Читать книгу Sturm über Bluewater - Stig Ericson - Страница 6
Das Unwetter
ОглавлениеDer Wind pfiff über den Dachfirst. Er heulte im Giebel und zischte durch die Ritzen. Die dünnen Bretterwände knarrten.
Aber hinter all dem war noch ein anderes Geräusch, dumpfer, gewaltiger, unglücksverheißend.
Vielleicht war ich davon aufgewacht, daß ich fror, daß das Kissen naß und kalt war. Als ich mich im Bett aufsetzte, sah ich zuerst, daß die Kammer ungewöhnlich hell war, und es mag eine Weile gedauert haben, bis ich verstand, daß das Helle feiner Schnee war, den der Wind durch die Ritzen geblasen hatte. Fast überall lag Schnee. Auf den Decken, den Kleidern, auf dem Boden.
Und es war kalt. Ich fror bis tief, tief nach innen.
Die anderen schliefen noch. Ich rüttelte Daniel wach.
„Sieh zu, daß die Kleinen besser zugedeckt werden. Nimm unsere Decken. Und dann komm runter.“
Ich zog mich an und kletterte die Treppe hinunter.
Die Öllampe brannte. Auch hier unten lag Schnee. Aber im Herd brannte ein Feuer.
Mutter stand bei der Tür, sie war ganz angezogen. Sie hatte sich ihren alten roten Schal um den Kopf gewickelt, deshalb hörte sie mich erst, als ich ganz nah bei ihr war. Ihr Mund war ein schmaler Strich. Sie sah alt aus. Verbraucht.
„Gut“, sagte sie. „Zieh dir noch was an, vergiß den Kopf nicht.“
Während ich mich anzog, band sie sich eine Rettungsleine um den Bauch. Vater hatte sie verwendet, als er vor vielen Jahren den Brunnen grub. Sie war mindestens 18 Meter lang. Mutter reichte mir das Seilende, und ich fragte mich plötzlich, warum sie mich nicht geweckt hatte. Hatte sie gehört, daß ich wach war? Es schien fast so, als ob sie dagestanden und auf mich gewartet hätte.
Ich fragte sie, ob wir zu den Tieren gehen würden, aber sie schüttelte den Kopf.
„Brennmaterial“, sagte sie. „Wir brauchen dringend Brennmaterial.“ Ich hatte schon Blizzards, heftige Schneestürme erlebt, und ich wußte, was wir machen würden. Bevor ich mir das Seil umband, holte ich noch Axt und Spaten. Im Winter hatten wir alles Werkzeug im Haus.
Mutter nahm den Spaten und wandte sich zur Tür.
„Die Säcke noch ...“
Jetzt erst fiel mir die Bibel wieder ein, die unter den Säcken bei der Tür lag; ich war ja gerade erst aufgewacht. Aber ich war wach genug um zu begreifen, daß ich sie nicht gleichzeitig versteckt halten und in ihr lesen konnte. Ich war ja nie alleine, und Mutter sah und merkte fast alles.
Ich müßte es ihr erzählen ...
Aber dazu war jetzt keine Zeit. Später vielleicht – als Überraschung. Ich nahm die beiden Jutesäcke hoch, und da, ganz in der Ecke, lag das schwarze Buch. Mutter sah es nicht.
Mit vereinten Kräften gelang es uns, die Tür aufzudrücken. Wenn sie nicht im Windschatten gelegen hätte, wäre sie vermutlich aus den Angeln gesprungen. Der Sturm pfiff und heulte. Der Schnee war zu dichten Wällen aufgetürmt. Und es war schrecklich kalt. Wir arbeiteten uns durch Schneewehen und wirbelnden Schneerauch vorwärts.
An der Hausecke erfaßte uns der Sturm.
Er war wie ein lebendes Wesen, ein böser Geist, der uns mit seiner Urgewalt vernichten und uns mit seiner Kälte verbrennen wollte.
Wir preßten die Säcke vors Gesicht und drückten uns der Hauswand entlang vorwärts. Der Wind peitschte durch unsere Kleider. Er drang in Ohren, Nase und Mund. Man konnte fast nicht atmen und immer nur für einen kurzen Moment etwas sehen. Schritt für Schritt arbeiteten wir uns voran, durch ein grauweißes, beißendes, betäubendes Inferno. Aber wir mußten vorwärts. Mußten. Wenn der Sturm anhielt, dann ging es um unser Leben ...
Irgendwie gelang es uns, bis zum Misthaufen hinter dem Haus zu kommen. Wir hackten die festgefrorenen Fladen los. Wir füllten sie in die Säcke. Wir kämpften uns zur Tür zurück.
Dies machten wir mehrere Male.
Beim letzten Mal schaffte ich es nicht mehr bis zur Tür zurück. Ich sank in den Schnee, wollte mich ausruhen, nur ausruhen. Es war unglaublich angenehm, einfach nur in dem weichen, jetzt fast warmen Schnee zu liegen und zu hören, wie der Sturm immer leiser wurde ...
Mutter zog am Seil. Sie trat mich. Sie schlug mir auf die Wangen. Sie beugte sich und nahm mich hoch. Und irgendwie gelang es ihr, mich und die Säcke ins Haus zu bekommen.
In ihrem dünnen, ausgemergelten Körper war unglaublich viel Kraft. Ich habe eine schwache Erinnerung daran, daß Daniel uns mit den Knoten half, daß wir irgendwie die Jacken ausbekamen, und daß wir vor dem Herd auf dem Boden saßen und unsere erfrorenen Hände rieben. Meine beiden kleinen Finger waren weiß, das passierte im Winter oft, aber nach einer Weile pochte und klopfte es in ihnen.
Mutter zog mich zu sich.
„Jetzt brauchen wir nicht mehr zu frieren“, sagte sie. „Kleine, starke Jenny.“
Obwohl sie so nah war, schien ihre Stimme von weither zu kommen. Ich hatte immer noch den Sturm in mir.
Die Kuhfladen lagen in Schichten vor dem brennenden Kamin. Die Feuchtigkeit stieg wie dünner, graublauer Rauch auf. Bald würde man mit denen, die zuoberst lagen, heizen können.
Nein, wir würden noch lange nicht frieren müssen. Wir nicht. Mist war ein wichtiges Brennmaterial in diesem Land aus baumlosen Ebenen und Sandhügeln. Die wenigen Bäume, die es entlang der Wasserläufe gab, waren viel zu wertvoll zum Verheizen. Sie wurden zum Bauen, für Zaunpfähle und für Werkzeuge verwendet. Man benützte jedes Stöckchen, jeden Busch und jeden Zweig.
Im Sommer und im Herbst war es die Aufgabe der kleineren Kinder, Brennmaterial zu sammeln. Sie legten die Fladen in die Sonne und drehten sie einige Male, bis sie durchgetrocknet waren, und dann stapelten sie hinter dem Haus ordentliche Häufen auf.
Jetzt hatten wir Brennmaterial für mehrere Tage, es knisterte im Herd und im Kamin, und Daniel, ich und der kleine John, der drei war, saßen am Tisch und tranken warmen Saft.
Mutter hatte sich auf eine Decke vor den Herd gesetzt und fütterte Hanna, das Baby.
Finger und Fußzehen taten weh. Ich konnte fast nicht stillsitzen. Es war wie in der Schule. In der ersten Stunde saß man immer da und rutschte herum und versuchte zu vergessen, wie die Frostbeulen juckten und brannten.
Aber Schule gab es jetzt ja keine mehr.
Ich dachte wieder an die Bibel. Sie lag für jedermann sichtbar auf der langen Bank bei der Tür.
Aus irgendeinem Grund entschied ich mich dafür, selbst nichts zu sagen. Ich wollte, daß einer von den anderen sie entdecken würde, und dann, erst dann, würde ich erzählen, wie nett Mrs. Ryan zu mir gewesen war.
Natürlich entdeckte Daniel sie zuerst, der liebe kleine Daniel, der immer mehr sah, als er zugab.
Er ging hinüber und holte sie, und er konnte den Mund nicht halten.
„Was ist das?“
„Das siehst du doch, ein Buch.“
„Was für ein Buch?“
„Guck doch selbst.“
Und Daniel schaute.
„Das ist ja eine Bibel.“
„Genau.“
„Wem gehört sie?“
„Sie gehört mir ...“
Ich spürte, wie Mutter mich anschaute.
„Wovon redet ihr eigentlich?“
„Wir reden von meiner Bibel“, sagte ich.
Ich sagte es mit lauter Stimme, und vielleicht vergaß ich für einen Moment das Brennen in den Frostbeulen.
„Deine Bibel?“
Mutter legte Hanna auf die Decke und kam zum Tisch.
„Zeig her.“
Sie nahm die Bibel und schlug sie auf. Sie stand einen Augenblick still da. Rote Flecken erschienen auf ihren furchigen Wangen. „Ach, Mädchen. Du hast sie doch nicht ...“
Sie verstummte und warf mir einen fast bösen Blick zu. Ich weiß nicht, ob sie glaubte, ich hätte sie gestohlen – Stehlen war bei diesen kleinen Leuten in einer Gesellschaft ohne Schlösser ein unglaubliches Verbrechen –, vielleicht wußte sie es selbst nicht. Ich weiß nur, daß sie den Verdacht gehabt haben könnte, daß alles ganz verkehrt war, und daß ich mich tief verletzt fühlte – und gleichzeitig einsah, daß ich einen großen Fehler gemacht hatte. Ich hätte es natürlich erzählen sollen.
Als ich nun versuchte, alles zu erklären, fand ich nur schwer die richtigen Worte.
„Ich habe sie von ihr geschenkt bekommen. Gestern abend. Da draußen. Ganz bestimmt. Und ich werde sie lesen ...“
In Mutters Stimme war Traurigkeit.
„Aber warum hast du denn nichts gesagt?“
Ich fand keine Worte. Das Schweigen zwischen uns war klaftertief. Alle Geräusche des Sturms schienen plötzlich größer zu werden: das Brausen, das Pfeifen, das Knarren in den Wänden und Fenstern. Ich starrte auf eine große Wehe aus feinem Schnee, die unter der Tür hervorwuchs. Die Wangen brannten mehr als die Zehen.
Aber etwas mußte ich sagen.
„Ich wollte, daß es eine ...“
Weiter kam ich nicht. Ein Wort wie „Überraschung“ paßte überhaupt nicht, wenn Mutter mit solchen Augen schaute.
„Ich wollte, daß es etwas zwischen ihr und mir war.“
Ich sagte es schnell, und vielleicht hatte die Enttäuschung und die Unsicherheit die Stimme ungewöhnlich hart klingen lassen.
„Ach so ...“ Mutter legte die Bibel vorsichtig, fast andächtig vor mich und drehte sich weg. Sie ging langsam zu Hanna zurück und fütterte sie weiter, immer noch mit abgewandtem Gesicht.
Es dauerte eine Weile, bis ich kapierte, daß Mutter weinte.
Mutter weinte.
Das kam nicht oft vor.
Ich ging zu ihr, hockte mich neben sie, versuchte, ihren Blick zu fangen – aber das ging nicht.
„Laß mich. Bitte ...“
Aber ausnahmsweise machte ich nicht, was sie wollte. Ich strich ihr übers Haar, ihr weiches, rotbraunes Haar, auf das sie so stolz war, das sie jeden Morgen und jeden Abend hundertmal bürstete. Unter meinen rauhen, glühenden Fingern fühlte es sich kühl und weich wie feinste Seide an.
Ich bat sie um Verzeihung.
Ich sagte, daß ich genauso traurig sei wie sie, daß ich kindisch und gedankenlos gewesen sei.
Ihr Kopf bewegte sich unter meinen Händen langsam hin und her.
„Das ist es nicht, das nicht“, brachte sie heraus.
„Was ist es denn?“
Sie bewegte den Kopf nicht mehr. Schien nachzudenken. Und dann sagte sie leise:
„Du warst genau wie dein Vater.“