Читать книгу Nacht ohne Wiederkehr - Band 1 - Stephen Red - Страница 5
Zu vermieten
ОглавлениеWie an jedem 1. eines Monats fuhr Timothy auch heute wieder hinaus zu dem alten Anwesen. Von Beruf war er Makler, doch das Geschäft lief schlecht. Nicht nur, dass ihm sein Boss den Verkauf des alten Loraine-Herrenhauses aufs Auge gedrückt hatte, nein, auch seine Frau Rosetta machte ihm das Leben schwer. Schon oft dachte er an Scheidung. Aber nur kurze Zeit später fiel ihm wieder ein, dass er bei einer Scheidung leer ausgehen würde. Also riss er sich zusammen, holte einmal tief Luft und machte einfach so weiter wie bisher. Das war kein schönes Leben, das wusste er. Aber auf die eine oder andere Annehmlichkeit konnte und wollte er trotzdem nicht verzichten. Immer wenn dieses Datum auf dem Kalender näher rückte, wurde seine Frau fast unerträglich zickig. Der Grund war recht einfach, denn mit nur mal kurz hinfahren war es an so einem Tag nicht getan. Schon am Vorabend dieses Besuchstermins packte er seine Sachen. Während er es als wiederkehrendes Ritual akzeptiert hatte, störte es seine Frau immer noch. Auch bemerkte sie jedes Mal eine kleine Veränderung an seinem Verhalten, wenn er von jenem Anwesen heimkehrte.
Am nächsten Morgen parkte er sein Auto aus der Garage aus, lud seinen Reisekoffer in den Kofferraum, küsste seine Frau auf die Stirn und verabschiedete sich mit einer hohlen Phrase à la: „Machs gut Liebes, wir sehen uns ja morgen Abend wieder.“ Und so fuhr er erneut zu diesem mittlerweile auch von ihm verhassten Herrenhaus. Der Weg dahin führte ihn vorbei an zahlreichen Ortschaften. Gute fünf Stunden später stand er erneut in der Toreinfahrt. Zu seiner Linken befand sich eine Tafel des Maklerbüros, für das er tätig war. Darauf stand in Großbuchstaben:
ZU VERKAUFEN – DAS LORAINE-HERRENHAUS
Seit zwei Jahren stand das Schild an jenem Ort. Mittlerweile überwuchert von Moos und Gras. Timothy rechnete nicht mehr damit, dass er das Anwesen jemals verkaufen würde. Auch war ihm die Abgeschiedenheit, in der das Anwesen lag, irgendwie unheimlich. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er noch drei Stunden Zeit hatte, ehe die Dämmerung einsetzte. Sogleich schloss er das Tor auf und fuhr unter dem Torbogen hindurch. Er überlegte kurz und sagte sich dann: „Ach was, warum soll ich aussteigen und das Tor schließen, kommt doch eh keiner.“ Und so fuhr er weiter die lange Auffahrt zum Anwesen hoch. Das Haus lag gut eine Meile entfernt von der Straße. Die Auffahrt schlängelte sich um die Ausläufer eines kleinen Sees und durchquerte ein Waldstück. Wie immer fuhr er mit dem Wagen drei Viertel des Rondells herum, bevor er stehen blieb. So hatte er das Haus in seinem Rücken.
Er stieg aus, holte einen Kugelschreiber aus seiner Weste und notierte die genaue Zeit, wann er beim Anwesen eingetroffen war. Sein Chef Jack Walter war in diesen Dingen immer sehr penibel. Und einen Grund zur Ermahnung wollte Timothy ihm nicht liefern. Nach dem Protokoll ging er die Stufen zur Eingangstür empor. Links wie rechts war die mächtige Tür von schwarzen Marmorsäulen flankiert. Timothy holte seinen großen Eisenschlüssel heraus und schloss auf. Er schob beide Flügel der Tür nach innen und betrat die Eingangshalle. Es war ein imposanter Bau. Der Kronleuchter an der Decke mochte gute 15 Fuß über ihm hängen. Immer wieder schaute er ihn an und stellte sich wie in einem billigen Horrorfilm vor, wie dieser auf ihn niederrauschte und er dabei zu Tode kam.
Fünf – vielleicht auch zehn – Minuten verstrichen, während er im Eingangsbereich seine Kontrolle durchführte. Im Haus selbst war er immer sehr wachsam. Es wirkte so sauber, nicht ein Krümelchen Staub lag am Boden, was schon recht ungewöhnlich war. Immerhin stand das Haus seit gut zwei Jahren zum Verkauf. Der Grund für diese penible Sauberkeit war Kimmens, der Butler der ehemaligen Familie, die dort einst lebte. Er achtete noch immer auf das Anwesen, ganz so, als wären sie nie verschwunden, seine Herrschaften.
Wie Timothy so dastand und sein Protokoll ausfüllte, hörte er von draußen ein Geräusch. Schnell packte er seine Sachen zusammen und lief zur Tür. Hier blickte er die große Treppe hinunter und sah ein fremdes Auto vor dem Haus. Da gingen auch schon die Türen auf. Ein Paar mit zwei Jugendlichen entstieg dem Auto. Timothy ging die Stufen hinunter und stellte sich vor. Gestatten Sie, mein Name ist Timothy Wooldridge. Ich bin der aktuelle Verwalter dieses Hauses. Womit kann ich Ihnen denn weiterhelfen? Die Vier schauten ihn musternd an. Da drückte die Frau ihrem Mann den Ellbogen in den Bauch und gab ihm zu verstehen, dass er was sagen sollte. „Hallo, wir sind Familie Maskowkin. Wenn ich uns kurz vorstellen darf: Das sind meine bezaubernde Frau Debora, unsere Tochter Elise, unser Sohn Roger und ich heißen, Sergej.“ Alle verneigten sich ganz höflich und gaben ihm die Hand. Timothy war gleich von Debora angetan. Er dachte sich: „Was für eine schöne Frau. Was macht so eine Frau nur mit einem derartigen Mann?“ Schön war Sergej nicht, dafür wirkte er aber sehr clever, war groß, kräftig und sprach Englisch mit erkennbarem Akzent. Timothy fragte dann: „Interessieren Sie sich für das Haus?“ Sergej trat auf ihn zu und sagte: „Wir wollen mieten Haus. Was willst du haben an Geld?“ Timothy war regelrecht sprachlos. Eigentlich stand es ja zum Verkauf, aber für den Fall der Mietanfrage, gab es ebenfalls ein Angebot. Seit über zwei Jahren fuhr er nun zu diesem Anwesen und nie traf er jemanden. Nun fährt diese nette Familie vor und möchte es mieten. Innerlich begann er zu frohlocken, aber nach außen ließ er sich von seiner Freude nichts anmerken. „Das Haus kostet im Monat 2.800 Dollar. Die Kaution beträgt 5.000 Dollar und ist bei Unterschrift des Mietvertrages sofort zu entrichten.“ Roger spuckte auf den Boden und sagte laut: „Du zockst uns ab, alter Mann, wer bist du?“ Sergej stellte sich vor ihn und entschuldigte sich bei Timothy für das Verhalten seines Sohnes. Dann sagte er streng: „Roger, steig wieder ins Auto und sei still!“ Dieser fuchtelte nur wild mit den Händen, schimpfte etwas Unverständliches auf Russisch und gehorchte schließlich. Sergej griff in seine Jackentasche und holte eine Rolle Geld hervor. Er trug immer 5.000 Dollar mit einem Gummiband darum in der Hosentasche. Timothy schaute ihn nur mit offenem Mund an. Dann sagte er: „Äh, Sie haben es bar dabei?“ Darauf entgegnete ihm Sergej: „Ja, macht Zahlen schnell und besser.“ – „Stimmt genau“, bestätigte Timothy. Er nahm das Geld, stellte Sergej eine Quittung aus, holte einen Mietvertrag-Vordruck aus seinem Auto und füllte diesen ebenfalls aus. Zum Schluss wandte er sich an das Paar: „Sind Sie beide Mieter oder nur einer von Ihnen?“ Beide nickten zwar, doch dann sagte Sergej: „Ich Mann, ich Mieter. Frauen können das nix machen.“ Danach unterschrieb er. Timothy riss das zweite Dokument dahinter ab, auf welches die Daten, sowie die Unterschrift durchgepaust wurden, und gab beiden die Hand. Dann kramte er die Schlüssel aus seinem Auto hervor und übergab sie. Schließlich sagte er: „Ich wünsche Ihnen viel Freude mit Ihrem neuen Haus.
„Wie sieht es aus: Haben Sie noch Fragen bezüglich des Hauses?“ Debora schaute Timothy schräg von der Seite an und sagte ganz lapidar: „Wir finden uns schon zurecht. Wenn wir noch Fragen an Sie haben, rufen wir an. Sie haben doch bestimmt eine Visitenkarte dabei, stimmt‘s?“ Timothy war innerlich immer noch am Feiern, ob der Vermittlung des Herrenhauses und antwortete etwas abwesend: „Ja, hole ich und bekommen Sie.“ Nach der Übergabe seiner Karte sagte er: „Hiermit sind die Formalitäten erledigt. Das Haus ist nun an Sie vermietet und meine Arbeit ist getan.“ Timothy fiel spürbar ein Stein vom Herzen. Er verabschiedete sich, wünschte ihnen noch alles Gute und stieg in sein Auto. Kurz darauf fuhr er auch schon die Auffahrt wieder hinauf – wie er hoffte, zum letzten Mal. Oben am Tor angekommen, hielt er kurz an, stieg aus und zog das Maklerschild aus dem Boden. Er legte es in den Kofferraum und stieg wieder ein.
Unterwegs zum Dorf schrie er lauthals im Auto herum: »JAJAJAJAJAJA, ich bin es los, jipeeeeeehhhh!!!!!« Die Kinder im Auto, das ihm gerade entgegen kam, drehten verwundert die Hälse und dachten sicherlich: „So sieht es also aus, wenn man verrückt ist und gleichzeitig Auto fährt.“ Timothy war es allerdings egal, was andere über ihn dachten. Heute wollte er nur noch feiern. Vor dem Motel angekommen, stellte er sein Auto ab und ging sogleich in das angeschlossene Restaurant. Hier bestellte er sich ein großes kühles Bier und ein schönes saftiges Steak. Kurz darauf fragte er die Bedienung, ob sie wohl ein Telefon hätten. Sie sagte nur: „Ja, draußen auf dem Gang, mein Herr.“ Er stand auf, rannte los und sprang schon fast in die Kabine. Zog die Tür zu, wählte die Nummer seiner Frau und prustete ins Telefon. Diese sagte nur: „Timothy hol Luft, was ist denn los mit dir?“ Er atmete zwei-, dreimal tief ein und aus und teilte ihr mit: „Ich bin es los, ich bin es los, ich hab das Loraine-Anwesen vermietet und die Kaution hab ich direkt bar auf die Hand bekommen!“ Seine Frau wollte eigentlich gerade zickig werden, schaltete dann aber einen Gang zurück und fragte fast schon flüsternd: „Du hast was?“ – „DU HAST WAS?“, fragte sie lauter erneut. „Es ist wirklich weg, wir sind dieses Gruselschloss für immer los, ja?!“ – „Ja, mein Engel, wir sind es los. Jetzt kann uns mein Chef gar nichts mehr. Juuuhuuu!“ Mit diesen Worten schloss Timothy das Gespräch und legte auf. Wieder zurück am Tisch, genoss er voller Wonne sein Steak, wie auch sein Bier. Danach ging er aufs Zimmer, schloss ab und legte sich aufs Bett. Der Fernseher zeigte den Wetterbericht für den kommenden Tag. Es sollte regnen, was aber für die Jahreszeit nicht ungewöhnlich war. Timothy war es egal.
Zur selben Zeit zog die Familie Maskowkin in ihr neues Domizil ein. Was Timothy nicht wusste und wohl auch sonst keiner: Die Familie war auf der Flucht. Sie waren gesuchte Mörder. Die ganze Familie war darauf spezialisiert, Auftragsmorde auszuführen. Sergej war der Kopf der Bande. Er war sehr geübt darin, mit nur einem Schuss in den Kopf sofort zu töten. Seine Frau Debora hingegen zog die Metallschlinge von hinten vor und erwürgte ihre Opfer. Ihre Tochter lernte diese Fertigkeit gerade von ihr. Und Roger tötete mit bloßen Händen. Er war körperlich sehr durchtrainiert und liebte es mit anzusehen, wie das Leben allmählich aus seinen Opfern wich. Der Grund, warum ihnen bis heute noch niemand auf die Schliche gekommen war, war, dass sie immer, wenn es brenzlig wurde, alle Beteiligten umlegten. Egal, ob es sich nur um Randfiguren handelte. Sicher ist sicher und das auch nur, wenn es niemals Zeugen gibt. Alles in allem gingen inzwischen gut dreiundzwanzig Morde auf ihr Konto. Und genau dieser Umstand war es auch, der sie immer wieder dazu zwang, aus einem Bundesstaat zu entfliehen. So zogen sie durchs Land mit einer Reisetasche voll von Bargeld. Denn wer direkt bezahlt, hinterlässt keine zurückverfolgbare Spur. Dieses Herrenhaus lag dafür ideal. Schon seit zwei Wochen spähten sie es aus, um sicherzugehen, dass es möglichst selten besucht wird. Die Bestätigung dafür bekamen sie schließlich vom Makler Timothy höchstselbst. Denn dieser erzählte ihnen, dass die Post oben am Tor abgegeben wird. Um dort hinzugelangen, gab es ein Golfcaddy. Alles in allem also das ideale Versteck, jedenfalls für eine Weile.
Der neue Auftrag, den sie erhalten hatten, war nicht weit von ihrem neuen Wohnort entfernt. Nur eine Autostunde gen Westen. Diesen nahm Roger an, denn er war spezialisiert auf das lautlose Töten. Und so machte er sich schon in den frühen Morgenstunden auf den Weg. Der Rest der Familie war in der Küche und ließ sich ein reichhaltiges Frühstück schmecken. Während sie dort saßen, erzählte ihnen Sergej, wie sehr er es bei ihrem letzten Auftrag genossen hatte, den alten Mann in seinem Rollstuhl aus 150 Fuß Entfernung mit nur einem Schuss direkt zwischen die Augen tödlich getroffen zu haben. Seine Frau lachte dabei und meinte dazu nur: „Der Alte hatte es verdient. Zack – und weg war er.“ Elise schenkte sich noch einen Kaffee ein und grinste breit. Dann sagte sie: „Am liebsten würde ich ja auch dieses lautlose Töten lernen, was Roger da ausübt. Aber dafür bin ich wahrscheinlich zu schmächtig.“ – „Genau, außerdem bist du zu dick. Musst du üben viele Wochen und Training machen. Bis du eine Attentäterin bist, wir sind in Rente“, entgegnete ihr Sergej. Während sie über das Töten fachsimpelten, hatten sie das Gefühl, irgendwas hätte sich im Raum verändert. Elise bemerkte es zuerst. Ihr stellten sich die Haare auf, denn es wurde merklich kühler im Raum. Dieses Gefühl teilte sie mit ihrer Mutter. Sergej interessierte das nicht, ja, er ignorierte es gar. Da sagte Debora zu ihm: „Hast du die Heizung ausgemacht und wenn ja, warum?“ Sergej schaute sie schräg von der Seite an: „Was habe ich mit Heizung? Ich bin Mann. Ich drehe an und richtig.“ Die beiden Frauen aber fühlten sich unwohl und verließen die Küche. Beide gingen die ausladende Treppe empor und ins Wohnzimmer. Dort legten sie sich jeweils auf ein Sofa und wickelten sich in ein Lammfell. Der Kamin brannte und spendete ihnen die Wärme, welche sie unten in der Küche so vermissten. Da sagte Debora zu ihrer Tochter: „Sag mal, du hast es doch auch gespürt oder? Dieses Gefühl, als wenn wir beobachtet würden.“ – „Ja, es fühlte sich an, als wenn die Wände tausend Augen hätten“, entgegnete Elise ihrer Mutter. Debora zog das Lammfell bis dicht unter ihr Kinn. Dann hörte sie ein leichtes Quietschen. Ganz langsam drehte sie den Kopf. Aus den Augenwinkeln heraus glaubte sie zu sehen, wie der Wandleuchter sich zu ihr drehte. „Das kann nicht sein. Nein, du hast dich bestimmt geirrt“, dachte sie. Elise schaute besorgt zu ihrer Mutter, als diese ihre Stirn immer mehr runzelte. Schließlich flüsterte sie zu ihr herüber: „Was ist denn los? Du reißt deine Augen so auf, als hättest du hier ‘nen Geist gesehen.“ – „Vielleicht habe ich das, Elise. Schau mal ganz unauffällig zur Wand und da zum Leuchter. Sieht der nicht irgendwie schief aus?“ Elise drehte schlagartig ihren Kopf in Richtung Wand zum Leuchter. Und tatsächlich hing dieser etwas schief. Im Gegensatz zu dem anderen, welcher in gleicher Höhe angebracht war, hing dieser schlaff herunter. Das sah schon etwas merkwürdig aus und man könnte sich durchaus einbilden, dass da was nicht mit rechten Dingen zuging. Aber Elise war weder abergläubisch noch glaubte sie an Geister oder Magie. Also stand sie auf, ging zum Leuchter und fasste ihn an. Im nächsten Moment zuckte sie wie unter Strom herum und rief dabei: „Hilfe, Hilfe, der Leuchter, er will mich fressen! Ein Monster ist in der Wand!“ Ihre Mutter war entsetzt und verkroch sich noch mehr unter dem Fell. Da lachte Elise laut auf und sagte nur: „Du bist so eine Memme, Mutter.“
Unten saß Sergej immer noch in der Küche. Allerdings nicht mehr so gelangweilt wie zuvor, denn er spürte es mehr und mehr: Da war etwas anwesend, was sogar ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Ihm, dem knallharten Profikiller, machte der Raum zu schaffen. Er dachte: „Was los Raum, willst du mich sagen was, dann sag, sprich, sei ein Mann!“ Aber der Raum war still. Von ihm unbemerkt drückte sich die Decke etwas hernieder. Erst als Sergej sah, dass der Schatten des Deckenleuchters sich veränderte, blickte er auf. „Was ist das für ein Hölle?“, fragte er sich. Er zog ein Messer aus der kleinen Ledertasche an seinem Gürtel und bedrohte damit die Wand. Ihm war nicht wohl bei dem Ganzen und so ging er schnellen Schrittes aus dem Raum heraus. Beim Zurückblicken in den Raum sah alles ganz normal aus. „Hab ich mir da jetzt Bilder gesehen“, fragte er sich. „Komisch, was ist los mit diese Haus?“ Kurz darauf kam er oben im Wohnzimmer an und schaute verstört zu seiner Frau. „Ah, Sergej, setz dich mal her“, sagte sie zu ihrem Mann. Debora fügte hinzu „Ich hab das Gefühl, hier geht etwas vor in diesem Haus, was nicht koscher ist.“ Sergej nickte nur. Das war für ihn sehr ungewöhnlich. Normalerweise widersprach er seiner Frau immer, wenn sie so etwas äußerte, aber diesmal nicht. Elise sah ihren Vater fast schon besorgt an und fragte: „Dad, was ist los, du siehst so blass aus?“ Doch Sergej ging nicht weiter darauf ein. „Ich bin müde, will schlafen jetzt“, sagte er schließlich. Kaum ausgesprochen ging er auch schon wieder aus dem Raum heraus und lief den Flur hinunter zum hinteren Schlafzimmer. Hier knipste er das Licht an und war angenehm überrascht, wie groß der Raum war. Schon beim Eintritt in diesen spürte er die wohlige Wärme des Kamins, der gleich vorne in die Wand eingelassen war. Es brannten genug Scheite, sodass das Feuer über Nacht den Raum warmhalten würde. Er zog sich aus, legte seinen Pyjama an und kroch sogleich unter die Decke. Das Laken war angewärmt. Der Butler des Hauses, ein Herr Kimmens, hatte warme Steine ins Bett gelegt, damit die Herrschaften nicht frieren, wenn sie ins Bett gingen.
Kimmens war ein Butler vom alten Schlag. Er trug stets einen Frack, verbeugte sich zur Begrüßung und redete die Herrschaften immer mit Sir und Lady an, die Kinder eingeschlossen. Er kümmerte sich um das Essen, das Abräumen, die Post, den Garten, eigentlich um alles. Dazu war er verschlossen wie eine Kirchentruhe. Ja, sie hatten schon großes Glück mit ihm. Mittlerweile zählte er bestimmt schon an die 60 Jahre, wovon weit mehr als 40 Dienstjahre sein mussten. Er war wie eine stille Fee im Hintergrund, immer zur Stelle, wenn er gebraucht wurde und unsichtbar, wenn es die Etikette verlangte.
Sergej lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Im Geiste ging er den nächsten Auftrag durch.
Name: Frank Tabbert
Geschlecht: männlich
Alter: 43 Jahre
Beruf: Sicherheitsmann bei der First National Bank
Familienstand: verheiratet, zwei Kinder (Peter und Justus)
Charakter: Gewohnheitsmensch
Marotten: Blickt ständig auf die Uhr; pingelig, was Termine anging.
Umsetzung des Auftrags:
Tatzeit: 05:00 p.m.
Datum: 2014:03:16
Ziel: Frank Tabbert mit einem Schuss töten (Kopfschuss).
Tatort: direkt vor dem Betreten der Bank
Ausrüstung:
Little Susie (sein Spezialgewehr mit Zielfernrohr/Infrarot und Laserpointer)
Munition: 1 Patrone Hohlmantelgeschoss
Kaliber: 11 mm
Er hatte nie mehr als eine Patrone dabei. Noch nie in seiner Karriere als Profikiller hatte er jemals danebengeschossen. Bekannt war er unter dem Decknamen „Headshot“.
Sergej konnte nicht schlafen und so suchte er mit den Augen den Raum nach einem Fernseher ab, aber Fehlanzeige. Auf dem Nachttisch lag ein Buch. Wie in vielen Hotels Standard, war es auch hier eine Bibel. „Für diesen Quatsch bin ich nicht Sergej geworden. Ich bin Knipser von Beruf. Und ich das gut kann“, dachte er so bei sich. Noch während ihm das durch den Kopf ging, hatte er wieder dieses Gefühl, dass er beobachtet werden würde. Er schaute von Wand zu Wand und schließlich ins Feuer. Alles wirkte normal. Zu seiner Rechten hing ein goldgerahmter Spiegel an der Wand. Darin konnte er eine Ecke des gegenüberstehenden Schrankes sehen. Gerade dieser Schrank an der Wand zu seiner Linken war es, welcher ihm Unbehagen verursachte. Er wirkte so klobig und grobschlächtig. Fast so, als wäre er aus einem Stück gefertigt worden. Sergej winkte schließlich ab, fuhr mit ausgestrecktem Arm hinter sich an die Wand und drückte den Lichtschalter. Augenblicklich wurde der Raum von Dunkelheit geflutet. Einzig das knisternde Kaminfeuer in ungefähr 20 Fuß Entfernung zum Bett tauchte den Raum noch in Lichtfetzen.
Timothy drehte und wälzte sich in der Nacht herum. Obwohl er den Abschluss seines Lebens geschafft hatte mit der Vermietung des Loraine-Anwesens, fühlte er sich nicht wohl. Die Träume erfreuten ihn nicht, im Gegenteil, sie zerrten und rissen an ihm herum. Er musste förmlich strampeln, um der einen oder anderen gefährlichen Situation zu entgehen. Kurz darauf tastete er mit der linken Hand an dem kleinen Nachttisch herum auf der Suche nach dem Lämpchen, was dort stand, aber er fand nichts. Schließlich schob er sich nach vorne zum Bettende, rutschte heraus unter der Bettdecke und stand auf. Im Dunkeln durchschritt er den Raum auf der Suche nach einer Lichtquelle. Da, ein trüber Lichtschein fiel durch das Schlüsselloch. Ihm war zuvor gar nicht aufgefallen, wie einfach die Schlösser hier doch sind. Durch diesen Lichtschein erkannte er endlich, dass er zur falschen Seite des Nachtschränkchens gegriffen hatte.
Ein, zwei, Minuten später drückte er das Licht an und schaute auf die Uhr: 03:43 a. m. „Mein Gott, was für eine grässliche Zeit“, entfuhr es ihm. „Warum nur bin ich wach, ich versteh das gar nicht. Sonst bin ich doch ein Durchschläfer, warum denn heute nicht?“ Der Umstand ließ ihm keine Ruhe. Irgendetwas passte nicht bei dem Vertrag mit dem Russen. Kurz darauf zog er sich an, streifte seinen Mantel über und ging zur Tür, die Treppe hinunter und hinein ins Auto. Er startete den Motor, machte das Licht an und schon fuhr er los. Das Wetter war ungemütlich. Es regnete in Strömen und der Wind heulte. Timothy lenkte das Auto in Richtung Herrenhaus. Die Lichtkegel fraßen sich durch die Dunkelheit und gaben nur sehr wenig Straße dem Sichtfeld seines Blickes frei. Der Wind nahm zu, es wurde stürmisch. Meile um Meile kam er dem Haus näher. Er spürte, wie sich ein Schatten seiner bemächtigte.
Endlich stand er vor dem Tor. Das Haus war von der Straße aus nicht zu erkennen. An der Auffahrt selbst leuchteten ein paar Laternen. Timothy stieg aus, öffnete das Tor, fuhr hindurch und schloss es danach wieder. Langsam glitt sein Wagen die lange Auffahrt zum Haus dahin. Als er es sah, gefror ihm der Blick. Er stoppte seinen Wagen. „Was zur Hölle ist das da oben oberhalb des letzten Fensters?“, fragte er sich. Er konnte es eigentlich genau erkennen, aber sein Verstand spielte ihm einen Streich und so war es verschwommen. Er kniff das linke Auge zu und schaute noch einmal nach oben. Und tatsächlich, da ganz oben auf dem Giebel des Hauses stand eine Frau in einem nassen weißen Kleid. „Um Himmelswillen, Frau Debora!“, rief er hoch. „So tun Sie sich doch nichts an, wir können doch über alles reden!“ Schnell rannte er zum Eingang, sprang herein und durchquerte in Windeseile die untere Etage, spurtete die Treppe hinauf und blieb erst mal stehen. Er prustete, denn der Jüngste war er nicht mehr. Dann rannte er weiter, die nächste Treppe hinauf, den Gang hinunter bis zum Ende, entklappte dort die alte Dachbodentreppe und kletterte wilden Schrittes hinauf. Hier oben herrschte völlige Dunkelheit. Timothy griff in seine Manteltasche und holte sein altes Benzinfeuerzeug hervor, ratschte einmal kurz und schon sah er, wo er war: nicht dort, wo er eigentlich hätte sein müssen. Er stand nicht auf dem Dachboden. „Wie ist das möglich?“, murmelte er in seinen Bart. „Aber ich bin doch definitiv die Leiter zum Boden hochgestiegen. Das kann doch gar nicht sein! Hab ich Halluzinationen? Wie bin ich denn in den Keller gekommen?“ Tatsächlich stand er nämlich im alten Kohlenkeller. In der Ecke lagen aufgetürmt wohl an die 50 Sack Kohlen. Er spürte, wie die Kälte ihn erfasste, ganz so, als würden drei, vier Hände unter seine Kleider greifen und nach der Wärme seines Körpers suchen. Ihn schauderte. Er wollte nur noch raus, weg aus dieser Situation. DA HÖRTE ER ES. Ein tiefes Schnaufen kam von irgendwo hinter ihm. Er wagte es nicht, sich umzudrehen und so blieb er wie angewurzelt stehen. Das Schnaufen kam näher und es schleifte etwas über den Boden, fast so, als würde es einen Klumpfuß haben. Timothy riss die Augen auf. „Bei drei drehst du dich um, egal was da ist, du willst es sehen. Sei stark, los komm“, flüsterte er zu sich selbst. Dann zählte er langsam: „Eins, zwei, drei“ – und zack, drehte er sich um. Aber da war nichts. Nur Dunkelheit, Kälte und die Einsamkeit, die ihn fesselte wie ein dickes Seil. Im Wohnzimmer des Hauses kauerten derweil Debora und Elise dicht aneinander. Irgendetwas stimmte hier überhaupt nicht und das spürten sie beide. Trotz mehrerer Leuchter, des Kaminfeuers und einer kleinen Öllampe war der Raum nahezu dunkel. Beide fühlten sich eingeengt. Die Wände veränderten sich, die Luft wurde stickig, und da geschah es: Eine Stimme ertönte und sprach ganz tief:
„GEHT FREMDE, NIEMAND WILL EUCH HIER! BLEIBT UND ICH WERDE EUCH TÖTEN!“
Dann gewann der Raum wieder an Helligkeit. Aber das bedrückende Gefühl war nach wie vor da. Beide Frauen spannten ihren Bauch an und hielten wieder und wieder den Atem an. Doch es half nichts. Elise sah es zuerst. Die Decke kam zu ihnen herunter. Der Kronleuchter, der inmitten des Raumes hing, war fast zum Greifen nah. Debora schrie laut auf: „AAARRRGGGHHH!!!, lass uns in Ruhe, du Geist!“ Da sagte die Stimme nur:
„GEIST – ICH BIN KEIN GEIST. ICH DULDE KEINE MÖRDER IN MEINEN WÄNDEN!“
Die beiden rannten sofort aus dem Raum. Anschließend den Flur herunter zum Schlafzimmer. Hier hatte es sich Sergej gemütlich gemacht. Jedenfalls soweit die beiden wussten. Ganz so war dem allerdings nicht mehr, als sie den Raum betraten. Sergej hing aufgespießt am Kronleuchter in 15 Fuß Höhe. Sein Kopf war merkwürdig verdreht und die Arme und Beine wackelten, fast so, als wäre er noch am Leben. Es sah schrecklich aus. Die Frauen kreischten nervenzerreißend: »AAARRRGGGHHH, NNNEEEIIINNN, AAAAARRRRRGGGGGHHHHH!!!!!« Als sie im Schlafzimmer standen, meinten sie im Kamin eine Fratze zu erkennen. Plötzlich ertönte ein höhnisches Gelächter: „HAHAHAHAHA, ihr kommt hier nie mehr lebend raus. Ich finde euch!“ Kaum hatten sie das gehört, rannten sie auch schon los, den Flur zurück in Richtung Treppe. Sie wollten nur noch raus aus dem Haus. An der Treppe angekommen, liefen sie wie der Teufel die Stufen hinunter. Im Foyer stand Elise schon an der Tür, doch diese war verschlossen. Da sagte Elise: „Das ist wie in einem Horrorfilm, dass die Tür zu ist.“ – „Und was muss man als Nächstes machen?“, fragte ihre Mutter. „Jetzt kommt als Nächstes der Tod zu uns, hierher.“ Ihre Mutter riss die Augen voller Panik auf und starrte sie an, als könnte sie mit ihrem Blick Menschen töten. Und tatsächlich, irgendein schwarzer Schatten kam Stufe für Stufe die Treppe herunter. Manchmal sah er aus wie ein Lebewesen, dann aber wieder wie ein gequältes Tier, merkwürdig verdreht, mit fünf Armen und drei Augen. Es bot einen widerlichen Anblick. Die beiden drückten sich die Hände und begannen zu beten. „HILFE“, rief Debora. „WIR SIND HIER, HILFE! KIMMENS, WO SIND SIE?“ Doch von Kimmens fehlte jede Spur. Das Wesen erreichte schließlich das Foyer. Jetzt war es direkt zu erkennen. Es war Sergej, dem allerdings der Kopf abgebrochen auf dem Rücken hing wie ein Rucksack. Der kopflose Körper zeigte mit dem rechten ausgestreckten Arm auf sie und dann sagte dieses Ding zu ihnen:
„IHR HABT MICH GETÖTET, DAFÜR WERDET IHR STERBEN!!!“
Elise rannte los, die andere Treppe empor in den ersten Stock. Das Ding, was da stand, vor Debora verharrte, blickte sie augenlos an. Dann packten die Arme sie und zogen an ihr. Debora wich die Farbe aus dem Gesicht. Sie wurde ohnmächtig und sank zu Boden. Oben kreischte plötzlich Elise. „IIIIIiiiiiii!!!i!“
Eine Seitentür hinter dem großen Kamin im Foyer schwang krachend auf. Heraus kam Timothy. Er griff sich einen Schürhaken und lief zu Debora herüber. Diese hing nur noch wie ein Sack in den Armen dieser Kreatur. Timothy holte aus und traf. „Ja, der hat gesessen!“, triumphierte er. Debora fiel augenblicklich zu Boden. Kurz darauf sprang er die Treppe hinauf in den ersten Stock. Hier irgendwoher kamen die Schreie, die er vernahm. Und tatsächlich, als er in das Wohnzimmer schaute, hing dort verfangen in der Gardine Elise. Diese kreischte wie wild und mit den Armen um sich schlagend. Timothy sagte nur: „Es wird alles wieder gut.“ Hinter ihm näherte sich eine monströse Kreatur. Sie sah aus wie ein Mensch mit acht Beinen, eine menschliche Spinne fast. Da musste er sich schütteln und übergab sich. Den Schürhaken im Anschlag holte er aus und der Kopf platzte augenblicklich weg. Innerlich dachte er: „Ich bin richtig gut. Das jahrelange Training hat doch was gebracht.“ Elise krachte zu Boden, denn ihre Hände hielten sie nicht länger.
Kurz darauf stürzte Timothy in den Schlafraum. Da hing wieder aufgespießt, Sergej am Kronleuchter. Was er sah: Sergej war noch am Leben. Fies verdreht, ja, aber seine Augen bewegten sich noch und registrierten jede Bewegung, die unter ihm stattfand. Timothy drückte auf den Schalter an der Wand. Dieser war nicht für das Licht an der Decke installiert, sondern mit ihm konnte man den Kronleuchter herunterholen. Dank einer Kette samt Gewinde sank der Kronleuchter langsam zum Boden hernieder. „Sie leben ja noch, welch ein Glück! Ich dachte schon, ich bin der Einzige, der überlebt hat“, sagte Timothy. Sergej schrie schmerzverzerrt auf: „Was, wieso, wieso sind denn alle tot? Das kann doch nicht sein.“ – „Doch kann es“, sagte Timothy und steckte Sergej seinen Schürhaken direkt in das linke Auge, drehte den Stab einmal im Kopf um und zog ihn wieder heraus. „Denn ich habe sie getötet.“ Dann lachte er dämonisch. Sergej war auf der Stelle tot.
Am nächsten Morgen ging die Sonne auf. Das schlechte Wetter samt Sturm war vorübergezogen. Timothy saß im Foyer und spielte mit Kimmens Schach. Dieser fragte ihn: „Möchten Sie noch eine Limonade?“ – „Ja, gern“, antwortete Timothy. Wenige Minuten später kehrte Kimmens mit der Orangenlimonade aus der Küche zurück. „Sagen Sie mal, was haben Sie eigentlich mit dem jungen Roger gemacht? Denn der kam seiner Familie ja nicht zur Hilfe.“ – „Den hab ich schon auf dem Weg zum Haus abgepasst. Er war gerade im Begriff, um die Biegung zu kommen und beim Haus vorzufahren. Das konnte ich ja nicht zulassen. Ich habe ihm also vorgetäuscht, ich hätte eine Reifenpanne. Hilfsbereit, wie er war, bot er mir direkt seine Dienste an. Als er mit dem Gesicht unter der Achse lag, sprang ich kurzerhand auf das Auto. Der Wagenheber gab nach und knack – weg war das Gesicht.“ – „Ganze Arbeit haben Sie da mal wieder geleistet.“ – „Ja, ich bin auch ein wenig stolz auf mich«, entgegnete ihm Timothy.“ – „Das können Sie auch sein“, entgegnete Kimmens. „Sagen Sie, wann kommen denn die anderen Interessenten?“ – „Erst in einem Monat. Sie wissen doch, immer zum 1. eines Monats wird vermietet“, entgegnete Timothy. Er war ein Meister darin, Leute zu täuschen. Damit es nicht auffiel, was er tat, stellte er sich selbst immer als den ahnungslosen, ängstlichen Makler dar. Für seine Frau ist er der duckmäuserische Ehemann, der nichts auf die Reihe bekommt. Was sie nicht weiß: Seinen Chef hatte er bereits vor zwei Jahren getötet, und zwar genau an jenem Tag, als er ihm das Loraine-Anwesen zeigte. Er durchbohrte ihn mit dem Schild:
„ZU VERKAUFEN – DAS LORAINE-HERRENHAUS“
Anschließend spießte er seinen Kopf mit dem Vogelhäuschen auf und pflanzte es wieder in den Garten. „Du bist so gut!“, sagte er zu sich selbst, „hahahahahaaaaa…!“