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Der Kleine Wolf
ОглавлениеIn einem Lager in der Ebene lebte einmal ein Junge, der war zwar kleiner und schmaler als seine gleichaltrigen Kameraden, aber er war genauso munter und genauso unternehmungslustig wie sie.
Und er lachte genauso oft und gern wie die anderen Jungen.
Und doch war etwas Besonderes an ihm, denn er war nicht in der Ebene geboren worden. Seine Herkunft lag im Dunkel, umhüllt von einem wunderbaren Geheimnis.
Er wurde Kleiner Wolf genannt. Diesen Namen hatten ihm die Stammesältesten gegeben. Damals, vor sieben Wintern, als er ins Lager gebracht worden war.
Die Sonne lag noch auf den Hügeln, als Kleiner Wolf und die anderen Jungen mit Pfeil und Bogen das Lager verließen, um zu spielen. An jenem Tag bemerkten sie einen Vogelschwarm, der sich unweit der Zelte niedergelassen hatte. Die Vögel waren gelb und trugen schwarze Halbmonde auf ihren Brustfedern. Es waren Lerchen.
Die Jungen konnten die Lerchen nicht leiden. Der Ruf dieser Vögel erinnerte an schrille, kreischende Menschenstimmen, die Sachen sagten, die sie lieber nicht hörten.
Daher schossen sie mit ihren stumpfen Pfeilen nach den Tieren. Nicht um sie zu verletzen, nein, um sie zu verjagen.
Die Vögel flogen über die Grasebene davon. Kleiner Wolf und die anderen Kinder wedelten mit den Armen durch die Luft und rannten hinterher.
Doch eine der Lerchen war nicht so schreckhaft wie der große Schwarm. Sie hatte sich oben in einen Busch gesetzt, und als Kleiner Wolf mit gespanntem Bogen auf den Vogel zuging, beschlich ihn plötzlich das Gefühl, als sehe ihn das kleine Tier auf eine besondere Weise an. Kleiner Wolf senkte den Bogen und blieb stehen.
Da kamen ein paar andere Jungen angerannt. Sie machten solchen Lärm, daß der Vogel aufschreckte und davonflog.
Doch im Davonflattern schrie er etwas mit seiner schrillen Stimme.
Für den Kleinen Wolf klang es wie: Spuren im Schnee, Spuren im Schnee...
Vielleicht bildete er sich alles nur ein?
Aus dem Geschrei der Lerche kann man ja vieles heraushören. Und doch zweifelte Kleiner Wolf keinen Augenblick lang, daß der Vogel ihm genau dies hatte sagen wollen. Spuren im Schnee, Spuren im Schnee...
Das war ein Zeichen.
Die drei Worte lenkten seine Gedanken sieben Winter zurück. Auf Ereignisse, von denen er oft hatte reden hören, an die er aber nicht besonders häufig gedacht hatte. Bis jetzt.
Der Ruf des Vogels ließ ihn an einen unbekannten Jäger denken, und an eine Frau, die sich durch die Einsamkeit von Schnee und Sturm kämpfte. Er konnte sie vor sich sehen, wie sie, völlig erschöpft, vornübergebeugt durch den tiefen Schnee taumelte. Er wußte, wie sie angezogen war, wie der Sack aussah, den sie auf den Rücken gebunden hatte. Nur ihr Gesicht, das konnte er nicht sehen.
Spuren im Schnee bei den Hohen Bergen...
Kleiner Wolf war schon einmal dort gewesen. Im eisigen Winter. Dort hatte er auch die Spur eines großen Wolfes entdeckt. War es die Spur des schwarzen Wolfes gewesen? Seines Wolfes, dessen Augen in der Dunkelheit leuchten?
Bei gemeinsamen Unternehmungen und Spielen der Kinder kam es von jenem Tag an immer wieder vor, daß Kleiner Wolf plötzlich stehenblieb und auf die Ebene hinausblickte. Dabei schaute er immer nach Westen, dahin, wo die Sonne untergeht.
Seine Freunde riefen nach ihm und wunderten sich. Doch wenn Kleiner Wolf auf diese Art stehenblieb, schien er nichts zu hören.
Schließlich ließen ihn die anderen in Ruhe. Im Lager des Kleinen Wolfes hegte man großen Respekt vor den Gedanken der anderen.
Zwar neckten sie sich oft gegenseitig, aber nie, wenn es um ernste Dinge ging. Und die anderen Kinder spürten, daß die Gedanken des Kleinen Wolfes ernst und tief waren. Er schien etwas zu suchen, auf etwas zu warten.
„Wenn er erzählen will, dann wird er erzählen“, sagten sie zueinander. „Und dann werden wir zuhören.“
Und vielleicht wollte der Kleine Wolf tatsächlich erzählen. Oder fragen. Aber manchmal ist es schwierig, Worte für das zu finden, was man denkt und fühlt. Gerade wenn es um einen selbst geht.
In jenem Sommer sonderte sich Kleiner Wolf immer mehr ab.
Wenn das Lager in der Nähe eines Hügels lag, kletterte er durch hohes Gras und dichtes Gebüsch hinauf auf den Gipfel. Dort stand er dann lange allein im roten Sand und blickte nach Westen. Worauf wartete er?