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Von dunkler Macht

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Schluchzend stand Betty vor seiner Tür und klingelte. Nach ein, zwei Minuten des verzweifelten Klingelns entstieg Arthur aus seinem Bett. Auf dem Weg zur Tür versuchte er die Dunkelheit abzuschütteln, was ihm jedoch nicht gelang. Als er schließlich den Lichtschalter gedrückt hatte, stellte er mit Entsetzen fest, dass es erst halb drei in der Früh war. „Gott, welcher Hurensohn klingelt denn um diese Zeit an meiner Tür“, dachte Arthur. Dank eines flüchtigen Blickes durch den Türspion machte er Betty aus, seine Arbeitskollegin. Er öffnete die Tür, aber noch mit Vorhängekette. Sie wollte sogleich eintreten, wurde aber von eben dieser Kette daran gehindert. »Lass mich rein«, rief sie. »Ich will weg von diesem Flur. Arthur wirkte verstört. „Was mochte sie nur wieder getrieben haben in der Nacht“, ging es ihm durch den Kopf. Schließlich entsperrrte er die Tür und ließ sie eintreten.

Am ganzen Leib zitternd marschierte sie schnurstracks an ihm vorbei und verkroch sich augenblicklich auf einem seiner Sessel. Hier warf sie sich eine Decke über und lugte darunter hervor. „Sag mal, verfolgt dich wer oder was ist das für eine Maskerade, die du hier abziehst?“, fragte er Betty. Doch sie schwieg. Es dauerte fast zwei Stunden, bis er sie dazu gebracht hatte, ihm zu erzählen, warum sie so verstört wirkte. „Arthur“, sagte sie, „hast du einen Cognac für mich oder irgendwas Stärkeres?“ Arthur ging an seinen Sekretär, klappte ihn auf und holte daraus eine Flasche Gin hervor. Er goss zwei Finger breit in ein Glas und gab es ihr. Ohne es zu genießen, schüttete sie den Schnaps herunter. So ging er erneut zum Sekretär und holte die Flasche. Betty schenkte sich nach; diesmal allerdings randvoll. Wieder trank sie alles auf einen Schluck leer und starrte ihn dann mit reglosen Augen an. Schließlich fragte sie ihn: „Wie lange arbeiten wir jetzt schon zusammen beim New York Journal?“ Arthur fasste sich an den Kopf, kratzte sich etwas und sagte schließlich: „Dass müssen so an die elf Jahre sein.“ „Bist du in dieser Zeit jemals auf einer anderen Etage gewesen als der von unserem Büro und dem Restaurant im 18. Stock?«, fragte sie ihn. „Nein, eigentlich nicht. Was sollte ich auch woanders? Warum fragst du mich das?“ Betty schaute ihm tief in die Augen und berichtete darüber, was sie gesehen hatte.

Durch einen technischen Defekt am Fahrstuhl fuhr dieser anstatt nach oben nach unten. Und so erreichte Betty zum ersten Mal, seit sie in dem Bürokomplex arbeitete, das 4. Untergeschoss. So recht verstanden hatte sie es nicht, denn laut Schaltern gab es nur zwei Etagen unterirdisch und diese waren für die Tiefgarage belegt. Aber nun hielt der Fahrstuhl in Etage -4. Jedenfalls stand das auf der Anzeige oberhalb der Tür. Unbehagen ergriff sie. „Das war doch gar nicht möglich, dass der Fahrstuhl tiefer fuhr, als es Stockwerke gab“, dachte sie. „Was soll ich jetzt nur tun: aussteigen oder lieber hier verweilen?“ Sie entschloss sich für das Aussteigen. Der Flur wirkte wie ein langer breiter Gang, gesäumt von einigen Lampen, welche in den Boden eingelassen waren. Türen waren bis auf die Drei am Ende des Ganges keine auszumachen. Und so ging sie weiter. Die Wände waren kalt wie in einem Eisschrank. Ihr fröstelte und so versuchte sie, diese nicht ein zweites Mal zu berühren. In ihrer Handtasche vibrierte plötzlich ihr Handy. Sie holte es heraus, schaute auf das Display und seufzte nur: „Ach, wieder Mark. Mist, was war heute bloß für ein Tag?“ Ach herrje, sie hatte das Date mit ihm vergessen! „Wie konnte das nur geschehen? Diese Arbeit, die wird mich irgendwann noch auffressen. Nun ist es eh zu spät“, dachte sie und so steckte sie ihr Handy wieder ein.

Betty staunte, als sie den Flur so betrachtete. Er wirkte regelrecht sauber und das, obwohl sie irgendwo in den Versorgungssystemen herumschlich. „Na endlich“, dachte sie, „eine Tür. Der Flur ist wirklich lang.“ Er maß gute 23 Meter. Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter, öffnete die Tür und das Herz blieb ihr stehen. In dem Raum liefen eifrig ein paar Männer hin und her. Was genau sie da taten, wollte Betty gar nicht wissen. Es ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. „Oh mein Gott, warum musste ich Esel auch unbedingt wissen, wohin dieser Flur führt? Warum bin ich nicht einfach wieder nach oben gefahren? Dann hätte ich das alles gar nicht gesehen. Was soll ich jetzt nur machen?“ dachte sie. Doch niemand bemerkte ihre Anwesenheit. Wieder und wieder holten die Männer Blutbeutel aus dem Nachbarraum, schnitten sie auf und gossen alles in den im Boden eingelassenen Rost. „Das ergibt doch gar keinen Sinn“, dachte sie. „Warum sollte jemand das gespendete Blut weggießen? War es gar verseucht und sie war per Zufall einem Skandal auf die Schliche gekommen? Sie mochte sich die Konsequenzen gar nicht erst ausmalen. Nur, weil sie so unvorsichtig war und sehen wollte, was hinter der Tür stattfand. Langsam ging sie wieder zur Tür, öffnete diese und trat erneut in den Flur. „Puh!“, seufzte sie tief. „Da hab ich ja gerade noch mal die Kurve gekriegt.“ Anschließend, lief sie so schnell sie konnte, zum Fahrstuhl. Als sie dort wartete, sah sie über die Anzeigentafel, dass der Fahrstuhl zu ihr nach unten kam. Sie wollte nur noch weg von diesem grausamen Ort. Schon im nächsten Moment öffneten sich die Türen des Fahrstuhls und sie sprang sogleich hinein. Dann drückte sie „E“ für Erdgeschoss und betete, dass der Fahrstuhl sich beeilen möge. Als die Türen zuglitten, hörte sie zwei Männer reden. Leider klang nun alles dumpf, aber sie vernahm noch, dass das Ganze ein Experiment war. Einer von beiden sagte schließlich: „Dass die Monique aus der Telefonzentrale verschwunden ist, hat noch keiner gemerkt. Also können wir an unserem Plan festhalten.“ – „Monique ist gar nicht zu ihrer Mutter nach Paris geflogen?“ dachte sie laut. „Das ist alles nur ein Schwindel? Aber wo ist sie dann? Die müssen sie haben, aber wer sind die?“ Eigentlich wollte sie das gar nicht wissen. Je mehr Distanz sie zwischen sich und diesen dunklen Keller bringen konnte, desto besser bekam sie Luft. Endlich war es so weit und sie befand sich im Entree des Gebäudes. „Hector, der Nachtwächter, begrüßte sie freudig gestimmt mit: „Hallo Betty, machst du wieder einmal mit mir die Nachtschicht?“ Sie blickte nur zu Boden und nickte verstört. „Raus, ich will raus aus diesem Irrenhaus. Raus und weit weg“, dachte sie. Aber wo sollte sie hingehen und wer sollte ihr diese Geschichte glauben? Die Antwort darauf gefiel ihr nicht. Die Polizei würde sie für verrückt erklären und Molly, ihre Chefin, würde sie zwangsweise in den Urlaub schicken. Das konnte sie im Moment gar nicht gebrauchen, denn sie hob die noch übrigen Urlaubstage für das Weihnachtsfest auf. Was sollte, nein, was konnte sie tun?

„Ich kann zu Arthur gehen“, murmelte sie laut vor sich hin. Immerhin teilen wir seit über zehn Jahren schon das Büro miteinander. „Er wird mir helfen, hoffe ich. Aber wird er mir auch glauben?“ Diese Frage stand im Raum und beantworten konnte sie nur er selbst. „Wo wohnte er gleich noch? Ah, hier steht‘s in meinem Terminkalender: 42ste Straße. Gerade mal eine Querstraße von der Arbeit entfernt.“ Nun hatte sie genug getrunken und begann, Arthur alles zu erzählen. Sie schmückte nichts aus, wie es sonst ihre Art war, und dennoch wirkte es wie Science-Fiction. Als sie dies erledigt hatte, blickte Arthur sie mit leeren Augen an und meinte nur: „Gib mir mal die Flasche. Ich könnte jetzt auch einen vertragen.“ Sie saßen noch lange so da und schauten sich wortlos an. Ein wenig später stand Arthur auf, blickte zu ihr herunter und sagte schließlich: „Wir müssen mehr darüber herausfinden. Wenn wir damit an die Öffentlichkeit gehen wollen, dann sollten wir schon wissen, über was wir hier reden.“ Er hatte vermutlich recht, dennoch war Betty nicht ganz wohl bei der Sache. Schließlich würde das heißen, sie müssten nochmal hinunter in den Keller. Aber diesmal wäre sie nicht allein. Arthur glaubte ihr die Geschichte, wenn er zu Anfang auch Mühe damit hatte. Aber das Ganze wirkte so real, wie Betty es ihm erklärte, dass da was dran sein musste. Sowas saugte man sich nicht aus den Fingern und welchen Grund sollte sie dafür auch haben. „Betty“, fing er ein wenig zaghaft an. „Wie hast du morgen Dienst“, fragte er sie schließlich. „Ganz normal wie immer, von 08:00 – 16:00 Uhr“, antwortete sie ihm. „Lass uns mal um 16:30 Uhr draußen auf dem Parkplatz treffen. Da bereden wir dann, was wir als Nächstes machen werden, okay?“ Sie willigte ein. Mit einem Verbündeten an ihrer Seite wiegte das Ganze nicht mehr so schwer, als wenn sie alleine wäre. „Willst du heute Nacht hier schlafen?“, fragte er Betty. Diese nickte mit gesenktem Kopf und sagte: „Aber nur, wenn es dir keine Umstände macht.“ „Ach nein“, sagte er darauf und ging sogleich ins Schlafzimmer und holte Bettzeug für die Couch. „Du schläfst in meinem Bett und ich hier im Wohnzimmer, okay“, entschied er. Betty nickte abermals und freute sich innerlich. Sie fühlte sich in seiner Nähe schon immer geborgen. Obwohl er ein paar Jahre älter war, hatte sie viel für ihn übrig, was er allerdings nie wirklich bemerkt hatte.

Gerade einmal zwei Stunden später wachte Betty schweißgebadet auf. Sie hatte einen Albtraum. Sie träumte von diesem Kellerraum und all dem Blut, was dort in den Abfluss gegossen wurde und dass sie jemand bemerkt hatte. So rannte sie um ihr Leben, wurde aber letztendlich gefasst und in eben diesen Raum gebracht. Er stank bestialisch nach Blut. Sie bekam das Würgen, aber durfte sich nicht übergeben. Eine Stimme hinter ihr verbot das. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen und so gehorchte sie.

„Wo bin ich?“, rief sie laut. Da stand auch schon Arthur an ihrem Bett und beruhigte sie. „Du hast geträumt. Hast von irgendwas geredet, was ich aber leider nicht verstanden habe“, sagte er zu ihr. Betty bat ihn, ihr ein Glas Wasser zu holen. Sogleich sprang er auf, eilte in die Küche und kehrte damit zurück. „Arthur, mir lässt das, was ich gesehen habe, keine Ruhe. Würdest du mich für verrückt halten, wenn ich dir vorschlagen würde, dass wir jetzt dorthin gehen und diesen Raum aufsuchen?“ Arthur schaute sie pikiert an und sagte nur trocken: „Warum nicht zur Geisterstunde heute Abend. Wäre das nicht stilechter, Betty?“ Sie ärgerte sich über seine Aussage und drehte sich von ihm weg. „Du nimmst mich gar nicht ernst“, sagte sie schließlich. „Glaubst du, ich hab mir das ausgedacht? Ich wünschte, es wäre so, aber nein. Ich habe das wirklich gesehen. Und du musst zugeben, da stinkt was gewaltig.“ Arthur gab ihr ohne Umschweife Recht und sagte nur: „Rock ›n ‹Roll Baby!“

Gegen fünf Uhr saßen sie gemeinsam in der Küche und schmiedeten einen Plan für ihre Unternehmung. Das Hineingelangen in das Gebäude stellte keine Herausforderung dar. Hector kannten sie beide gut. Der würde keine Fragen stellen, denn schließlich kam es immer mal wieder vor, dass sie auch in der Nacht tätig waren. Viel fraglicher war da schon der Umstand mit dem, was sie dort unten erwarten würde. Arthur ging kurz raus und kam zurück mit einem Revolver, welchen er sich ganz lässig hinter seinen Ledergürtel gesteckt hatte. Betty sprang auf und sagte nur: „Mann, Arthur, wir wollen da keinen töten! Wir sind Reporter, keine Helden!“ Doch Arthur ließ sich nicht beirren. Schließlich gab die Waffe auch ein Stück weit Sicherheit. Er nahm sie mit. Sie packten sich noch zwei Sandwiches ein, zogen sich ihre Jacken an und schon ging‘s los. Da Arthur nicht weit entfernt wohnte, standen sie bereits zehn Minuten später in Sichtweite zum Gebäude. Sie hakten noch einmal kurz die Checkliste ab, bestätigten alles mit „JA“ und brachen auf ins Abenteuer.

Hektor saß am Empfang und begrüßte sie freundlich mit: „Schönen guten Abend, Arthur, schönen guten Abend, Betty. Was treibt euch denn schon zu so früher Stunde an den Arbeitsplatz?“ Arthur entgegnete ihm nur wortkarg: „Neue Story!“ und winkte ab. Mehr brauchte Hector nicht. Die beiden gingen in den Fahrstuhl und wollten gerade nach unten fahren, als sie sahen, dass es nur zwei Knöpfe für Untergeschosse gab. Tiefgarage 1 und Tiefgarage 2. „Wie bist du doch gleich in diese ominöse Etage 4 gefahren, Betty?“, fragte Arthur sie etwas spöttisch. „Ich wollte nach oben und der Fahrstuhl fuhr entgegengesetzt.“ – „Vielleicht ist ja genau dass das Rätsel. Wir drücken mal die 4 und schauen, was passiert.“ Kaum, dass er dies getätigt hatte, fuhr der Fahrstuhl tatsächlich in den Keller. Es pingte bei Erreichen des 4. Untergeschosses. Sie stiegen aus, liefen den Flur entlang zu der besagten Tür, öffneten diese und sahen in einen tipptop gereinigten Raum voller Kartons mit Druckerpapier, Tonern, Klopapier und vielem weiteren Verbrauchsmaterial. Arthur fühlte sich etwas verarscht. „Was zur Hölle hast du hier gesehen, Betty? Beschreib das doch bitte noch mal ganz langsam“, sagte Arthur. Betty hob die Hände, zuckte mit den Schultern und war sprachlos. „Wohin sind all die Spuren“, fragte sie sich in Gedanken. „Jemand musste aufgeräumt haben, damit es keiner entdecken konnte“, durchfuhr es sie. Betty überlegte, sie hatte einmal in einer Krimiserie gesehen, dass Blut noch Jahre später nachweisbar war. Aber dafür brauchten sie Schwarzlicht und das hatten sie nicht dabei. Während die beiden noch darüber nachdachten, wie sie hier Beweise finden konnten, knarrte von gegenüber das Scharnier der Tür. Die beiden schauten sich entsetzt an und flüsterten gleichzeitig: „Verstecken!“ Arthur kroch unter eine Bahre, Betty kletterte in den Schrank mit den Proben. In dem Bruchteil von einer Sekunde schaltete Betty noch das Licht aus. Der Raum lag still, als sich die Tür öffnete. Herein kam ein Mann in blauem OP-Kittel. Er war über und über mit Blut besudelt, jedenfalls sah es wie Blut aus, welches Arthur aus seinem Augenwinkel dort erblickte. In seinem Kopf lief ein Film ab. „Sie hatte also doch recht gehabt mit ihrer Story. Aber was zur Hölle läuft hier ab und woher ist das ganze Blut?“ fragte sich Arthur.

Der Mann im OP-Kittel ging ans Waschbecken hinten in der Ecke des Raumes und wusch sich die Hände sauber. Da schwang die Tür erneut auf und herein kam ein weiterer Mann. „Hey, Pete, was machst du denn hier? Ich dachte, du hast heute frei?“ – „Nein, leider nicht, Jack. Der Boss ist durstig und so muss ich mithelfen, damit er seinen Durst stillen kann.“ „Gute Wahl“, entgegnete ihm Jack. „Mich wundert ja, dass den Mitarbeitern aus den Büros noch gar nicht aufgefallen ist, dass es gar keine Putzfrauen mehr gibt“, sagte Pete. „Ach die, die merken doch eh nichts. Nicht einer von denen hat sich bis heute darüber gewundert, dass so viele Unfälle im Haus passieren“, erwiderte ihm Jack. „Stimmt, da hast du recht. Hier mal eine Fliese, die hochsteht, und dort eine Tür, die sich wie von Geisterhand schließt. Menschen, pah, die dümmsten Geschöpfe der Welt!“

Arthur, der alles mit angehört hatte, bekam Schweißausbrüche. „Was sollte das heißen: Menschen, die dümmsten Geschöpfe der Welt“, fragte er sich. Immerhin waren sie selbst ja auch welche. Er wurde unruhig und die Neugier übermannte ihn. So reckte er seinen Hals, um besser sehen zu können, als ihn plötzlich das Gefühl überkam, jemand beobachtet ihn. Sein Herz rutschte ihm in die Hose und er wurde kreidebleich. Der größere der beiden, die da hantierten, ergriff Arthurs Arm und zerrte ihn ins Licht. „Na sieh mal einer an, wen haben wir denn da?“, fragte Jack. Darauf sagte der andere: „Endlich gibt es wieder frisches Fleisch. Lass ihn uns mitnehmen und aufhängen für später.“ Arthur hatte schreckliche Angst. Der Schweiß lief ihm in Strömen über den Körper, seine Hände zitterten und er wollte nur noch weg und dieser grauenvollen Situation entfliehen. Betty konnte durch einen Luftschlitz in der Schranktür alles mit ansehen, wagte es jedoch nicht, sich zu bewegen. So war es ihr möglich, die beiden Männer zu beobachten, was sie dort mit Arthur trieben. Noch wirkte alles normal.

Die Wände durchfuhr ein grauenvolles tiefes Stöhnen. Betty hätte schwören können, dass es klang wie ein Tier. Sehen konnte sie nichts, bis sie spürte, wie sich die Wand hinter dem Schrank in den Raum drückte. Sie erschrak und wollte schreien. Da biss sie sich mit aller Kraft in die Hand. Durch diesen Schmerz verbot sie quasi ihrem Körper, laut zu werden. Die Wände verformten sich weiter. Nun konnte sie es auch an der gegenüberliegenden Wand sehen. Es wirkte fast so, als wenn irgendetwas durch die Wände kroch. Aber wie sollte das möglich sein? Durch festes Mauerwerk kann man sich nichts bewegen. Dennoch, ihre Augen spielten ihr keinen Streich, das war ihr bewusst. Es wirkte grauenvoll. Das Licht begann zu flackern, als plötzlich an mehreren Stellen die Wand aufbrach und Blut herauslief. Betty biss sich noch stärker in die Hand, schloss die Augen und versuchte zu verdrängen, dass das gerade passierte. Sie fühlte sich, als wäre sie in einem Horrorfilm gefangen. „Oh Gott, wie sollte es Arthur nur gehen?“, dachte sie. „Schließlich ist er da bei den beiden Männern und muss alles hautnah miterleben.“ Sie fasste einen Plan. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, wie sie den beiden Männern entfliehen konnten. Schließlich wussten diese nicht, dass sie im Schrank stand und alles mit anhörte.

Die Wand brach nun gänzlich auf und hervor kam ein schwarzer, dicker, hässlicher Wurm mit riesigen Zähnen. Er kroch in den Raum hinein und biss Arthur den Oberkörper bis zum Rumpf ab. Betty schossen Tränen in die Augen und sie wimmerte leise in sich hinein. „Wie kann das nur wahr sein? So etwas gibt es nicht, Würmer in der Wand, die sich durch das Mauerwerk bewegen und Menschen fressen. Das sind Hirngespinste.“ Sie musste träumen. Das durfte einfach nicht real sein. Bettys Blase gab nach und so urinierte sie in den Schrank. Sie zitterte sehr, biss sich in den Arm, bis es blutete, und betete zu Gott: „Bitte, bitte, bitte, lass mich diesen Wahnsinn überleben!“ Als sie ihre Augen, welche sie kurzfristig geschlossen hatte, weil sie es nicht mehr ertragen konnte, das mit anzusehen, wieder öffnete, war der Wurm aus dem Raum entschwunden. Alles wirkte wieder sauber, die Männer waren fort. Betty bekreuzigte sich, öffnete den Schrank und trat ins Licht. Arthur war weg. Betty ging langsam in Richtung Tür, als sie plötzlich stürzte. Sie schaute an sich herunter, um zu sehen, worüber sie gefallen war und dann sah sie die Beinstümpfe von Arthur auf dem Boden liegen. Da schrie sie auf: „AAAARRRRGGGGHHHH!!!!“, und begann zu laufen. Sie lief den Flur hinunter zum Fahrstuhl und drückte hier wie wild die Taste zum Öffnen. Aus ihren Augenwinkeln sah sie, wie etwas den Flur hochkam. Es folgte ihr etwas, jemand, sie konnte es nicht erkennen. Ihre Augen tränten und sie wendete sich ab. Die Tür des Fahrstuhls glitt auf und sie sprang hinein. Beim Schließen derselben sah sie, wie eine grauenvolle Fratze auf sie zukroch. Ihre langen fleischbehangenen Arme versuchten noch in den Schlitz zwischen die Türen zu greifen, aber da setzte sich die Kabine schon in Bewegung. Das Gewürm wurde abgeschnitten, als der Fahrstuhl das Stockwerk passierte. Betty legte ihr Gesicht in die Hände und schüttelte sich. Sie konnte einfach nicht fassen, was da gerade passiert war. Arbeitete sie in der Hölle und wusste es nur nicht? Ihr schossen Millionen von Gedanken durch den Kopf. Nie wieder wollte sie auch nur einen Fuß in dieses Gebäude setzen. Als der Fahrstuhl im Erdgeschoss hielt, wurde sie schon von Hector empfangen.

„Hallo Betty“, sagte er freundlich. „Wie geht es Ihnen?“, fragte er. Betty war immer noch kreidebleich mit schmerzverzerrtem Gesicht. Warum war Hector nur so ruhig, gehörte er auch dazu, was war hier los, wem konnte sie noch trauen, gab es hier überhaupt Menschen im Gebäude oder arbeitete sie für den Satan? Betty rannte im Entree herum, taumelte, schrie und taumelte wieder. Ihr Handy, ja, das hatte sie noch. Sie könnte die Polizei rufen, und genau das tat sie und brach bewusstlos zusammen.

Als die ersten Sonnenstrahlen sie weckten, blinzelte Betty noch etwas benommen und fragte sich sogleich, wo sie war. Das Erste, was sie tat: Sie inspizierte den Raum nach möglichen Waffen. Vor ihr entdeckte sie ein Brotmesser. Das krallte sie in ihre Hände, sprang aus dem Bett und stach dem Pfleger sogleich das Messer in den Augapfel. „Du Bestie wirst mich niemals kriegen!“, schrie sie lauthals heraus. Der Pfleger spuckte Blut und krepierte vor ihren Augen. Betty zog das Messer wieder heraus und stach noch dreißig Mal in sein Gesicht ein. „Aaaarrrrgggghhhh!!!, ich töte dich, du Wurm. Mich bekommst du nicht, aaaarrrrgggghhhh!!!!“ Anschließend lief sie blutverschmiert den Gang hinunter. Der Flur maß 23 Meter und hatte am Ende drei Türen. Sie suchte Arthur, konnte ihn jedoch nicht finden. Pfleger rannten auf sie zu. Betty jedoch sah nur zwei Männer mit ekligen Fratzen anstelle von Gesichtern. Und so sprang sie ihnen entgegen und fuchtelte wild mit dem Messer vor ihren Augen. Eine Schwester injizierte ihr Valium, intravenös, und kurze Zeit später kippte sie ins Koma.

Tief im Delirium bekam nur noch ihr Unterbewusstsein Fetzen von den Gesprächen um sie herum mit. Da fielen die Worte: „Sie hatte wieder einen Rückfall. Sven ist tot, sie hat ihn niedergestochen mit den Worten „Du bekommst mich nicht, du Wurm.“ Der Doktor der Nervenheilanstalt protokollierte: „Patientin Betty Mindhurst, 31 Jahre alt, von Beruf ehemals Reporterin beim New Yorker Journal, leidet an einer schweren Psychose. So bildet sie sich ein, ein großer schwarzer Wurm käme aus der Wand und würde ihren Arbeitskollegen bis auf den Beckenknochen abfressen. Die Pfleger, die ihr dann zu Hilfe eilen, identifiziert sie als Pete und Jack, zwei widerliche Helfer des Satans, und attackiert diese auch sofort.“

Tag: 17.11.2012

Patientin Betty Mindhurst musste wieder fixiert werden. Sie hatte sich in der Nacht das Gesicht von ihrem Schädel gekratzt und mit Blut auf den Boden geschrieben: „Du Wurm, mich bekommst du nicht!“

Das Trauma wurde ausgelöst durch den tragischen Tod ihres ehemaligen Arbeitskollegen Arthur Blacksmith. Wie es zu der teuflischen Verkettung mit dem Wurm in der Wand kam, ist bis heute rätselhaft. Ihre maßlose Fantasie sucht ihresgleichen. Denn sie kann dieses Geschöpf auf den Zentimeter genau beschreiben.

Beschäftige mich seit drei Jahren mit Betty Mindhurst. Meine Prognose lautet: „Lebenslanger Aufenthalt, da sie gemeingefährlich, auch sich selbst gegenüber, ist.“

… Tagebuch von Betty Mindhurst…

Nacht ohne Wiederkehr - Band 1

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