Читать книгу Die Farben der Schmetterlinge - Stephanie Wismar - Страница 5

3. Kapitel

Оглавление

Die Sonne war bereits aufgegangen, als ich in dem Bett meiner Tochter wach wurde. Mein Gedächtnis arbeitete auf Hochtouren, in der Bemühung, alle Einzelheiten exakt zusammen zu setzen. Diese Illusion, das Erlebte- irrelevant, dass dies nur Schall und Rauch ist, stimmte mich fröhlich. Im wachen Zustand musste ich mich jetzt vorrangig um Sarah kümmern. Wir mussten sie finden. Koste es, was es wolle! Entschlossen mit der Suche weiterzumachen, begab ich mich bis zu unserer Schlafzimmertür. Ich klopfte dreimal in kurzen Abständen an.

„Mary? Guten Morgen. Könnte ich kurz rein kommen?“, erkundigte ich mich vorsichtshalber. Meine Schwiegermutter bei irgendwas zu überraschen, wollte ich somit vermeiden. Keinen Wimpernschlag dauerte es, bis die Antwort kam. Die Tür öffnete sich schwungvoll.

„Guten Morgen Max.“, erwiderte sie, an den Rahmen gelehnt. Unter ihren Augen zeichneten sich die Folgen einer unruhigen Nacht ab.

„Hast du geschlafen? Ich höchstens zwei Stunden. Die Sorge um Sarah hat mich wach gehalten. Ich machte mir Gedanken, wo sie bloß abgeblieben sein könnte. Nicht die geringste Idee kam dabei herum. Meinst du sie könnte sich,....“, Mary stockte. Sie brachte es nicht über die Lippen. Zu schmerzhaft war diese Überlegung.

„Nein. Sarah geht es gut. Ganz bestimmt.“ Meine Stimme klang standhaft und fest. Sicherheit zu vermitteln, den Mut aufrecht erhalten war meine Intention. Innerlich sah es anders aus.

„Komm mit in die Küche. Ich mach uns einen Kaffee. Der wird uns den Kopf frei machen für die weitere Suche.“

Zaghaft hob sich ein Mundwinkel. Den Arm um sie gelegt, gingen wir herunter. Ich fragte während des Ratterns von dem Kaffeeautomaten, nach dem Wunsch etwas zu essen. Uns schien beiden sämtlicher Appetit verloren gegangen. Sorge war ein schlechter Begleiter. Er lag schwer im Magen. Dabei hatten wir Energie dringend nötig. Es blieb also nichts anderes über, als die Kraft einer äußeren Quelle zu beziehen. Kaffee zum einen. Die Hoffnung des Herzens, Sarah wieder bei uns zu haben zum anderen. Eines jedoch stand fest. Wir würden keine Ruhe geben, bis dieses Vorhaben erfolgreich abgeschlossen wäre. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Der Kaffee bildete die Vorhut, die uns rüsten sollte. Nachdem wir ausgetrunken hatten, begann die Telefonkaskade von Neuem. Wir kontaktierten jeden Einzelnen auf unserer Liste zum wiederholten Male. Die Möglichkeit bestand ja, dass sie inzwischen irgendwo aufgetaucht war. Doch wider Erwarten, kamen auch am heutigen Tage einzig negative Rückmeldungen. Dieses Umhergefrage zum wiederholten Male innerhalb eines kurzen Zeitraums, führte zu unbehaglichen Folgen. Es regte die Gemüter aller auf. Wir erhielten gefühlte hunderte „Warum? Was ist passiert?“, um Informationen von uns zu kriegen, nur der Erfüllung des Sensationsbedürfnisses dienend. Viele waren in ernsthafter Sorge. Der Klatsch würde schon unlängst die Runde gemacht haben. Vermutungen über Vermutungen würden geäußert werden, von denen nicht eine zutreffend war, die sich dann aber hartnäckig halten. Unsere Frustrationstoleranzgrenze war mittlerweile sehr niedrig. Ein Mensch konnte doch nicht einfach verschwinden. Erst recht nicht, wenn es in einer Kleinstadt wie Helmsforth passierte. Helmsworth wurde 1859 gegründet. Mit seiner Einwohnerzahl von 6.014 ein kleiner Ort. Das führt dazu, dass man sich in der unmittelbaren Nachbarschaft kannte. Besonders die älteren Leute liebten es, durch die anliegenden Straßen zu schlendern, sich im Park eine Verschnaufpause zu gönnen, um auf dem Rückweg ein Eis bei Giovannis Gelateria zu essen. Bei ihren Touren lernten sie alle möglichen Einwohner kennen. Manches Mal fingen sie spontan Gespräche an, ich denke, um ihre Neugier zu stillen. Waren sie nicht in Stimmung für Small Talk, suchten sie sich einer der vielen Bänke aus und beobachteten das Geschehen. Und wenn man sich so nicht kennenlernte, dann spätestens auf dem alljährlichen Helmsworth Summer Festival. Dies war ein Fest für Jedermann. Ob jung, ob alt- ganz egal. Jeder kam auf seine Kosten. Zur Auswahl standen Essstände verschiedenster Kulturen, ein Kinderaquapark, Getränkehäuschen, ein Tanzzelt, sowie kleinere Fahrgeschäfte. Wir waren jedes Jahr mit Ave hin gewesen. Sie hatte stets bis in die Abendstunden dort spielend zugebracht. Im Anschluss wurde sie oft von Mary abgeholt. Sie schlief dann bei ihren Großeltern. Wir blieben für die Party dort, tanzten, tranken Cocktails, machten das, was Paare tun, die eine Nacht kinderfrei haben.

In Grübeleien versunken, stieg die Anspannung im Raum spürbar. Meine Schwiegermutter wanderte unruhig quer im Zimmer herum. Ihre Hände steif nach unten hängend, hatte sie zu Fäusten geballt, welche sich vor Anstrengung rot verfärbten. Auch ich wollte nicht weiter untätig bleiben. Die letzte halbe Stunde vergeudeten wir mit Gedankenspielerei. Dies würde uns kein Stück weiter bringen.

„Hol deine Jacke!“

„Was? Wieso? Kam eine Nachricht?“

„Nein. Wir suchen die Straßen mit dem Auto ab. Ich werd noch verrückt hier!“

„Was ist wenn Sarah zurückkommt?“

„Glaubst du wirklich, sie würde urplötzlich wieder vor der Tür stehen? Sie ist derart abwesend, da können wir von Glück reden, wenn sie ein Bekannter aufliest.“, entgegnete ich. Obwohl ich mir nach wie vor ihr Verschwinden nicht erklären konnte. Sie hätte an uns vorbei gemusst. Der einzige Ausgang war die Haustür beziehungsweise die Terrassentür im Erdgeschoss.

„Vielleicht sollte einer hier warten. Nur für den Fall der Fälle“, schlug Mary vor, die nervös ein Taschentuch mit beiden Händen bearbeitete.

„Bitte. Komm mit mir. Ich möchte das nicht allein tun müssen. Sicher tut es dir ebenso gut, das Gefühl aktiv was zu unternehmen.“

„In Ordnung.“

Wir schnappten also unsere Jacken und los ging es. Wir fuhren mit meinem Pick up Richtung Innenstadt. Ich ließ den Wagen langsam die Straßen entlang rollen. So würden wir mehr sehen. Mein Blick durchkämmte die linke Seite, Sarahs Mum behielt die Rechte im Visier. Wir waren in der Aufgabe versunken. Die Arbeit forderte höchste Konzentration. So sehr, dass wir nicht ein Wort miteinander austauschten. Meine Tanknadel vom Auto sank Stunde um Stunde mehr gen null. Es gab keine Zwischenstopps. Mein Rücken schmerzte. Diese Sitzposition war sehr störend. Trotzdem kam Anhalten nicht in Frage. Ich biss die Zähne zusammen, verdrängte Gefühle von Hunger, Durst und Unwohlsein. Sicher fühlte Mary exakt gleich. Anmerken ließ sie sich nichts. Der Ausdruck in ihren Augen glich dem einer Löwin auf Beutezug. Die wilde Entschlossenheit stach einem regelrecht entgegen. Es war die Art, wie eine Mutter um ihr Kind kämpfte. Hart, unnachgiebig, ausdauernd.

Eine komplette Tankfüllung verbraucht, riss uns das Signal, welches aufforderte, eine Tankstelle aufzusuchen aus unserer Aufgabe. Entnervt seufzte ich. Mein Kopf legte sich in meine übereinandergeschlagenen Arme, die vom Lenkrad gestützt wurden. Zuvor hatte ich den Wagen am Straßenrand der Kennedy Street geparkt. Sanft spürte ich Ihre Hand an meiner Schulter.

„Hey. Lass uns heim fahren. Es ist spät. Wir haben unser Bestes getan.“

Den Motor anlassend, sah ich im Winkel meines Blickes den traurigen Gesichtsausdruck. Sarah, wo bist du bloß? Der Zusammenbruch wäre lediglich eine Frage der Zeit. Wie lange könnten wir das durchhalten? Die Idee eines Suizides mussten wir zu dem engeren Kreis der möglichen Szenarien hinzufügen. Aktuell traute ich Sarah einiges zu. Sie war wie eine Fremde. Die Frau, die ich liebte, hatte sich um einhundertachtzig Grad gedreht. Eine viertel Stunde später kamen wir bei unserem Haus an. Die drückende Schwere hing belastend über uns. Bevor wir sie nicht wohlauf gefunden haben, würde sich dies kaum ändern lassen. Im Wohnzimmer ließen wir uns auf das Sofa fallen. Mary hörte nebenbei schon die Mailbox des Anrufbeantworters ab. Ich hatte den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Mein Leben glich einem Albtraum. Eine Hiobsbotschaft wurde von der nächsten gejagt. Was würde ich tun, wenn Sarah nicht wieder gesund und lebendig zurückkehrt? Diesen Gedanken schob ich lieber ganz weit von mir. Mary tat es mir gleich. Sie gab sich ebenfalls der Erschöpfung hin. Wir hingen in den Seilen. Sich auch nur minimal zu bewegen, war absolut undenkbar.

„Neuigkeiten?“, erkundigte ich mich, weiterhin nicht motiviert die Lider zu heben.

„M m.“

„Hunger?“

„Ja“

„Ich auch.“

Trotzdem konnten wir uns nicht aufraffen, in die Küche zu gehen oder per Telefon eine Kleinigkeit zu bestellen. Es muss ein komisches Bild gewesen sein, wie wir total platt dort saßen. Doch spiegelte es perfekt unseren Gemütszustand wieder. Beißender als der Hunger nagte die Müdigkeit an uns. Mein Hintern musste ich zeitnah hochhieven, sonst würde die Couch mein nächtliches Domizil sein.

„Ich denke wir sollten zu Bett gehen.“ Erschöpft reckte sich meine Schwiegermutter, den Mund zu einem weiten Gähnen geöffnet neben mir.

„Das ist ein brillanter Einfall.“ Gäbe es nicht die Problematik, welche die innere Widerstandskraft mit sich bringt. Man ist sich ja selbst der stärkste Widersacher. Dem eigenen Ego gegenüber standhaft zu bleiben zeugt von immenser Stärke. Gerade in Anbetracht der leichteren Varianten, die zur Simplizität verführen. Mein Rückgrat bedurfte Entspannung. Dies hieß, ich brauchte ein Bett um mich komplett lang machen können. So musste ich mich motivieren, ins Obergeschoss zu gehen.

„Komm.“

„Gleich.“

„Los. Ich schlaf gleich ein“, nörgelte Mary.

„Mein Körper befindet sich bereits im Halbschlaf.“

Von der Seite hagelten kleine Hiebe gegen meinen Oberarm.

„Fünf Minuten!“

„Jetzt!“

„Mmmhh“, murmelte ich unzufrieden. Sie ließ nicht locker. Es nervte, war aber exakt, was ich brauchte.

„Ich steh ja schon auf!“

Etwas wackelig drückte ich mich hoch. Tapsig setzten sich meine Füße in Bewegung. Immer hinter Sarahs Mutter hinterher. Vor der Tür von Avelines Zimmer stoppte sie kurz. Mich fest an sich drückend, flüsterte sie mir ins Ohr:

„Vielen Dank.“

Mit einem Kuss auf meine Wange verabschiedete sie sich, ihren Weg anschließend zu unserem Schlafzimmer fortsetzend.

„Gute Nacht!“, rief ich ihr hinterher. In Aves Reich wollte ich nur noch eins: Am besten zwölf Stunden non Stop schlafen. Ohne das Licht einzuschalten, ging ich direkt zum Bett. Gerade hingelegt, sprang ich gleich wieder hoch. Mary hatte laut geschrien. Meine Atmung beschleunigte. Der Puls pochte spürbar. Innerhalb von Sekunden war ich ins Schlafzimmer gestürmt. Ich riss die Tür auf. Sie war vor dem Bett, den Oberkörper vornübergebeugt. Im folgenden Moment schon ließ sie sich hineinfallen. Den Grund des Aufschreis erblickte ich erst, nachdem ich direkt neben ihr stand. Sarah lag dort. In der Position, in der ich sie vor über vierundzwanzig Stunden zuletzt gesehen hatte. Als wäre sie die ganze Zeit in dieser Stellung verblieben. Sie blickte an uns vorbei. Wie aus der Pistole geschossen, jagte eine Frage im Sekundentakt die nächste. Es sprudelte geradewegs aus Mary heraus. Ich stand total perplex daneben, der Szenerie lediglich als stiller Zuschauer beiwohnend. Auf Höhe von Sarahs Gesicht hockte ich mich hin. In ihrer Mimik zeigte sich keinerlei Regung. Der Zustand war unverändert. Ich war glücklich, sie hier zu sehen, scheinbar unverletzt und wohlauf. Der Ärger der letzten Tage war verflogen. Wenn überhaupt spielte er aktuell eine weit untergeordnete Rolle. Es gab Wichtigeres. Meine Augen waren stur den ihren zugewandt. Im Hintergrund hörte ich den ununterbrochenen Wortfluss, der nicht versiegen wollte.

„Mary.“ Sie schien in ihrer Erregung meine Stimme nicht wahrzunehmen.

„Mary!“, rief ich diesmal lauter.

„Hör auf! Sie wird dir keine Antwort geben. Sie ist derzeit unerreichbar. Das Einzige was wir tun können ist zu warten.“

„Sie muss doch mal eine Antwort geben!“

„Das wird sie. Irgendwann. Sobald sie soweit ist, wird sie es uns sicher wissen lassen.“

„So kann es ja nicht weitergehen!“, erwiderte sie, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Ich werde morgen einen Arzt hinzuziehen. Dann bekommen wir professionelle Unterstützung an die Hand. Vielleicht können wir dann besser auf sie eingehen.“

„Ja, kann sein. Es ist schwer sie derart leiden zu sehen. Sie nicht kontaktieren zu können macht es noch schlimmer. Wenn sie antworten würde, könnte man ihr helfen, ihr etwas gutes Tun, anstatt unschlüssig rumzusitzen. Wir alle trauern. Doch die Art in der Sarah dies tut ist ungesund. Besser wäre es, sie würde darüber sprechen.“

Sie wandte sich wieder ihrer Tochter zu.

„Engelchen, du musst reden. Ich flehe dich an. Lass uns dir helfen!“

Ihr Arm lag auf Sarahs Schulter. Die Berührung bewirkte zumindest nichts Sichtbares.

„Morgen ist ein neuer Tag. Lass uns das Licht ausmachen und etwas schlafen. Du kannst neben ihr liegen, wenn du magst. Ich hol mir eine Isomatte und werde mir ein Bett, neben dem unseren machen.“

Mary nickte zustimmend. Sie legte sich hin, während ich mir meine Schlafstätte vorbereitete. Ich holte eine Decke, die feine Matratze sowie ein Kissen aus dem Schlafzimmerschrank. Ich platzierte alles auf dem Boden. Das wir gemeinsam in einem Raum schlafen, hatte den Vorteil, meine Frau mehr unter Kontrolle zu haben. Sollte sie aufstehen, würde ich es mitbekommen. Wir wünschten uns eine gute Nacht und meine Schwiegermutter schaltete das Licht aus. Die Aufregung hatte sämtliche Müdigkeit vertrieben. Hellwach lag ich im Schlafzimmer. Ich starrte die Decke an. Ebenso wie Mary hatte ich unzählige Fragen, die mir auf der Seele brannten. Der Verlauf der vergangenen Woche jedoch, machte mir klar, sie zu bedrängen, würde nichts bringen. Vor zwei Tagen hatte sie im Badezimmer eine Reaktion gezeigt. Dieser Kontakt, den wir herstellten, war der Punkt, an dem ich anknüpfen wollte. Ich würde mir meine Frau zurückerobern. Alle Gedanken drehten sich einzig und allein um sie. Die Idee, einen Arzt anzurufen würde ich gleich am Morgen in die Tat umsetzen. Er kann sicherlich helfen. Vielleicht schaffen wir es, Sarah morgen zu duschen. Eine frische Dusche konnte einem neues Leben einhauchen. Mit meinem Gedankenstrom lag ich die ganze Nacht wach. Ich stand auf und ging rüber zur Fensterfront, als die ersten Sonnenstrahlen ins Zimmer fielen. Der Himmel strahlte in einem hellen Blau. Über den hinter dem Haus liegenden Wiesen flog ein Vogelschwarm daher. Ich beobachtete das Treiben. Leise setzte ich mich in den Sessel, der gemütlich aussehend zum Verweilen einlud. Der Funkwecker auf der Kommode verriet mir, dass es erst kurz nach halb sechs am Morgen war. Da konnten die zwei noch etwas schlafen. Eine halbe Stunde später beschloss ich dann, unten den Tisch eindecken zu gehen und das Frühstück weitgehend vorzubereiten. Das Nichtstun wirkte bei mir wie eine Schlaftablette. Ich hatte zwar die ganze Nacht kein Auge zugetan, doch wenn ich jetzt einschlafe, würde ich sicher nicht vor sechzehn Uhr aufwachen, womit ich abends wieder Probleme beim Einschlafen bekäme. Ich musste mich also beschäftigen. Unten angekommen stellte ich das Geschirr auf den Tisch, richtete Teller mit Aufschnitt her, schnippelte Gemüse, portionierte das Obst, schob die Brötchen in den Backofen, legte Eier zum Kochen raus, und versuchte das ganze möglichst schön zu gestalten. Meine Arbeit lies die Zeit regelrecht rennen. Sieben Uhr. In Ordnung. Ich schnappte mir mein Handy. Bevor ich Sarah wecke, wollte ich schnell einen Hausbesuch mit unserem Hausarzt organisieren. Es war meiner Meinung nach unumgänglich ihn hinzuzuziehen. Sie war körperlich nicht krank, aber psychisch hatte sie einen Tiefpunkt erreicht. Sollte sie regelmäßiges Essen und Flüssigkeitszufuhr vermeiden, würden physische Schäden folgen. Das wollte ich verhindern. Am Rande hatte er bestimmt auch gute Tipps, wie man besser an sie herankam in der Trauerphase.

„Einen schönen guten Morgen, Max Keben hier. Es geht um meine Frau Sarah. Wie Sie ja sicher wissen,.....“, wollte ich gerade ausführen, da bekundete die Schwester am Telefon schon ihr Beileid.

„Ja, danke.“

„Das ist ja so schrecklich was in den Foreigner Mountains passiert ist! Die arme kleine Maus. Ich hab schon zu meinem Mann Manfred gesagt......“.

„Hören Sie, es geht darum, dass meine Frau...“.

„Ja. Sie muss fürchterlich leiden. Genau das erwähnte ich meinem Mann gegenüber. Wie Sie das bloß aushalten!“

Diese Tratschtante plapperte unentwegt weiter. Um noch mehr mitleidigen Floskeln zu entgehen, erhob ich meine Stimme, in der Hoffnung mehr Gehör bei der guten Frau zu erhalten.

„Meine Frau braucht den Arzt! Ihr geht es nicht gut! Würden Sie mir bitte heute noch einen Hausarztbesuch verschaffen? Ich wäre Ihnen zutiefst dankbar!“

„Natürlich, Herr Keben. Einen Moment, ich halte eben Rücksprache mit Dr. Evert.“

Aus dem Hörer ertönte eine sanfte Melodie. Eine der grausamen Kompositionen, die einem in den Warteschleifen vieler Firmen den letzten Nerv rauben. Es gab nicht den geringsten Zweifel daran, dass dies zur Folter werden konnte. Hatte man aktuell keine psychischen Auffälligkeiten, besaß man sie nach halbstündiger Dudelei in der Halteposition bei der Telefonhotline einer Airline beispielsweise ganz sicher. Die Töne bohrten sich einem tief in den Kopf, der Puls fing an zu steigen und die Aggressionsschwelle sank dramatisch von Minute zu Minute, in der man dem Wahnsinn ausgesetzt war.

„Herr Keben? Der Doktor sagt, er hätte gegen fünfzehn Uhr Zeit für sie. Wäre das in Ordnung?“

„Klingt super. Vielen Dank. Einen schönen Tag noch.“

Schnell drückte ich die Auflegentaste. Diese Sache konnte ich von meiner To-do-Liste streichen. Jetzt ging ich hinauf, in der Absicht die zwei aus den Federn zu scheuchen.

„Guten Morgen“, sagte ich, Sarah sanft über das Gesicht streichend.

„Ich hab schon Frühstück vorbereitet. Komm. Ich bring dich erstmal ins Bad. Und nach der Dusche dann, können wir in Ruhe Kaffee trinken und was essen. Am Nachmittag schaut unser Hausarzt nochmal vorbei.“

„Guten Morgen“, erwiderte Mary, die sich bereits aufgesetzt hatte, sich nun zu allen Seiten streckend. Meine Worte mussten auch sie geweckt haben. Sanft setzte ich Sarah an die Bettkante. Ihr Äußerliches bedurfte einer gründlichen Generalüberholung. Vorsichtig versuchte ich mich, an sie ran zu tasten.

„Möchtest du zuerst ins Bad?“, fragte ich Mary.

„Nein. Geht ruhig vor. Solange kann ich mich noch entspannt einmal umdrehen“, erwiderte sie lächelnd.

„Komm Schatz.“

Behutsam lenkte ich meine Frau den Weg entlang zur Dusche. Diesmal wollte ich es besser machen. Mehr Ruhe und Rücksichtnahme. Keine Eskalation mehr. Der Wunsch nach einer Reaktion ihrerseits war unverändert stark. Doch brachte es wenig, sie aus ihr herauspressen zu wollen. Ich beabsichtige schließlich nicht, dass meine Frau künftig Angst vor mir hat. Im Bad begann ich, ihre Sachen auszuziehen. Während dies mich bewegte, ja zum Teil sogar erregte, starrte Sarah stur durch mich hindurch. Es war eine Situation, die so ja nicht ganz normal war. Wie alltäglich ist es schon, dass ein dreiunddreißig Jahre alter Mann seine drei Jahre jüngere Frau zum Duschen auszog? Nackt stand sie vor mir, keine Anstalten machend, in die Duschwanne zu steigen. Würde ich lange Warten, würde sie sicher krank werden vom Auskühlen. Kurzerhand hob ich sie hinein. Unserer körperlichen Konstitution war es zu verdanken, dass dies funktionierte. Sarah war schlank und zierlich, ich hatte einen gut trainierten Körper. Andernfalls hätte ich vor einem großen Problem gestanden. Ich schnappte mir die Brause. In gebückter Position stellte ich das Wasser an. So könnte ich vorerst die Temperatur testen. Meine Hand bewegte sich unter den Strahlen des Duschkopfes hin und her, bis eine angenehme Temperatur erreicht war. Langsam von den Füßen den Körper hochwandernd ließ ich das Wasser an ihr herunter perlen. Als Nächstes seifte ich sie mit einem ihrer vielen gut duftenden Gels ein. Die Haare shampoonierte ich gründlich massierend. Regungslos ertrug sie alles. Sie glich einer Puppe ohne jegliche Gefühle, leblos und starr. Jetzt fehlte lediglich das Abtrocknen, dann könnten wir entspannt frühstücken. Im Handumdrehen waren wir auch damit fertig, sodass Mary sich im direkten Anschluss für den Tag herausmachen konnte. Als ich mit Sarah im Schlepptau das Schlafzimmer betrat, hatte meine Schwiegermutter bereits das Bett gemacht und Sarah neue Anziehsachen drauf gelegt. Sie waren farbenfroh. Schenkte man einigen Experten glauben, dann hieß es, die Farben der Sachen, die man trägt, wirkten sich aufs Gemüt aus. Es wäre nur allzu schön, würde etwas von dem der Wahrheit entsprechen und dies auf ihre Stimmung abfärben. Glauben vermochte ich es kaum. Am Frühstückstisch setzten wir Sarah zu uns, obwohl sie weder aß noch trank. Doch so hatte sie Gesellschaft. Dies verhinderte, dass sie sich in die Isolation zurückzog. Mindestens die Mahlzeiten sollte sie außerhalb des Schlafzimmers verbringen. Mary und ich unterhielten uns über jedwede Alltagsthematiken, bewusst ein ganz Bestimmtes meidend. Um „Aveline“ machten wir einen großen Bogen. Nach dem Beenden des Frühstücks, so Mary, wolle sie zu sich fahren, wo Hubert sie sicher schon sehnsüchtig erwartete, denn wenn sie nicht zu Hause war, gab es kein anständiges Essen. Marys Ehemann war ein echter Eigenbrötler. Was er am meisten hasste, war Aufregung und Menschenmassen. Seine Enkelkinder aber vergötterte er. Er liebte es, mit ihnen zu spielen. Oft beschäftigte er sich stundenlang mit den Kleinen. Seine handwerkliche Begabung verhalf ihm zu manch abenteuerlicher Konstruktion, die Kinderaugen zum Strahlen brachte. In ihrem weitläufigen Garten hinter dem Haus hatten sie einen regelrechten Kindererlebnispark errichtet. Von dem Ast einer riesigen Eiche hing eine große Reifenschaukel. Am selben Baum befestigt führte eine Leiter hinauf, in ein möbiliertes, mit Elektrizität sowie Heizung ausgestattetes Häuschen. In einer anderen Ecke der Grünfläche standen Trampolin, Sandkasten und Kletterturm. Gekrönt wurde das Ganze von einem Pool, der direkt an der gepflasterten Terrasse anschloss. Man konnte das Sprungbrett nutzen, um ins kühle Nass zu gelangen, oder man nahm die Rutsche.

Für seine Enkel war er stets da. Sonst zog er für sich die Einsamkeit vor. In diesem Moment würde er sicher irgendwo im Haus umherwerkeln. Ein Bierchen an seiner Seite und sein Magen grummelnd vor Hunger. War Mary nicht da, gab es Mikrowellenessen. Er hasste die Fertiggerichte. Die Mahlzeiten seiner Frau hingegen waren eine reine Gaumenfreude. Sicher würde er heute auch noch eine dritte Portion verdrücken.

„Ihr Lieben, ich werde jetzt losfahren“, rief Sarahs Mum, nachdem sie nochmal im Bad gewesen war.

„Ist in Ordnung.“

„Kommt ihr zurecht?“

„Schau nicht so zweifelnd. Wir werden das schon schaffen. Nachher besucht uns Dr. Evert. Mit ihm werde ich alles besprechen.“

„Ok. Ruf mich heute Abend an. Sollte irgendwas sein, ich meine, vielleicht wenn ihr Hilfe benötigt, dann lasst es mich wissen. Hubert kann es nicht schaden, wenn er mal nix isst. Schließlich wirkt er beinahe so, als hätte er einen Globus verschluckt. Sonst besuche ich euch am Wochenende wieder.“ Sie warf uns eine Kusshand zu, zwinkerte, drehte sich um und ging durch die Haustür.

Wir waren alleine. Eine ungewöhnliche Ruhe war eingekehrt. Meine Frau würde mir keine Antworten geben, wenn ich ihr Fragen stellte. Aveline war fort. Eigentlich blieb nur ich. Mutterseelenallein in einem einhundertachtzig Quadratmeter großem Haus, die sich über zwei Etagen verteilen. In zehn Minuten hätten wir es zehn Uhr vormittags. Unsicher darüber was jetzt zu tun war, setzte ich mich zurück an den Tisch. Ich schaute mich um. Meine Frau musterte ich in der Hoffnung eine Regung in Körperhaltung und Mimik herauszulesen. Jede Veränderung, sei sie noch so minimal, würde einen Hoffnungsschimmer aufkeimen lassen. Schnell wurde mir das Nichtstun zu langweilig.

„Schatz, ich räume das Geschirr ab. Setz dich auf das Sofa, wenn du magst. Ich kann dir ein wenig den Fernseher anmachen.“

Da sie sich nicht rührte, führte ich sie rüber zur Couch. Durch die Kanäle schaltend, suchte ich ein Programm, welches ihr Zusagen könnte. Letzten Endes fiel die Wahl auf einen dieser Frauensender, der aktuell ein Backduell ausstrahlte. Dann will ich mich mal an die Arbeit machen, sagte ich mir, mich selbst motivierend. Zuerst nahm ich mir vor, Esstisch und Küche auf Vordermann zu bringen. Die Anwesenheit von Sarah im Hinterkopf, gab mir das Gefühl, sie hier noch ein wenig im Sichtfeld zu haben. Mir war bewusst, dass ich sie nicht vierundzwanzig Stunden täglich unter Kontrolle haben könnte. Doch engmaschig Beobachten, zumindest in der ersten Zeit wollte ich sie schon, schließlich wussten wir nach wie vor nicht, wo meine Frau die zwei Tage gewesen ist. In Windeseile verstaute ich das Geschirr im Spüler, wusch den Tisch ab, reinigte Arbeitsplatte und Tresen und legte die Nahrungsmittel zurück in den Kühlschrank. Im Abstand von fünf Minuten stierte ich zum Sofa. Selbe Haltung, gleiche Position. Man könnte meinen, eine Statue vor sich zu haben. Ob sie hierbleiben würde, während ich unter die Dusche sprang? Oder sollte ich sie lieber mitnehmen? Ungern wollte ich, dass sie sich als Gefangene beziehungsweise als unzurechnungsfähig abgestempelt vorkam. Normalerweise benötigte meine Frau niemanden, der sie betreute. In dem aktuellen Ausnahmezustand jedoch, galt es abzuwägen, ob eine vorübergehende Aufsicht induziert ist. Die Dekoration des Couchtisches beiseiteschiebend, setzte ich mich vor Sarah. Mit beiden Händen nahm ich ihr Gesicht. Sie sollte mir annähernd zugewandt sein, wenn ich mich mit ihr unterhalte.

„Schatz, ich möchte gerne duschen gehen. Ich bitte dich, solange hier zu warten. Es wird nicht allzu sehr andauern. Du kannst hier verweilen und etwas fernsehen. Eventuell machst du es dir gemütlich. Ganz wie du möchtest. Aber ich flehe dich an, aus tiefstem Herzen, nicht erneut fortzulaufen. Wir haben uns schreckliche Sorgen gemacht. Ich möchte diese Angst kein zweites Mal spüren müssen. In wenigen Momenten, du wirst sehen, bin ich zurück. Dann leiste ich dir Gesellschaft. Falls etwas ist, weißt du, wo du mich findest.“

Vornübergebeugt gab ich ihr einen Kuss auf die Stirn. Ich konnte es kaum erwarten, die Wassertropfen meinen Körper herunterlaufen zu spüren. Danach würde ich mich gleich entspannter fühlen und könnte bis zur Ankunft des Hausarztes die Zeit mit Sarah verbringen. Meine alten Klamotten warf ich in den Wäschekorb. Die Temperatur des Wassers stellte ich lauwarm ein, damit das Frischegefühl deutlich spürbar ist beim Verlassen der Wanne. Eine Weile ließ ich es einfach an mir hinab perlen, die Augen verschlossen, der Kopf in den Nacken gelegt, gehalten von meinen zwei Händen. Ich könnte ewig so ausharren. Am in der Wand verbauten Digitalradio stellte ich Entspannungsmusik ein. Paradiesisch lautete der ideale Ausdruck für den Zustand, in dem mein Geist sich gerade wähnte. Ein Moment absoluten Seelenfriedens. Als ich eine gefühlte Ewigkeit später meine müden Lider hob, lehnte ich mich zum Regal, welches hinter der Duschwanne platziert war, um mir eine meiner Uhren zu fischen. Ich war bereits seit über zwanzig Minuten hier oben. Zügig seifte ich mich ein und spülte den Schaum ab. Eilig schnappte ich mir das große Badehandtuch vom Haken. Mit leichtem Druck rubbelte ich alle Körperpartien trocken.

Mit dem um die Hüfte gewickelten Handtuch ging ich in Avelines Zimmer, ungeahnt dessen, die Antwort der dringlichsten Frage der vergangenen Tage zu erhalten. Ich wollte das Bett machen, sowie die restlichen Dinge raus räumen, die ich hineingeschleppt hatte. Allerdings stachen mir direkt beim Öffnen der Zimmertür die sperrangelweit aufgeklappten Seiten des Staufaches ins Auge, von dem eine gestrickte Leiter hinab hing. Der Traum, welchen ich die eine Nacht hatte, durchfuhr mich wie ein Schnellzug. Fetzenweise Szenen liefen wie ein kaputter Film in meinem Kopf ab. Das Geheimversteck schien wahrhaftig existent zu sein. Nun vollends bei der Sache, zog ich mir einen Stuhl direkt davor. Ich musste reinsehen. Meine Neugier war unbändig. Was war dort drin? Mit offenem Mund gab ich mein Erstaunen preis. An der Hinterwand entlang waren Regale mit Büchern. Die Innenseiten der Schranktüren zierten gemalte Bilder meiner Tochter und an der Decke hingen den Sternen am Himmel gleich kleine LED´s. Der Gesamtanblick, welcher sich mir bot, strahlte eine Urgemütlichkeit aus, die zum Verweilen einlud. So mancher Traum konnte hier ersponnen werden mit der einzigartigen Fantasie eines Kindes. Decken und Kissen polsterten den Boden des Stauraumes aus. Einzig ein zerknüllter Haufen Taschentücher störte diese harmonische Umgebung. Sarah. Mir fiel es wie die Schuppen von den Augen. Wie mein Innerstes es schon längst gewusst hatte, war sie nie außerhalb unserer vier Wände. Sie hätte an mir vorbeischlüpfen müssen. Was nach allen Gesetzen der Logik unmöglich war. Meine Nase versank sehnsüchtig in den dort drapierten Kissen. Sie suchte nach einem Hauch von Ave. Mit leichter Konzentration wurde sie fündig. Ich sog den Geruch tief in meine Lungen ein, bevor ich mein Gesicht hob. Die benutzten Tücher sammelte ich sorgsam ein. Das Zimmer sollte exakt dem Bild gleichen, das ich hatte nachdem ich es betreten hatte. Als mein Arbeitswerk getan war, schlenderte ich die Treppen herab. Ich wollte mit Sarah reden. Meinen Gedanken und Emotionen Ausdruck verleihen. Sie sollte an meinem Innersten teilhaben. Wer wäre geeigneter als meine geliebte Frau. Sie vermochte nicht zu antworten, doch ich war sicher, sie hörte zu. Von irgendetwas von dem, was ich ihr mitteilte, nahm sie sicherlich Notiz. Das Handtuch enger um die Hüfte schlingend, trabte ich die Stufen ins Erdgeschoss herab.

„Schatz. Sarah, mein Engel!“

Verdutzt kam ich am unteren Absatz zum Stehen. Das Sofa war verwaist. Ich atmete kontrolliert tief ein und aus. Ein verzweifelter Versuch der Selbstberuhigung. Würde sie schon wieder unauffindbar sein? Diesmal bestünde sogar die Option, dass Haus gänzlich verlassen zu haben. Nein! Das würde sie mir nicht zumuten. Ich trat näher an die Couch, auf der die Fernbedienung lag, um den Fernseher abzuschalten. Dämlicher Kasten! Ein verliebtes Paar, welches ihr zweites Kind erwartete, flimmerte über den Bildschirm. Bestimmt hatte Sarah das angesehen. Ein Grund mehr, Frauensender zu hassen. Meine tiefe Abneigung gegen solche Kanäle bestätigte sich einmal mehr. Diese emotionsgeladenen Sendungen waren anstrengend. Für eine Frau, die ihr Kind betrauert absolutes Gift. Hätte ich gewusst, dass sie eine Kinderwunsch Sendung ausstrahlten, hätte ich einen Sportkanal gewählt.

Systematisch ging ich im Kopf durch, wo meine Frau derzeit ihre Lieblingsplätze hatte. Das Schlafzimmer war mein Platz Eins unter den Top Ten, der Orte an dem ich suchen würde. Keine drei Minuten später stand ich schon im Türrahmen zu unserem Raum und traf sie dort tatsächlich an. Zusammengerollt wie eine Katze lag sie im Bett, die Decke weit hochgezogen.

„Da bist du ja!“; entgegnete ich, ohne den Hauch eines vorwurfsvollen Tonfalls anklingen zu lassen.

„Ich,...Ich weiß nun, wo du dich aufgehalten hast in der letzten Zeit. Ich kann es verstehen. Wirklich. Es ist ein schönes Plätzchen! An diesen speziellen Stellen hat man das Gefühl, Aveline nah bei sich zu haben. Wenn man dann den Geruch von ihr wahrnimmt, ist es, als stünde sie vor einem. Ich vermisse sie so sehr! Ebenso wie ich spüre, dass ihr Fehlen dich schmerzt. Sie war ein wundervolles Mädchen. Ihre Anwesenheit alleine konnte einen schlechten Tag wieder ins Gute kehren. Und ihre Fantasie! Gott, was erzählte sie manchmal für absurde Geschichten, über die wir gemeinsam herzlichst lachten. Stets war sie zu Scherzen aufgelegt. Eine ernste Miene hab ich, streng genommen kaum gesehen in diesen acht Jahren. Sie war mein Spätzchen. Welch Glück wir besessen haben, sie unsere Tochter nennen zu dürfen, ist mir erst nach ihrem Tod extrem bewusst geworden.“

Mit schwammig, verklärtem Blick, saß ich, die Hände im Schoss verschränkt auf dem Bett. Unbewusst erzählte ich frei heraus, was immer mir in den Sinn kam.

„Kannst du dich noch daran erinnern, wie sie deinen Vater fragte, ob er der Weihnachtsmann ist, wegen seines Barts? Er hatte es vehement verneint. Trotzdem erzählte sie es stolz und ehrfürchtig in der gesamten Kindergartengruppe. Jedes Mal, wenn dann ihr Geburtstag anstand, starrten die Kleinen ihn dann an, als käme er von einem anderen Planeten. Sie amüsierte sich dabei köstlich, während sich dein eigenbrötlerischer Vater den nervenaufreibenden Verhören ihrer Freunde stellen musste. Wir haben so einiges erlebt. Hätten wir doch nur mehr Zeit gehabt.“

Mittlerweile fielen vereinzelte Tropfen aus meinen Augenwinkeln. In dieser Traurigkeit nach Halt suchend, schmiegte ich mich an meine Frau, ein Arm um sie legend. Allein die Nähe war angenehm beruhigend, ich verlangte nicht, dass sie mit mir interagierte. Da sein. Simple Anwesenheit des ebenso betroffenen Partners, der wusste, wie es einem ging, der ohne explizite Erklärungen verstand. Fühlte man sich derzeit noch so alleine, in der Trauer war man vereint. Es war unerheblich, wie viel Zeit wir hier untätig herumlagen. Wir würden uns den Raum schlichtergreifend nehmen, den wir benötigten. Es verstrichen Sekunden und Minuten, die Uhr lief unaufhaltsam weiter. Die Atmung meiner Frau wurde seicht, regelmäßig und ruhig. Sie war eingeschlafen. Möge sie wenigstens im Schlaf den Frieden finden, der uns im wachen Zustand nicht vergönnt ist.

Die Farben der Schmetterlinge

Подняться наверх