getäuscht, dass jenes etwas mit dem Wald zu tun haben müsse. Wie lange schon hatte sie nicht bereits eine Ahnung davon gehabt, dass bald einer kommen würde, um zu schlichten und zu befreien die geknechtete und geknebelte Natur!
Zunächst etwas verhalten, mit kleinen trippelnden Schritten, aber dann schon mutiger, ging sie auf die Erscheinung zu, die sie so fesselte. Sie sah von den Konturen her einen jungen Mann, der nicht bekleidet war und dessen Haut sie an die Borke einer Eiche erinnerte, wenngleich doch viel zarter und immer jenen hellen Schimmer aussendend. Der Mann sah aus, wie von Wolkenblitzen umleuchtet.
Er schien nicht zu frieren, obwohl ihm die Nässe schon aus den Haaren tropfte! Auch an seinen Gliedmaßen schlierte das Wasser herab.
Die Augen in dem Gesicht des jungen Mannes waren wie grünlich schimmernde Teiche, von eindringlicher Leuchtkraft. Mit einem Mal überwältigten die Frau ihre Gefühle: Dieser Baummensch war sehr schön, sehr stark, aber auch noch sehr jung und unwissend. Und sie empfand für den Augenblick kein anderes Bedürfnis, als auf ihn zuzugehen und ihn zu umarmen. Das aber verstand der Bäumling gleich.
Er breitete seinerseits einladend die Holzarme aus. Und obwohl dies nur eine Kleinigkeit war, kostete ihm jene Geste ungeheuer viel Kraft. Der Körper lief ja längst auf Sparflamme! So geschwächt war er bereits von dem Mangel an Nahrung, dass sein Körper begann, Ballast abzuwerfen, noch ehe er die Frau umfangen konnte: Es lösten sich von der Brust die zwei Brustwarzen ab und sprangen wie Holzscheibchen zu Boden, wo sie erst noch weiterrollten, dann aber wie tot im Schnee liegen blieben.
Weitaus schlimmer für den Bäumling als jene ersten Verluste waren aber die weiteren geplanten Maßnahmen seines Körpers: Er fühlte den natürlichen Lendenschurz, der ihm angewachsen war, sich allmählich lockern! Natürlich griff er danach, um die große, schindelgleiche Schuppe festzuhalten, sie sich noch enger an den Leib zu raffen. Aber gleichzeitig befiel ihn als Vorbote einer herannahenden Ohnmacht ein ausgeprägtes Schwindelgefühl. Er schwitzte grünes Wasser und fing an, hin und her zu torkeln wie ein Betrunkener.
Darüber war die alte Frau natürlich sehr erschüttert. Sie zauderte aber nicht lange, sondern war gleich bei dem Baumjungen, um ihn zu stützen. Vorsichtig geleitete sie ihn durch den Garten ins Haus.
Noch immer darum bemüht, den Lendenschurz nicht zu verlieren, ein wenig schief in der Haltung, ließ dieser sich gerne führen. Noch nie hatte er sich in geschlossenen Räumen aufgehalten, und so fühlte er sich in den ersten Augenblicken doppelt in Bedrängnis. Kaum, dass er genug Luft bekam. Und dann dieser Zustand ausgeprägter Schwäche!
Als sie in die Küche kamen, hinter deren Fenster der Garten des Hauses lag, der zu einem Stück Wald aufschloss, ließ die alte Frau den Baumjungen stehen und begann mit ihm zu sprechen. Dieser, dem die Flecken von den abgefallenen Warzen noch immer auf der Brust brannten, konnte sie aber nicht verstehen. Durch den Nebel seiner verwirrten, erschöpften Sinne hindurch, deutete er die Zeichen allerdings so, dass er hier warten und sich ruhig strecken dürfe auf der Sitzbank, auf die sie zeigte. Sie werde dann gleich zurückkommen. Und er hatte recht damit.
Sogleich ließ er sich fallen. Er spürte gutes, glattes Eichenholz unter seinen Handflächen. Und wie erholsam, dass er jetzt flach ruhte, sodass er kaum noch Energie zu verausgaben hatte!
Der Bäumling entspannte sich und schloss die Augen. In der für ihn ungewohnten, trockenen Raumluft hatten sie angefangen zu tränen. Eine besonders dickflüssige Träne wurde von den Wimpern gerade zerkämmt. Sie teilte sich erst unter den Borsten, schloss sich dann aber wieder zu einer Kugel zusammen und rollte dann in einem Schwung direkt von der Wange des Baummenschen auf die Eichenbank.
Sofort belebte sich die Bank, sie rüttelte und schüttelte sich. Zwischen den hölzernen Elementen wurde ein Kräfteaustausch vorgenommen.
Das Holz wurde hörbar unruhig. Unter der Lackschicht, die es umspannt hielt, ging ein stetig sich steigerndes Schieben und Drängen vonstatten: Die Bretter waren willens, aus ihrer durchsichtigen Kluft herauszuwachsen, um die Berührung mit der Träne des Waldmenschen zu vollbringen! Es gab einen lauten Knall, als der Lack von einem Ende der Bank bis zur anderen entzweigerissen wurde.
Die Träne, welche bis hierher noch nicht zerflossen war, machte einen Satz, fiel zurück und verteilte sich. Das Holz verfärbte sich bis, in kürzester Zeit, die ganze Bank grün geworden war. Auch freute die Bank sich sehr über den, der auf ihr ruhte!
Von überallher raschelte es jetzt, denn sämtliches, in der Küche vorhandenes Holz belebte sich ebenfalls. Trockene Späne im Holzofen knisterten, das Gebälk der Küche juchzte. Der Bäumling selbst fühlte sich zunehmend wohler und wie unter seinesgleichen.
Als die alte Frau endlich aus der Speisekammer trat und den neuen, grünen Anstrich gewahrte, alles so verändert vorfand, konnte sie sich nicht sogleich beruhigen. Sie schlug die Hände vor der Brust zusammen und ließ das Körbchen mit den Esskastanien fallen, welche sie aus ihrem Vorrat zusammengelesen hatte.
Gleich begann ein wunderbares Schauspiel: Die Kastanien, aus der Zufälligkeit heraus, in welcher sie in wirrer Unordnung auf den Boden gepurzelt waren, fingen an, eine Marschrichtung auf den Bäumling auszubilden! Wie von einem kräftigen Wind in die gleiche Richtung getrieben, rollten sie in geordneter Formation über den ebenfalls grünlich angelaufenen Dielenboden bis zu den Füßen der Eichenbank, wo sie einen Halbkreis bildeten und schließlich, zitternd vor Erregung, darauf warteten, dass die Hand des Bäumlings sie herauf las! Dies geschah allerdings schon sehr bald, denn jener hatte das Poltern und Kollern der Früchte natürlich vernommen, woraufhin er sogleich das Bedürfnis verspürte, sie alle miteinander zu verzehren. Kaum, dass er den Arm nach unten ausstreckte, da sprang ihm die erste Knolle auch schon in die Hand!
Seine Gastgeberin beobachtete hingerissen, wie der Baummensch den Mund öffnete und genussvoll kaute. Sofort strömte wieder Kraft in sämtliche seiner Körperzellen. Seine Schuppen stellten sich von alleine auf und schnurrten vor lauter Behaglichkeit!
Bald dehnte und streckte sich der Jüngling, er fühlte sich wie neugeboren.
Trotz fehlender Brustwarzen war er von erneut makelloser Schönheit, der Körper sehnig und schlank. Unter der Haut spielten die Muskeln.
Das Gesicht war jetzt kantiger als vor dem Essen, der Ausdruck darin blieb aber weiterhin sehr sanft und auch sehr freudig.
Nach wie vor waren aber die Augen mit dem grünlich irisierenden Schimmer darin das, was den Betrachter am meisten fesselte. Die alte Frau, die dem Baumjungen immerzu ins Gesicht schauen musste, schlug die Hände vor der Brust zusammen. Sie war in einer sehr nachdenklichen Art ergriffen und verstand es als Auszeichnung, dass der Abkömmling des Waldes, den sie stets so sehr geliebt hatte, gerade sie beehrte mit seinem Besuch.
Trotz der Tatsache, dass der Tag sich bereits seinem Ende zugeneigt hatte und es vollkommen dunkel war, herrschte auf der anderen Seite des Küchenfensters mit einem Mal ein reges Treiben: Unzählige Vögel hatten die wie magnetische Kraft vernommen, die von dem wieder erstarkten Baummenschen ausging, und wollten ihm gerne huldigen!
Der Bäumling selbst fühlte sich in der Tat völlig wiederhergestellt. Sein Lendenschurz hatte sich erneut fest angeschlossen seiner Körpermitte. Er fühlte sich gestählt durch eine einzige Mahlzeit und fand endlich Gelegenheit, seine Gastgeberin näher zu betrachten. Sie war wirklich eine alte, dicke Frau, die, wie er zu Recht erriet, denn sie trug ja einen Kittel, auf zwei sehr stämmigen Beinen ging. Auch der Hals wuchtete sich wie ein kleiner und dicker, aber heller und sehr zarter Stamm aus dem Ausschnitt empor und unterfasste ein Kinn, das weich und wenig scharf konturiert war. Das ganze Gesicht war sehr blass, auf dem Kopf saß eine weiße Welle zurückgekämmten Haares.
Der Bäumling schritt spontan auf die alte Frau zu und legte ihr seine Finger an die runden Wangen. Wie Wasser fühlte sich ihre Haut an, wie warmes, weiches Wasser!
Das ist also ein Mensch!, dachte der Bäumling. In seiner Sprache nannte er die Frau Fließdichwässerlein!
Und wie liebte er gleich dieses Menschenwassermischwesen mit seiner verschämt stillen Art!
Über die Wangen der Frau liefen Knitterfalten, denn sie lachte jetzt leise. Und in einer Anwandlung von Zärtlichkeit legte der Baummensch einen Arm um die Menschenfrau. Die musste mit einem Mal weinen über die Großzügigkeit der Natur, welche in Gestalt des Jünglings zu den Menschen gekommen war.
Der Bäumling seinerseits empfand das Kostbare ihrer Tränen und wollte sie damit trösten, dass er ihr sein eigenes Zuhause, seine Heimat zeigte.
»Pluttplutt! Giebe, Giebe!«, sagte er in seiner Sprache und bedeutete ihr damit, dass er unter ihrem Haus einen Tunnel bis zu seinem Wald graben wollte. Er war so sehr in Eifer darüber, dass er sie trösten wollte, befand sich so sehr im Überschwang seiner Gefühle, dass er sich gleich ans Werk machte. Sanft stellte er die alte Frau beiseite. Sodann riss er mit einem einzigen Ruck die Türschwelle aus ihrer Verankerung! Das Holz barst unter einem lauten Knacks sofort entzwei, die Zargen bebten.
Überhaupt nicht erschrocken über sein rabiates Vorgehen setzte sich die Frau sich ergeben auf einen bereitstehenden Hocker. Es roch nach Moder unter den hinweggerissenen Planken. Der Bäumling sah braune, satte Erde, die nicht zu fest verbacken war, sondern genau richtig, um darin einzutauchen. Gleich machte er sich ans Werk, dass diese nur so unter seinen Händen fortspritzte!
Mit aalglatter Behutsamkeit schraubte der Bäumling sich in die Tiefe, immer darauf bedacht, nur ja keine der vorhandenen, von Ferne zugeleiteten Wurzeln zu durchtrennen. Immer schneller schaffte er seine Umdrehungen, mit denen er die schaufelgleichen Hände in den Erdboden schraubte, bevor sie dann zurückschnellten und die Erde zu Hügeln aufwarfen auf dem Küchenboden.
Endlich, als der Morgen schon graute, war nicht nur ein schmaler Durchlass freigelegt, sondern auch ein langer Tunnel gegraben worden, der sich in vollkommener Dunkelheit im Erdboden verlor und recht gleichmäßig temperiert war. Die Frau hier hindurch zu geleiten, war bestimmt besser, als sie auf offener Straße durch den rauen Winter zu schicken!
Er hievte sie sich auf den Rücken, dann stieg er in die Tiefe. Und bald schon waren beide Gestalten nicht mehr auszumachen, wie eingeatmet von der Erde!
Bereits im Morgengrauen waren sie unter der Erde bei der Mutter Eiche angekommen. Sie sahen das Laubbett, bis unter welches der Bäumling gegraben hatte, von unten unter der noch nicht so dicken Schneeschicht ruhen wie ein bunt erstarrter Fluss. Die Sonne schien bis dort hinab und entzündete ein feuriges Schauspiel. Sogar die Wände des Tunnels hinab leckte der rote Schein!
»Mutter Eiche«, sprach der Bäumling zu dem Schatten über dem Teich, »wir schlafen jetzt kurz«, sagte er. »Bitte passe gut auf auf das Menschenwasserwesen: Es mag frieren, wo wir nicht frieren, und sich ängstigen, wo wir beheimatet sind.«
Die Eiche gab ein zustimmendes Gemurmel. Ihre um sich greifenden Äste leiteten etwas von der beginnenden Wärme des Tages den Stamm hinab, wo sie sich in das Erdreich verfügte und der Frau ein schönes Lager bereitete.