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Ich habe viel darüber nachgedacht, was für ein Mensch ich an jenem Abend war, als Gabriel und der Lange Gustav und ich unter den Ahornbäumen des Tiergartens gingen und lachten und herumalberten und Punsch aufstießen.

Ich nahm mich selbst sehr ernst, und das machte meine Lage natürlich noch schwieriger.

Seit ungefähr einem Jahr saß mein Vater im Gefängnis. Ein paar aus dem Regiment erinnerten mich oft daran — besonders ein langer Leutnant mit schmaler Nase und hoher Stirn; ich haßte ihn unsagbar — aber die meisten erwähnten es nie. Ich glaube, daß viele überhaupt nichts davon wußten; ich war ja auch nur ein kleiner Musikus unter vielen anderen.

Aber diese Tatsache hatte mich schweigsam und verklemmt gemacht, und auf andere wirkte ich sicher recht langweilig. Ich hatte das Gefühl, daß sich niemand besonders viel aus mir machte. Aber wenn ich die Möglichkeit hatte, mit den anderen zusammen etwas zu unternehmen, so tat ich es gern. Wie an diesem Abend, als wir da unter den Bäumen herumgrölten und Gabriel plötzlich gegen einen Baumstamm prallte und ausrief:

»Au, zum Teufel!«

Wir blieben stehen.

»Das tat verdammt weh«, sagte Gabriel.

»Viele Sachen tun weh«, sagte der Lange Gustav. »Zu enge Schuhe tun weh. Und Zahnschmerzen tun weh, daß man halb wahnsinnig wird. Und wenn du einen Tritt in den Hintern kriegst, das tut auch weh!«

»Und trotzdem ist das Leben herrlich! Verflucht nochmal, Jungs, wir müssen was singen.«

Schmachtend und hingebungsvoll sangen wir »Im schönsten Wiesengrunde«, dreistimmig. Gabriel hatte einen schönen Tenor und sang die erste Stimme. Ich hatte zwar die Klarinette dabei, holte sie aber nicht aus dem Futteral. Es gelang mir trotz meines Stimmbruchs etwas herauszupressen, was einer Baßstimme ähnelte.

Wir fanden es sehr schön und stimmungsvoll. Als wir fertiggesungen hatten, sagte Gabriel:

»Mir brummt der Schädel immer noch von dem Zusammenstoß.«

Wir gingen weiter auf die Tiergartenbrücke zu. Der Lange Gustav ging voran. Auf einmal blieb er stehen. »Seht mal da vorne«, sagte er. »Sieht mir ganz nach Unannehmlichkeiten aus.«

Etwas weiter vorne waren neben einer Laterne drei Gestalten zu erkennen, zwei große und eine kleinere. Eine rauhe Stimme brüllte:

»Sieh dich vor, wenn du erwachsenen Leuten begegnest, du kleine Rotznase. Ich werd’s dir schon beibringen, du ...«

Wir gingen näher hin und erkannten die roten Kragen.

»Göta Garde«, stellte der Lange Gustav grimmig fest.

»Und der Kleine da scheint einer von den Unsrigen zu sein. Da müssen wir etwas unternehmen.«

Zu jener Zeit gab es drei Leibgarden in Stockholm: Svea, Göta und die Leibgarde zu Pferd. Und zwischen diesen dreien herrschte ständige und bittere Feindschaft.

»Laß mich los!« schrie der kleine Sveagardist, als eigner der anderen seinen Arm packte und ihn zu verdrehen begann.

»Oh nein, Freundchen«, sagte der andere Rotkragen, der seinem Dialekt nach aus Südschweden kam. »Zuerst mußt du schon noch lernen, dich höflich zu benehmen, mein kleiner Kanarienvogel!«

Jetzt trat der Lange Gustav vor.

»Laß den Jungen laufen«, sagte er.

Der Südschwede drehte sich rasch um und erhob die Faust. Zuerst musterte er den Langen Gustav wortlos, doch dann breitete sich ein überlegenes Grinsen auf seinem Gesicht aus.

»Wenn es in meinem Maul so scheußlich aussehen würde, dann hielte ich es lieber geschlossen«, sagte er spöttisch.

»Paß auf, du Bauernlümmel!«

An diese Worte kann ich mich noch klar und deutlich erinnern. Dann ein wildes Handgemenge, Schläge, Ächzen, Flüche, Stiefel, die im Kies nach Halt suchten. Und ich werde nie vergessen, wie der Südschwede aussah, als er unter der Laterne im Kies lag, unbeweglich, das Gesicht voller Blut.

Der Kleine und der andere Götagardist waren im Dunkeln verschwunden.

Der Lange Gustav fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und hob seine Uniformmütze vom Boden.

»Der wird so schnell nicht wieder sein Maul aufreißen, das Schwein.«

Gabriel hockte sich neben den regungslos daliegenden Gardisten.

»Ja, jetzt hält er’s Maul, der Hasenfuß. Aber er liegt so still. Hoffentlich ist er nicht ...«

Er zögerte, das Wort auszusprechen. Der Lange Gustav rieb sich das Kinn und spuckte aus. In einem Mundwinkel klebte Blut.

»Blödsinn! So ein Bauernschädel verträgt schon einiges. Jetzt hauen wir ab.«

Im Laternenlicht sah sein schmales Gesicht blaß aus. Es war ihm anzusehen, daß er allmählich Angst bekam. Er vermied es, den Südschweden anzuschauen.

»Jetzt hauen wir ab, habe ich gesagt ...«

Ich saß im Kies und preßte mit den Armen die Knie gegen meinen Leib. Ich hatte einen Schlag gegen den Magen abbekommen, der immer noch höllisch schmerzte. Aber ich hörte deutlich, was die anderen sagten. Und ich sah, wie der Schatten des Langen Gustav länger wurde.

»So kommt doch.« Gabriel war aufgestanden.

»Die Sache gefällt mir nicht. Ich glaube, er braucht ...«

»Dahinten sind sie!« gellte jetzt eine durchdringende Stimme durch die Dunkelheit.

Eilige Schritte näherten sich von der Brücke her, Schritte von vielen Füßen.

»Verflucht«, sagte der Lange Gustav.

Es klang beinahe wie ein Schluchzen. Er begann zu rennen. Gabriel folgte ihm.

»Komm, Dan. Wir verduften.«

Und sie verschwanden im Dunkeln.

»Wartet doch ...«

Mir wurde schwarz vor den Augen, als ich aufstand. Der Südschwede hatte sich noch nicht gerührt. Die rennenden Schritte waren jetzt schon ganz nahe.

»Da ist einer von ihnen! Packt ihn!«

Ich fing an zu rennen. Ich hatte schreckliche Angst. Und das Gefühl, daß der Lange Gustav und Gabriel mich im Stich gelassen hatten, stach mir quälend ins Bewußtsein.

Ich stolperte durch die Dunkelheit vorwärts. Sie waren mir dicht auf den Fersen, ich konnte das Stampfen ihrer Stiefel hören. Ein Gefühl der Panik wollte in mir aufsteigen, schon spürte ich eine Hand auf meiner Schulter ...

Und erst vor kurzem hatten Gabriel und der Lange Gustav und ich herumgealbert und gelacht und gesungen und das Leben herrlich gefunden.

Im Park waren immer noch Leute unterwegs. Dunkle Schatten bewegten sich im Nebel unter den Laternen, für mich Schreckensgestalten, die sich gleich auf mich werfen würden.

Ich überquerte den Fahrweg und stürzte zum Ufer hinunter. Keuchend stand ich auf dem Dampfersteg. Hier unten stand auch eine Laterne, so daß mich meine Verfolger trotz des Nebels erkennen konnten.

»Da ist er ...«

Rufe und Schritte zwischen Bretterzäunen und Schuppen.

Eigentlich wollte ich mich ins Wasser werfen, statt dessen lief ich nach links an der Kaimauer entlang. Unten im Wasser lagen Boote und Schiffe; ich kann mich noch gut an dunkle Schiffsrümpfe, Teergeruch und knarrendes Tauwerk erinnern.

Eine Leine kam mir in den Weg, ich stolperte und fiel nach vorne. Mit den Händen konnte ich den Sturz noch auffangen, aber meine Handflächen brannten wie Feuer. Immer noch waren sie hinter mir her. Sie kamen mir wie böse Geister vor, wie Gestalten aus einem Alptraum, wie ein Wolfsrudel, wie etwas, dem ich nie, nie entrinnen würde ...

Es gelang mir aufzustehen, bevor sie mich erreicht hatten. Einer von ihnen stolperte an derselben Stelle wie ich, ich hörte wilde Flüche hinter mir.

Halbblind vor Angst und Müdigkeit schleppte ich mich weiter. Ich stieß gegen einen Bretterzaun und schaffte es irgendwie, hinüber zu kommen. Als ich keuchend auf der anderen Seite lag, konnte ich sie deutlich hören:

»Wo steckt er jetzt?«

»Dem werden wir’s heimzahlen, dem Saukerl. Aber wo ...«

»Er ist natürlich über den Zaun geklettert!«

Ich richtete mich auf. Unter den Händen spürte ich Rinde und Sägmehl. Wahrscheinlich befand ich mich im Hof eines Holzlagers. Zwei Reihen von dicken Stämmen führten zum Wasser hinunter. Schwach glänzend hoben sie sich vom Nachthimmel ab.

Jetzt machten sich die anderen daran, über den Bretterzaun zu klettern. Ihre Stiefel polterten hart gegen die Bretter, sie fluchten und ächzten.

Ich folgte den Stämmen zum Wasser hinunter — und da lag ein Boot! Ein Ruderboot. Ich löste die Leine, schob das Boot rasch ins Wasser hinaus und zog mich an Bord.

Als ich in den dichten Nebel hinausglitt, wurde alles beinahe noch unwirklicher als zuvor. Gleichzeitig durchströmte mich ein warmes, beruhigendes Glücksgefühl.

Ich brauchte keine Angst mehr zu haben. Ich hörte die Sägespäne unter ihren Füßen knistern, hörte sie suchen und fluchen — aber jetzt war ich sicher.

Ich legte die Ruder aus und machte ein paar Ruderschläge. Meine Verfolger hörten das Geräusch und schrien hinter mir her:

»Komm zurück! Sonst ...«

»Glaub nur nicht, daß du uns entkommst, du Mörder ...«

Dan Henrys Flucht

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