Читать книгу Die Farben der Schmetterlinge - Stephanie Wismar - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеZu Hause, trat ich in eine leere Szenerie. Die Trauerfeier war beendet, meine Schwiegermutter war in den letzten Zügen des Reinemachens. Einen Moment fühlte ich mich schuldig. Hätte ich nicht hier sein müssen? Es ging schließlich um meine Tochter! Als sie mich erblickte jedoch, war dort keinerlei Ärger in ihren Augen. Im Gegenteil. Sie strahlten mir voll Güte entgegen. Ich wankte zu ihr. Die fast schon vergessenen Tränen kamen wieder. Ein zärtliches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Ihre offenen Arme empfingen mich, umarmten und hielten mich fest. Sie führte mich zum Sofa, bettete mich. Sehr fürsorglich kümmerte sie sich. Die Decke bis zum Hals hochgezogen, gab sie mir einen Kuss auf die Stirn und begann mir über den Kopf zu streicheln. Eine lang vermisste Wärme stieg in mir hoch. Der Whiskey fing an, die letzten Gedankenfetzen zu umnebeln. Der Schlaf war es dann, der die späten Tränen von den Wangen wischte, um meine erschöpfte Seele zur Ruhe zu bringen.
Am nächsten Morgen erweckte mich mein Kopf ungewollt früh zu neuem Leben. Die Verschnaufpause wurde somit abrupt für beendet erklärt. Mein erster Weg würde direkt ins Bad führen, denn mein Schädel verlangte nach Aspirin. Ob mein Magen sich bei all dem Alkohol mit Beschwerden dazu gesellen würde, blieb derweil offen. Langsam setzte ich mich. Es verlangte einen Moment tiefen Durchatmens, bevor ich mich in der Lage fühlte endgültig aufzustehen. Mein Kreislauf fuhr mit mir Achterbahn, alles drehte sich und schwankte. Schritt für Schritt bahnte ich mir einen Weg. Hinter meiner Stirn das rhythmisch dazu passende Pochen. Angekommen am Tresen der Küche, sah ich einen Zettel. Mary musste ihn dort liegen gelassen haben. Jetzt jedoch erstmal war ich bemüht, die schier weitläufige Strecke ins Badezimmer zu meistern. Nur noch ein wenig weiter. Ein kleines Stück vorwärts erwartete mich die Erlösung. Keine Sekunde länger wollte ich mich dermaßen elend fühlen. Während die linke Hand sich am Waschbeckenrand abstützte, fischte die Rechte unwirsch nach dem passenden Pillendöschchen.
Antifaltencreme, Vitaminersatzpräparate, Kapseln gegen Durchfall, Pillen bei Verstopfung, Lutschpastillen für den Hals, Nasenspray, homöopathische Kügelchen für Gott weiß was, Hustenlöser, Fiebersaft, Salbe zur Behandlung von Insektenstichen, diverse kleine, mir mysteriös erscheinende Töpfchen. Wo in aller Welt war unser Aspirin? Ich kann mich nicht erinnern, dass es je in diesem Haushalt gefehlt hatte. Letzte Woche erst hatte ich eine einnehmen müssen. Es waren zu diesem Zeitpunkt mindestens sieben übrig. In der Zwischenzeit hatte ich keine mehr benötigt. Genervt schlug ich die Klappe vom Medizinschränkchen zu. In Begleitung meines Mordskaters ging es also zur Küche zurück. Kaffee! Das könnte helfen. Es war zumindest einen Versuch wert. Jeder einzelne Schritt schlug von innen schmerzlich klopfend zu. Dieses blöde Gesöff! Scheiß Alkohol! Beschissenes Leben! Im Gedanken verfluchte ich alles und jeden. Wasser rein in die Kaffeemaschine, Knopf gedrückt, fertig. Der am Tresen befindliche Barhocker bat eine willkommene Gelegenheit zum Verschnaufen. Jetzt, ratterte in mir der Kater, außerhalb der Automat. Kopf und Arme sanken auf den Tresen.
Poch, Poch, Poch,....
Die Konzentration war einzig darauf gerichtet. Technik sei Dank, war ein Kaffee heute im Handumdrehen gebrüht. Wieso konnte mein Arm nicht zehn Zentimeter länger sein, fragte ich mich, die Hand in Richtung meiner Rettung ausgestreckt. Ich glich einem Ertrinkenden, der sich weitmöglichst dem helfenden Ring entgegen reckte. Eine Chance hatte ich nicht. Meine Augen suchten nach einem langen Gegenstand. Dann würde ich ran kommen. Jedoch war ich sicher, dass dies zum Umkippen der Tasse führte. Daraus resultieren würde mehr Arbeit, mehr Wartezeit und mehr Kopfschmerzen. Also drückte ich mich vom Tresen ab, versuchte meine Position stabil zu halten, um den Kaffee zu holen. Kaum in der Hand schwenkte ich direkt mit meiner Errungenschaft zurück. Wie ein nasser Sack plumpste mein Körper auf den Hocker. Ein aromatischer Geruch entstieg dem Dampf des Pottes. Oh ja, dachte ich. Genau das brauchst du nun! Schluck für Schluck genoss ich. Und mit dem Anstieg des Koffeingehalts in meinem Blut öffneten sich meine Augen zusehends. Der Zettel. Ich wagte einen Blick.
„Liebster Max, liebste Sarah,
Ich habe etwas klar Schiff gemacht, damit ihr das nicht übernehmen müsst. Morgen komme ich erneut. Ich koche etwas für euch mit. Hoffentlich mögt ihr gefüllte Pilzköpfe in Champagnersauce. Dazu gibt es Schweinemedaillons und Bratkartoffeln. Vorsichtshalber bringe ich Tupperdosen, falls ihr dann doch keinen Hunger verspüren solltet, könnt ihr es wenigstens einfrieren. Es kann dann einen anderen Tag wieder aufgetaut werden. Wir haben euch sehr lieb. Egal was, wir sind für euch da, wann immer ihr Hilfe wollt. Fühlt euch gedrückt, Mary.
Mir stand der Sinn nicht nach Besuch. Weder physisch, noch psychisch. Mein einziger Wunsch: Ruhe. Ich wollte ellenlange Gespräche tunlichst vermeiden. Dieses eine Thema: Unser kleines Spätzchen, sollte nicht aufgewühlt werden. Es würde mich einfach quälen. Gelitten hatte ich für meine Verhältnisse derart, dass es für mehrere Leben reichte. Zu solch Unterhaltungen war ich nicht bereit. Mary meinte es lediglich gut. Sie wollte uns unterstützen. Ohne Rückfrage, ob wir diese Hilfe überhaupt haben möchten. Schließlich ist es eine private Angelegenheit. Ruhe wäre für die erste Zeit das, was wir am Nötigsten hatten. Einerseits verärgert, versuchte ich auch ihre Sichtweise nachzuvollziehen. Trotz all der Dankbarkeit ihrer angebotenen Unterstützung wegen, fiel mir Verständnis aufzubringen immens schwer. Ich war verstimmt. Die übrig gebliebenen Tropfen des Kaffees rollten mir auf die Zunge. Mit einem Krachen setzte ich die Tasse ab. Meine Beine schleppten den Rest des Körpers die paar Meter zur Couch. Jede Zelle meines Organismus war auf Demotivation und Resignation eingestellt. Die Finger krallten sich fest in die Decke, zogen sie bis unters Kinn hinauf, um sich dann ebenso darunter zu vergraben. Meine Augen schlossen sich. Der penetrante Schmerz war nun seichter. Immer noch spürbar, aber besser. Mein aufgewühlter Geist, starrte in eine schwarze Leere. Existiert so etwas wie geistige Löcher? Beschreiben würde ich es ganz pragmatisch als Nichtdenken, Nichtfühlen, Nichtexistieren- im Klartext ohne Gehirnfunktion. Geht sowas bei lebenden Menschen? Die Ohnmacht die meinen Kopf im Griff hatte, breitete sich bald schon auf den restlichen Körper aus.
Als ich aufwachte, stach mir die Uhrzeit ins Auge. Es war mittlerweile vier Uhr am Nachmittag. Ich musste eingeschlafen sein. Meine Güte. In den Schlaf driften, kannte ich von mir nicht. Langsam kam mir Sarah in den Sinn. Zuletzt hatten wir uns gestern früh gesehen. Hatte sie mit Mary gesprochen? Innerlich wünschte ich es mir sehnlichst. An sie ranzukommen war seit der Identifizierung von Ave im Krankenhaus unmöglich geworden. Man erhielt keine Antworten, stellte man ihr eine Frage, sie starrte stattdessen teilnahmslos an einem vorbei. Ich hatte die ganze vergangene Woche so zugebracht. Mit einem apathischen Abbild der Frau, die ich einst in der Kirche von Pater Andrews ehelichte. Unsere Ehe war geprägt von gegenseitigem Respekt und Liebe. Wir achteten den Anderen. Bei Uneinigkeiten konnten wir stets Kompromisse schließen. Ich fühlte mich wohl. Jetzt war da eine Unsicherheit in mir. Wie sollte ich mit ihr umgehen? Warum öffnete sie sich mir nicht? Komplett den Schmerz wegzunehmen, vermochte ich nicht. Den Verlust jedoch gemeinsam zu tragen, würde es uns beiden leichter machen. Ich konnte ihr helfen, für sie da sein, sollte sie mich brauchen. Und ich brauchte sie, mehr denn je.
Mit einem tiefen Seufzer sammelte ich Mut. Entschlossen trat ich den Weg zum Schlafzimmer an, welches im Obergeschoss lag. In meiner Brust schlug mein Herz vor Aufregung. In der ersten Etage angekommen, zögerte meine Faust einen Wimpernschlag lang, klopfte schließlich dann aber doch an die Tür.
„Schatz? Geht es dir gut?“ Ich drückte die Klinke hinunter. Es tat sich nichts. Zugeschlossen wie so oft in letzter Zeit.
„Sarah, könntest du mir bitte öffnen? Oder antworte wenigstens damit ich weiß, dass du okay bist. Sarah?! Hallo?“ Mein Magen drehte sich mir um. Hatte ich zuvor noch leicht geklopft, glichen die Versuche sie zu kontaktieren nun einem lauten Trommelfeuer. Beide Fäuste schlugen wieder und wieder gegen die Tür. Meine Stimme erhob sich ebenso deutlich.
„Mach auf! Ich will dich sehen! Sarah! Komm schon!“ In meiner Verzweiflung begann ich mit ihr wie mit einem Kind zu reden. Für mich unüblich fing ich an Drohungen auszusprechen, die ich definitiv entschlossen war notfalls auch umzusetzen.
„Du hast genau zehn Sekunden Zeit, diese verdammte Tür aufzusperren! Tust du dies nicht, trete ich sie ein. Das schwöre ich dir! Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei,...“, ich entfernte mich einige Schritte, um Anlauf zu nehmen, „ zwei, eins,.....“.
Ein Klicken ließ mich innehalten. Licht schimmerte sanft auf den Teppichboden des Flurs. Sie hatte sie einen Spalt weit geöffnet. Eilig stürmte ich drauf zu. Wer wusste schon, ob sie es sich nicht wieder anders überlegen würde. Die Luft, die mir entgegen strömte, war stickig, sie stank abgestanden wie in einer Kaschemme. Dass, was ich zu sehen bekam, glich der Behausung eines Messis. Der Boden war bedeckt von Papier, alten ausgetrunkenen Weinflaschen und anderem Zeugs. Meine Augen wanderten den ganzen Raum ab. Mit offenem Mund verweilte ich im Türrahmen stehend. Sarah hatte nichts gesagt. Zusammengekauert starrte sie apathisch Löcher in die Luft. Der Zustand sowohl des Zimmers, als auch meiner Frau war besorgniserregend. Wortlos begab ich mich zum Bett und ließ mich nieder. In meinem Schoß die Hände gefaltet, ließ ich den Blick erneut schweifen. Sarahs Haare ungewaschen, die Augen rot und verquollen, ihr Geruch eine Mischung aus Schweiß und Alkohol.
„Sarah! Du musst mit mir reden. Guck dich an! Sieh dich mal um hier! Das ist doch nicht normal. Ich trauere auch, verstehst du?! Trotzdem kann ich nicht alles sein lassen. Geh ins Bad und dusch dich! Deine Klamotten hast du mindestens schon drei volle Tage an.“ Von ihr kam keine Reaktion.
„Hey! Ich rede mit dir.“
Selbst ein Schütteln an der Schulter brachte nichts. In meiner Not packte ich sie mit beiden Händen an den Armen. Sie musste aus dieser Dauerschleife der Lethargie heraus. Ich hatte geredet, ich habe gefleht, sogar total in Ruhe gelassen habe ich sie. Mehr als sieben Tage lang mittlerweile. Alles hatte keinen Erfolg. So unangenehm es mir auch war, wählte ich diesen etwas rabiateren Weg mir Gehör bei ihr zu verschaffen. Mit Druck schob ich sie ins Bad.
„Dusch dich!“, befahl ich möglichst sanft, doch mit gewissem Nachdruck und schloss die Tür hinter mir beim Hinausgehen. Zurück im Schlafzimmer riss ich die Vorhänge auf. Ich öffnete die Fenster, damit der Raum Frische erhielt. Das sie es überhaupt in dem Mief aushielt! Wir waren stets unterwegs in der Natur. Wir liebten die klare Luft draußen. Langsam begann ich über zu räumen. Von unten besorgte ich mir einen Sack. Die Flaschen und Taschentücher sammelte ich beharrlich auf. Die Klamotten warf ich direkt in die Wäschetonne, ebenso wie das Bettzeug, welches ich wechselte. Gegen Ende wischte ich die Nachtschränke neben dem Bett über, welche ringförmige Abdrücke von den Weinflaschen hatten. Beinahe am Ende des Reinemachens schaute ich in deren Schubladen. Sicher hatte Sarah hier ebenfalls benutzte Taschentücher reingestopft. Stattdessen fand ich etwas, was mich noch wütender machte, als ich es eh schon war. Wutentbrannt stürmte ich ins Bad. Ich spürte meine Halsschlagader pulsieren. Schon auf dem Weg schrie ich ihr entgegen.
„Sarah!“
Die Tür riss ich auf. Dann packte ich sie am Arm. Ich drehte sie zu mir um. Meinen Ärger schrie ich ihr ins Gesicht.
„Was ist das?“, verlangte ich lauthals zu wissen. Ich schleuderte ihr die leeren Pillenblister entgegen.
„Antworte mir! Ich will, dass du mir sagst, was das soll! Bist du jetzt völlig durchgeknallt?“ Je mehr sie schwieg, desto wütender wurde ich. Sie an beiden Schultern greifend, schüttelte ich sie. Ich rüttelte, in Hoffnung auf irgendeine Reaktion.
„Wolltest du dich etwa umbringen? Mich alleine lassen mit all der Scheiße? Ich trauere auch. Weißt du, wer die letzten Tage für mich da war? Lenny! Gebraucht hätte ich dich! Ave hätte dich gebraucht! Zur Hölle du bist ihre Mutter und warst nicht mal auf der Beerdigung! Sie war dein Baby, dein kleines Mädchen? Was ist bloß los mit dir?“
Wie sie vor mir stand, absolut unbewegt, keinerlei Erwiderung zeigend, trieb mich zur Weißglut. Mein Zorn suchte sich einen Weg. Er brach sich Bahn in einem Schrei und mit dem Ergebnis eines zerbrochenen Badspiegels. Dann, als ich es schon gar nicht mehr erwartet hatte, fing sie an, bitterlich zu weinen. Und so merkwürdig es klingen mag, war dies seit einer Woche der glücklichste Moment, den ich erlebte. Ignoriert zu werden tat mir im Herzen weh. Es gab einem das Gefühl nur Luft zu sein. Nach einer Vielzahl unterschiedlichster Anläufe eine Rückmeldung zu empfangen, breitete sich die Verzweiflung mit jedem misslungenem Versuch weiter aus. Eine Reaktion des Gegenübers nach einer Aktion der eigenen Person bedeutete, wahrgenommen zu werden, es ließ erkennen mit dem Anderen in Kontakt zu sein. Das vermisste ich. Menschliche Bindung und Zuneigung von dem Menschen, den ich liebe. Eine Verbindung zu Sarah schien hergestellt. Zögerlich machte ich mich daran, mich ihr zu nähern. Die zarten Bande des Anfangs wollte ich nicht gleich wieder einreißen. Diese Unsicherheit, welche derzeit viel Raum zwischen uns einnahm, bewirkte eine Handlungsunfähigkeit im Umgang miteinander, die eine normale Beziehung schwierig machte. Mir tat leid, sie mit meinem Wutausbruch erschrocken zu haben. Ich konnte sie zudem nicht weinen sehen. Sanft nahm ich sie in meine Arme. Die Umarmung erfolgte zwar nur von meiner Seite aus, doch diese Tatsache war mir gleich. Sie hatte auf mich reagiert. Einzig das zählte. Den Gedanken, dass sie nach wie vor die Dusche ausließ, verdrängte mein Kopf.
„Ich möchte, dass du weißt, es war nicht meine Absicht dir wehzutun, genauso wenig wie dich zu erschrecken. Du kannst dich frisch machen, wenn du willst. Während ich auf dich warte, räume ich den Rest des Schlafzimmers über. Ok?“ Ein gezwungen wirkendes Lächeln huschte über meine Lippen. Ohne weitere Signale ihrerseits begab ich mich zurück. Die Ausrede, ich hätte in unserem Zimmer was zu tun, sollte ihr ein wenig Raum geben für sie alleine. Auf der Bettkante sitzend, schaute ich zum Fenster und wartete. Die Uhr behielt ich akribisch im Blick. Eine kurze Zeitspanne konnte quälend lang erscheinen. Gerade in Dauerwarteschleifen, wie meine Wenigkeit sie diese Tage erfuhr.
„Hallo? Max? Sarah?“, schrie eine Stimme von unten herauf. „Wo seid ihr? Ich hab euch Essen in Tupperdosen mitgebracht. Wir können gerne zusammen zu Abendbrot essen, sofern ihr zwei Lust dazu habt.“
„Mary! Hey.“, entgegnete ich ihr, die Treppe hinunter gehend. Sie musste den Ersatzschlüssel unter dem großen Stein im Vorgarten genommen haben, um sich Zutritt zu verschaffen. Wenige Worte fielen mir ein. Die Kargheit der Kommunikation, entsprang der schlimmen Phase, die wir durchstehen mussten. Sie traf aber auf Verständnis. Manchmal bedarf es keiner Worte. Ein Schweigen, oder eine Geste, zusammen in der Traurigkeit vereint, drückte da mehr aus, als es durch große Reden möglich wäre. In unserem Fall eine länger ausfallende Umarmung, woraufhin ich meine lädierte Hand schnell in der Hosentasche vergrub.
„Nacht gut überstanden?“
„Hab geschlafen wie ein Stein.“
„Mir ging es ebenso, nachdem ich mich an deiner Alkoholfahne berauscht hatte“, lachte sie verschmitzt.
„Ich würde gerne Sarah sehen. Ihr Verhalten lässt mich in steter Sorge. Hast du sie inzwischen zu Gesicht bekommen? Sie macht sich rarer als Schnee im Sommer!“
„Sie ist im Bad. Hoffentlich duscht oder wäscht sie sich auch. Aktionismus scheint bei ihr in den letzten Tagen nicht so hoch im Kurs zu stehen. Vor circa fünf Minuten ließ ich sie allein, vernommen habe ich aktuell noch nichts, was sich nach Wasser anhört.“
„Dürfte ich hoch? Ich könnte nachschauen. Vielleicht reagiert sie ja auf mich.“
Den Badspiegel! Ich hatte es ganz vergessen! Mary war bereits halb die Treppen herauf gestiegen.
„He! Wundere dich nicht über den kaputten Spiegel, es gab vorhin einen kleinen Wutanfall meinerseits, er ist dabei in Mitleidenschaft gezogen worden.“
Sollte ich mit gehen oder doch unten verweilen? Unentschlossen wippte ich auf meinen Beinen vor und zurück.
„Hattest du nicht gesagt sie wäre im Bad?“, tönte es kurz darauf von der ersten Etage herab. In großen Schritten, zwei Stufen gleichzeitig überspringend, folgte ich meiner Schwiegermutter ins Obergeschoss.
„Sicher ist sie erneut magisch von ihrem Lieblingsort, dem Bett angezogen worden. Lass uns im Schlafzimmer nachsehen.“
Zu meiner Verwunderung fanden wir sie dort nicht.
„Sarah? Mein Liebling, wo bist du?“, rief Mary.
„Sarah! Ich bin es, Mum!“
Mit Falten in der Stirn, schritt sie suchend durch sämtliche Räume.
„Sarah! Antworte doch bitte!“
Ihr Tempo beschleunigte sich mit jedem Raum, in dem sie ihre Tochter nicht vorfand. „Sarah!“
„Sie wird dir nicht antworten! Du kannst deine Rufe einstellen!“
„Wo ist sie?“
„Ich hatte sie ins Bad gebracht, hab ich doch gesagt.“
„Da ist sie aber nicht!“
„Sie wird schon hier sein! Schließlich führt der Weg raus aus dem Haus direkt die Treppe runter, vor der wir standen!“
Angestachelt von ihrer Angst und Nervosität stürmte ich an ihr vorbei, jeden Winkel der Zimmer, welche sich hier befanden inspizierend. Sie konnte ja nicht wie vom Erdboden verschluckt sein. Das Bett unberührt, die Räume verlassen, die Dusche staubtrocken. Wir fanden Sarah nicht.
„Was hast du getan?“, forderte sie zu wissen.
„Wie bitte?“
„Du hast den Badspiegel zertrümmert! Das zeugt ja wohl von einer Gewaltbereitschaft! Meine Tochter ist nie abgehauen. Schon gar nicht in ihrer Verfassung! Wo ist sie? Was ist vorgefallen?“
„Wir hatten einen Streit! Mehr war da nicht! Ich wurde wütend und schlug in den Spiegel, okay?! Das du mir sowas zutraust! Unglaublich! Ihr habt keine Ahnung! Keiner von euch! Wisst ihr, wie es sich anfühlt, sein Kind zu verlieren? Wisst ihr etwa, was es heißt, einen Partner an der Seite zu haben, der maximal noch als körperliche Hülle neben einem existiert? Eine Partnerin, die zwar saufen und alles verkommen lassen kann, es jedoch kaum fertig bringt, eine menschliche Regung zu vollbringen?“, in Rage geredet, stiegen mir Tränen der Wut in die Augen.
Unter keinen Umständen würde ich meiner Frau weh tun! Die verborgene Anschuldigung in ihren Worten, sei es lediglich aus Angst heraus, trafen mich schwer. Sie sollte wissen, dass ich ihre Tochter mindestens genau so sehr liebte, wie sie. Schweigend setzten wir die Suche fort. Als der letzte Raum im Haus zum dritten Mal abgesucht war, schnappte ich mir mein Telefon, während ich ein zweites Mary in die Hand drückte. Wir telefonierten uns die Finger wund. Die Telefonliste wurde von A bis Z systematisch abgespeist. Zwischendurch gaben wir uns via Kopfschütteln ein Zeichen, wenn die gerade kontaktierte Person weder was von Sarah gesehen, noch von ihr gehört hatte. Jede negative Rückmeldung mehr, trieb uns dem Rande des Wahnsinns näher. In unserer Kleinstadt kannte man sich untereinander. Sollte sie das Haus verlassen haben, hätte sie jemand gesehen. Eine dreiviertel Stunde später, war auch die letzte Nummer abtelefoniert. Das Gesicht in die Hände vergraben, ließ ich mich auf das Sofa fallen.
Fertig und verzweifelt, wünschte ich, alles wäre nur ein Albtraum, aus dem ich jeden Moment erwachen könnte.
„Es tut mir leid. Ich war verzweifelt. Sie ist doch meine Tochter! Zuzusehen, wie sehr sie die Trauer im Griff hat, fällt ungemein schwer. Der Gedanke, sie auch zu verlieren.....“.
Weinend sank sie in den Sessel. Sie erregte schon Mitleid in mir, ihre Gefühlsregung verstand ich nur allzu gut, trotzdem bekam ich keine tröstende Umarmung zustande. Der Dorn ihrer Worte bohrte immer noch in meinem Kopf. Ganz kühl wollte ich aber doch nicht sein.
„Ich liebe Sarah. Ebenso wie du es tust! Wir machen alle eine schwere Zeit durch. Anstelle des sich gegenseitigen Zerfleischens, sowie unsinnigen Schuldzuweisungen, sollten wir zusammen halten. Vielleicht ist es besser, die Polizei mit ins Boot zu holen.“
Ich spürte, wie meine Hände feucht wurden, als das Freizeichen nach dem Wählen des Polizeinotrufs ertönte. Schließlich war es nicht alltäglich, die Beamten anzurufen. „Helmsworth Police Department, wie kann ich Ihnen helfen?“
„Mein Name ist Max Keben. Ich wohne in der Westminster Lane 35. Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Meine Frau Sarah ist verschwunden.“
„Wie lange ist sie denn schon nicht auffindbar?“
„Etwa zwei Stunden. Sie war die ganze Zeit zu Haus. Ich habe Angst, dass sie sich etwas angetan haben könnte.“
„Ist sie physisch oder psychisch krank, deutete sie an sich umbringen zu wollen? Benötigt sie dringend medizinische Hilfe?“
„Nein. Wir haben vor einer Woche unsere Tochter verloren, seitdem ist sehr in sich gekehrt, sperrte sich teilweise in unser Schlafzimmer für lange Zeiträume. Nun ist sie nicht mehr hier, wir haben bereits umhertelefoniert. Niemand hat etwas von ihr gehört oder gesehen.“
„So leid mir das tut, muss ich Ihnen mitteilen, dass uns die Hände gebunden sind. Sie ist volljährig, weder ernsthaft krank, noch hat sie ihren Suizid angedroht und sie ist noch keine vierundzwanzig Stunden abwesend. Warten sie ab, ich bin sicher, sie kommt innerhalb der nächsten Zeit wieder Sir.“
Ohne eine Antwort zu geben, legte ich auf. Im Rahmen meiner Arbeit bei der Feuerwehr von Helmsworth, wusste ich eigentlich um die Bedingungen, welche für das Erstellen einer Vermisstenanzeige notwendig waren. Oft arbeiten wir mit der hier ansässigen Polizeidienststelle Hand in Hand. In Notsituationen schaltet der Kopf natürlich nicht so wie sonst. Ich wendete mich Mary zu.
„Wir müssen warten. Es bleibt uns nichts übrig. Möchtest du einen Drink? Ich für meinen Teil könnte einen gebrauchen!“
Stumm nickte sie mir zu. Während ich in der Küche die Getränke vorbereitete, ging ich Ort für Ort durch, an dem ich mir Sarah vorstellen könnte. Am Grab vermochte sie nicht zu sein, Avelines Ruhestätte war ihr unbekannt. Ihre ortsansässigen Freundinnen hatten wir angerufen. Unser Haus war abgesehen von uns zweien leer. Ringsum umgab uns die Natur. Wiesen und Wälder. Es war perfekt, da wir die Frischluft liebten und uns gerne im Freien aufhielten. Mir fiel kein Platz ein, an dem ich sie vermuten würde. Ich war sicher, hätte sie das Haus verlassen, wäre es uns nicht entgangen. Mit eisgekühlten Gin Tonics im Wohnzimmer sitzend, unternahmen wir den Versuch, die Nerven runter zu kühlen. Andere Möglichkeiten hatten wir nicht. Verrückt werden würde niemandem helfen. In Windeseile waren die Gläser geleert. Über uns zweien eine bedrückende Ruhe. Die Küche verschaffte Verschnaufpausen. Ich konnte neue Drinks einfüllen, was mich ablenkte und der belastenden Stimmung Abhilfe bot. Es herrschte eine gezwungene Atmosphäre, die mir nicht in den Kram passte. Die Lösung im Abstand von zehn Minuten aus dem Raum zu fliehen, war jedoch limitiert. Das würde man nicht über große Zeitspannen tun können. Beim folgenden Gang schleppte ich einen Kübel mit Eiswürfeln, in der eine Flasche Wodka ihren Platz fand, nebst den Gläsern mit. Damit nahm ich mir die Chance, weitere Male aus der Situation zu entkommen. Es war unhöflich, Mary allein zu lassen, dessen bewusst, bedeutete mein Vorgehen, meinem inneren Schweinehund seine Spielzüge zu vermasseln. Drei Varianten kamen also als denkbare Folgeszenarien in Frage. Einer würde einschlafen, die schlimme Wortlosigkeit wäre somit ausgeräumt. Meine Schwiegermutter könnte den Heimweg antreten. Dies war am unwahrscheinlichsten. Schließlich würden sie ihre Muttergefühle quälen, bis sie Sarah wieder hätte. Oder es kam ein Gespräch zustande. Je nach Dauer, was gleichzusetzen war mit dem Füllstand der Wodkaflasche und meinem Promillepegel, blieben Schlafen oder Sprechen übrig. Ein Deja-vu. Dasselbe hatte ich gestern schon. Trinken und Schweigen. Was für eine Ironie.
Intensiv, das Glas mit meinen Händen bespielend, betrachte ich unser Wohnzimmer. Ich studierte es bis in die hintersten Ecken. Das Muster der Tagesdecke bestand aus kleinen weißen Punkten. Eins, zwei, drei, vier,... Ob sie die Abstände willkürlich so gesetzt hatten? Fünf, sechs, sieben,... Was für ein Stoff hatten die Schneider verwendet? Davon verstand ich nichts. Acht, neun, zehn,... Es war echt schwer, im betrunkenen Zustand konzentriert zu zählen. Elf, zwölf, dreizehn,... Das wirkte besser als jede Schlaftablette, ganz sicher. Vierzehn, fünfzehn, sechzehn,.....
„Max! Könnte ich kurz telefonieren? Ich würde gerne Hubert informieren, dass ich heute nicht mehr heimkehre. Er soll nicht unnötig warten.“
Ihre plötzliche Wortmeldung ließ meinen Kopf aufschrecken.
„Klar. Bedien dich.“
„Danke.“
Sie nahm das Handy und ging hoch in unser Zimmer. Scheiße, wo war ich jetzt mit dem Zählen? Zum Neubeginn fehlte mir die Motivation. Tick, tack, du bist ein echtes Wrack. Tack, tick, der Schnaps bricht dir´s Genick. Ein winziger Blick jetzt auf die Uhr, du verschwendest deine Zeit hier nur. Mein Kopf war gefüllt mit aneinander gereihtem Schwachsinn. Brachte er nichts Wertvolleres hervor, als diesen Nonsens? Der massive Stress schien sich in kognitiven Defiziten niederzuschlagen. Da konnte man schon mal an seiner Intelligenz zweifeln. Zwei Stunden fehlten noch, dann wäre ein weiterer Tag überlebt. Die Weise in der ich ihn überstanden hatte, war ähnlich klasse wie gestern. Morgen hätte ich wieder einen Aspirinmangel zu beklagen. Und Sarah? Tja, das blieb ein Mysterium. Wir hatten was übersehen. Ein kleines Detail. Bloß welches war die Frage. Unsere Sicht war eingeengt. Wir empfanden uns einer Herausforderung gegenübergestellt, die jedem einiges abverlangte. Mir wurde extrem langweilig.
„Maaaaaaary!“, lallte ich lauthals. „Marry, bist du fertig mit der Informationsübergabe?“
Mit Schwung sprang ich von der Couch auf. Ich rannte zur Treppe, den Kopf in den Nacken gelegt, hinauf starrend. Die Hände klopften ungeduldig aufs Geländer. Eine Minute danach trat sie in Sichtweite. Ob unangebracht oder nicht, trällerte ich dämliche Songs. Jetzt gerade: „ and then along Comes Mary, Mary, Mary,.....“
„Ich wüsste nicht, was aktuell Anlass gibt so fröhlich gestimmt zu sein.“ Mit ernster Miene kam sie zu mir.
„Deine Frau ist verschwunden. Deine Tochter begraben. Und du singst rotzevoll Lieder. Für Aveline können wir nicht mehr viel tun, außer sie in unserer Erinnerung sowie unseren Herzen behalten. Sarah lebt noch, sie ist es, der wir unsere Energie widmen müssen!“
Ihr Gefasel zog mich sogleich wieder runter. Diese dauerhaft präsente Negativität ließ mich nicht mehr los.
„Hmm“, brummte ich. Klar, Recht hatte sie. Eine Sarah war aber nicht da. Aus den Rippen schnitzen konnte ich mir ebenfalls keine. Was also tun? Um nicht zu zerbrechen, war die Verdrängung der derzeit schnellste und effektivste Weg.
„Ich schlage vor, wir legen uns schlafen. Eventuell bekommen wir ja zwei, drei Stunden gegönnt. Beten wir, dass wir sie morgen gesund wieder in die Arme nehmen können.“ Damit machte sie auf dem Absatz kehrt. Sie schloss die Tür zum Schlafzimmer hinter sich. Ein wenig Müdigkeit ergriff mich. Im Wohnzimmer schnappte ich mir die Flasche Absolut. Dann stapfte ich treppauf, direkt in Aveline ihr Kinderzimmer, von dem jetzt eine gewisse Anziehungskraft ausging. Ich schaute mir die selbstgemalten Bilder, die ihre Wände zierten an. Sie zeigten Schmetterlinge, Blumen, Herzen, uns als Familie im Garten spielend. Es waren bunte, fröhlich anmutende Zeichnungen. Ein typisches Mädchenzimmer. Abends hatten wir stets zusammen gelegen. Ich erfand dann Geschichten über Prinz Maximus, wie er die Königin von Allerwelt kennenlernte und sie letzten Endes heirateten. Sie bildeten ein unschlagbares Team, welches furchtlos sämtliche Abenteuer bestritt. In ihrer grenzenlosen Liebe ersehnten sie sich nichts mehr als ein Kind. Jahre gingen ins Land vor dessen Erfüllung. Doch als es dann so weit war, ergriff eine all umfassende Freude die werdenden Eltern und ihr Volk. Sie wurden mit einer wundervollen Tochter gesegnet, welcher sie den Namen Prinzessin Aveline von Allerwelt gaben. Es war offensichtlich, dass es um unsere Familie ging. Ich verpackte es lediglich in eine Art zauberhaftes Märchen. Jeden Abend hing sie gespannt an meinen Lippen. Im Gegenzug genoss ich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Im Bett aufgereiht saßen ihre Puppen und Plüschtiere. Ich schnappte mir Miss Hummel. Ihr Favorit unter den vielen, die sie besaß. Sie schleppte sie überall mit, erzählte ihr Geschichten, schlief mit ihr ein. Zwischen ihnen bestand eine Beziehung, die Freundschaftswert hatte. Für einen Augenblick hielt ich es mir direkt unter die Nase. Ich atmete tief ein. Der Duft von Ave haftete noch daran. Diesen unverwechselbaren Geruch wollte ich vollkommen in mich aufnehmen. Vor meinem inneren Auge war es so, als stünde sie vor mir. Eine schöne Vorstellung. Den Wodka stellte ich neben mir auf das Fensterbrett, während ich mit Miss Hummel im Arm Platz auf Avelines Bett nahm. Erinnerungen schossen mir wie vorbeiziehende Kometen am Himmel durchs Bewusstsein. Meist in den unerwarteten Momenten. Ich sträubte mich nicht dagegen. Im Gegenteil. Sie waren mir willkommen. Durch diese Fetzen der Vergangenheit fühlte ich mich ihr näher. Davon konnte ich nicht genug bekommen. Mein erschöpfter Körper kuschelte sich in die Stofftiermenge, die Biene fest an sich gedrückt.
Ein leichter Rausch trug mich ein Weilchen später dann in den Schlaf. In meinen Träumen war die Welt noch in Ordnung. Gesund und lebendig streiften wir, lachend durch die naheliegende Landschaft. Die Sonne wärmte uns, während sie vom azurblauen Himmel herab lächelte. Kleine Passagen vergangener, glücklicherer Tage. „Daddy, komm mich suchen!“, sagte mir mein Spätzchen strahlend, mitten im Satz schon fortlaufend.
„Und was ist, wenn ich dich nicht finde?“
„Tja, dann bleib ich ewig verschollen.“, schrie sie. Mittlerweile schon außer Sichtweite. Um ihr die Zeit für das Finden des idealen Unterschlupfs zu geben, zählte ich bedacht langsam von zwanzig an rückwärts.
„Ich komme!“ Achtsam arbeitete ich mich vor. Im Wohnzimmer beginnend, ging es hinüber in die Küche, von der aus ich einen Abstecher ins Bad unternahm. Von Ave keine Spur.
„Piep!“
„Spätzchen, gib deinem Paps etwas Zeit dich zu entdecken.“
„Streng dich an! Beeilung Daddy!“ Das Untergeschoss konnte ich nun abhaken. Die Stimme kam eindeutig aus dem Obergeschoss.
„Gleich hab ich dich. Irgendwo hier bist du. Das weiß ich!“
Wie ein Geheimagent bewegte ich mich nun. Vorsichtig lugte ich um die Ecken, probierte geräuschlos zu gehen aus. Raum für Raum inspizierte ich geflissentlich. Unser Schlafzimmer? Fehlanzeige. Das Büro? Keine Aveline. Der Gästeraum? Nein. Eventuell war sie in der Badewanne im Bad? Erneut daneben. Obwohl sie sich zuvor zu erkennen gab, hatte ich leichte Probleme sie aufzufinden.
„Wo ist wohl mein kleiner Engel? Wie traurig, dann muss ich ja das ganze Vanilleeis mit Streuseln allein verdrücken!“, sagte ich extra laut.
„Piiiiiiieeeeeeeeeeep!“
„Was war das? Haben wir hier ein Vögelchen im Haus? Dann wollen wir es schnell wieder fliegen lassen!“
„Piep!“ Sie hatte ihr Zimmer als Versteck gewählt. Clever. Ich stand mitten in ihrem Kinderzimmer. Zuerst riss ich die Bettdecke zurück. Im Anschluss schaute ich unter das Bett.
„Ave, Engelchen wo steckst du?“
Die Stirn runzelnd blickte ich mich fragend um. Der Wandschrank war noch eine Option. Allerdings starrten mir beim Öffnen lauter Pullis und Kleider entgegen. Ratlos blieb ich stehen.
„Buh!“, schallte es ganz unerwartet in mein Ohr. Mein Herz holperte einmal kurz.
„Oh, zum Himmel! Ave!“, erwiderte ich schwer atmend, völlig in die falsche Richtung gedreht. Meine Vermutung sie hinter mir zu haben war falsch. Über dem Wandschrank, war eingelassen in der Wand, ein weiteres großes Staufach. Hier hockte sie und grinste mir frech ins Gesicht. Ihre Haare baumelten an den Seiten ihres Kopfes nach unten. „Wie bist du da hochgekommen?“
„Das ist babyleicht! Schau!“ Im selben Atemzug schmiss sie mir eine Strickleiter herunter.
„Engelchen, sag wer hat das da befestigt?“
„Ein großes, rundes Heinzelmännchen!“, antwortete sie, über ihren eigenen Witz lachend.
„Im Ernst. Wer?“
„Opa. Ich wollte schon immer eine Höhle! Er hat sie mir gebaut. Willst du´s mal sehen?“ Meine Hände griffen sich den Stuhl von ihrem Schreibtisch und platzierten ihn unter ihrem Geheimversteck. Ich staunte nicht schlecht, was meine Tochter dort fabriziert hatte, in verschwörerischer Kumpanenschaft mit ihrem Großvater. Zugeben musste ich jedoch, dass es mir als Kind riesig gefallen hätte, sowas zu haben. Ein filigraner Stoff in zart rose´ mit winzigen LED´s wandelte die Wand des Stauraumes in eine Art Palast aus tausendundeiner Nacht. Der Boden war mit bunten Kissen ausgelegt. Links in der Ecke stand ein Regal mit Büchern. Und wie sollte es anders sein, hingen auch hier ihre künstlerischen Ergüsse. Ich freute mich für sie. Ihre Begeisterung in Besitz dieses Ortes gekommen zu sein, konnte ich nachvollziehen. Um es mit einem Wort zu beschreiben: Kinderparadies. Nach der Prüfung des festen Sitzes der Strickleiter dann, konnte ich endgültig zufrieden sein. Ave hatte sich während meiner Überprüfung, der Länge nach hingelegt, mit ihrem Gesicht mir zugewandt. Sie strahlte überglücklich.
„Das ist mein Prinzessinnengemach, sagt Grandpa. Ich liebe es ungemein!“
„Und ich liebe dich“
Unsere Nasen stupsten sich an, während der Traum ähnlich wie die Nebelschwaden im Frühling sich langsam verzerrte.