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Kulturelle Identität und Diaspora
ОглавлениеEin neuer karibischer Film ist im Entstehen, der das Genre des ›Dritte-Welt-Films‹ ergänzt. Er ähnelt den pulsierend-lebendigen Filmen und anderen Formen visueller Repräsentation afrokaribischer (und asiatischer) ›Schwarzer‹ – den neuen postkolonialen Subjekten – in der Diaspora des Westens, und doch unterscheidet er sich von ihnen. Alle diese kulturellen Praktiken und Formen der Repräsentation rücken das schwarze Subjekt in ihr Zentrum und stellen das Thema der kulturellen Identität in Frage. Wer ist dieses sich entwickelnde, neue Subjekt des Films und von wo aus spricht es? Tätigkeiten der Repräsentation schließen immer Positionen ein, von denen aus wir sprechen oder schreiben: Positionen der Artikulation (enunciation). Während wir meinen, sozusagen in ›unserem eigenen Namen‹, von uns selbst und unserer eigenen Erfahrung zu sprechen, legen neue Artikulationstheorien nahe, dass der Sprechende und das Subjekt, über das gesprochen wird, niemals identisch sind und niemals exakt den gleichen Platz einnehmen. Identität ist weder so vollkommen transparent noch so unproblematisch, wie wir denken. Statt Identität als eine schon vollendete Tatsache zu begreifen, die erst danach durch neue kulturelle Praktiken repräsentiert wird, sollten wir uns vielleicht Identität als eine ›Produktion‹ vorstellen, die niemals vollendet ist, sich immer in einem Prozess befindet und immer innerhalb – nicht außerhalb – der Repräsentation konstituiert wird. Diese Sichtweise hinterfragt die Autorität und Authentizität, die der Begriff der ›kulturellen Identität‹ für sich beansprucht.
Wir versuchen hier, einen Dialog, eine Untersuchung zum Thema kulturelle Identität und Repräsentation zu eröffnen. Selbstverständlich muss auch das ›Ich‹, das hier schreibt, selbst als ein ›artikuliertes‹ gedacht werden. Wir alle haben einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, eine spezifische Geschichte und Kultur, von denen aus wir schreiben und sprechen. Was wir sagen, steht immer ›in einem Kontext‹ und ist positioniert. Ich wurde in Jamaika geboren und verbrachte dort meine Kindheit und Jugend in einer Familie der unteren Mittelschicht. Als Erwachsener habe ich in England, im Schatten der schwarzen Diaspora – ›im Bauch der Bestie‹ – gelebt. Ich schreibe vor dem Hintergrund einer lebenslangen Beschäftigung mit Cultural Studies. Wenn der Eindruck entsteht, der vorliegende Text sei von den Erfahrungen der Diaspora und von ihren Erzählungen über Verschleppung bestimmt, dann sollten wir uns daran erinnern, dass jeder Diskurs ›platziert‹ ist, und somit auch das, woran das eigene Herz hängt, seine Gründe hat.
Es gibt mindestens zwei unterschiedliche Wege, über ›kulturelle Identität‹ nachzudenken. Die erste Position bestimmt ›kulturelle Identität‹ im Sinne einer gemeinsamen Kultur, eines kollektiven ›einzig wahren Selbstes‹, das hinter vielen anderen, oberflächlicheren oder künstlich auferlegten ›Selbsten‹ verborgen ist und das Menschen mit einer gemeinsamen Geschichte und Abstammung miteinander teilen. Nach dieser Definition reflektieren unsere kulturellen Identitäten die gemeinsamen historischen Erfahrungen und die gemeinsam genutzten kulturellen Codes, die uns als ›einem Volk‹, unabhängig von den sich verändernden Spaltungen und Wechselfällen in unserer aktuellen Geschichte, einen stabilen, gleichbleibenden und dauerhaften Referenz- und Bedeutungsrahmen zur Verfügung stellen. Diese ›Einheit‹, die allen anderen oberflächlicheren Differenzen zugrunde liegt, ist die Wahrheit oder das Wesen des ›Karibischseins‹ bzw. der schwarzen Erfahrung. Es ist diese Identität, die von einer karibischen oder schwarzen Diaspora entdeckt, ausgegraben, ans Licht gebracht und durch filmische Repräsentation ausgedrückt werden muss.
Ein derartiges Konzept kultureller Identität spielte in allen postkolonialen Kämpfen, die unsere Welt so tiefgreifend umgestaltet haben, eine entscheidende Rolle. Es stand schon zu Beginn des Jahrhunderts im Zentrum der Vision von Dichtern der ›Négritude‹, wie Aimé Césaire und Léopold Senghor1 und im Zentrum der Vision des panafrikanischen politischen Projektes. Es ist weiterhin eine äußerst machtvolle und kreative Kraft für die sich entwickelnden Repräsentationsformen heute marginalisierter Völker. In den postkolonialen Gesellschaften ist die Wiederentdeckung dieser Identität, wie Frantz Fanon es einmal nannte, zum Objekt einer »leidenschaftlichen Suche« geworden, die
»von der geheimen Hoffnung genährt und geleitet wird, jenseits der gegenwärtigen Misere, dieser Selbstverachtung, dieser Abdankung und Selbstverleugnung, eine schöne und leuchtende Ära zu finden, die uns sowohl vor uns selbst als auch vor den anderen rehabilitiert.« (Fanon 1981, 178)
Neue Formen kultureller Praxis in diesen Gesellschaften richten sich zu Recht an diesem Projekt aus, denn nach Fanon
»gibt sich [der Kolonialismus] nicht damit zufrieden, das Volk in Ketten zu legen, jede Form und jeden Inhalt aus dem Gehirn des Kolonisierten zu vertreiben. Er kehrt die Logik gleichsam um und richtet sein Interesse auch auf die Vergangenheit des unterdrückten Volkes, um sie zu verzerren, zu entstellen und auszulöschen.« (Ebd.)
Mit seiner Beobachtung stellt Fanon die Frage nach der Natur dieser ›tiefgehenden Suche‹, die die neuen Formen visueller und filmischer Repräsentation antreibt. Geht es nur um die Erschließung dessen, was die koloniale Erfahrung begraben und überlagert hat, darum, die versteckten Kontinuitäten ans Licht zu bringen, die von der kolonialen Erfahrung unterdrückt worden sind? Oder erfordert diese Forschung eine gänzlich andere Praxis, nicht die Wiederentdeckung, sondern die Produktion von Identität, nicht eine Identität, die sich in der Archäologie, sondern in der Wieder-Erzählung der Vergangenheit finden lässt?
Wir sollten jedoch zunächst nicht die Bedeutung dieses Aktes der imaginären Wiederentdeckung unterschätzen oder vernachlässigen, die mit dem Konzept einer wiederentdeckten, wesenhaften Identität verbunden ist. ›Verborgene Geschichten‹ haben in der Entwicklung der wichtigsten sozialen Bewegungen unserer Zeit eine bedeutende Rolle gespielt: im Feminismus, im Antikolonialismus und im Antirassismus. Die fotografischen Arbeiten einer Künstlergeneration von Jamaikaner/innen und Rastafaris wie z. B. Armet Francis (ein in Jamaika geborener Fotograf, der seit seinem achten Lebensjahr in Britannien lebt) sind Zeugnis für die anhaltende kreative Macht dieser Identitätskonzeption innerhalb der entstehenden Repräsentationspraktiken. Francis’ Fotografien von Menschen des Schwarzen Dreiecks, die in Afrika, in der Karibik, in den USA und im Vereinigten Königreich aufgenommen worden sind, versuchen »die tiefe Einheit der schwarzen Menschen, die durch Kolonisierung und Sklaverei über die afrikanische Diaspora verteilt wurden«, in visueller Form zu rekonstruieren. Seine Arbeit ist ein Akt imaginärer Wiedervereinigung.
Entscheidend ist, dass solche Bilder einen Weg eröffnen, der Erfahrung von Zerstreutheit und Fragmentierung, die allen Geschichten der aufgezwungenen Diaspora gemeinsam ist, einen imaginären Zusammenhang zu verleihen. Sie tun dies, indem sie Afrika als die Mutter dieser unterschiedlichen Zivilisationen repräsentieren oder ›versinnbildlichen‹. Das ›Zentrum‹ dieses Dreiecks ist immer noch Afrika. Afrika ist der Name für den fehlenden Begriff, die große Aporie, die im Mittelpunkt unserer kulturellen Identität steht und die ihr eine Bedeutung verleiht, die sie lange Zeit nicht besaß. Niemand kann heute bei der Betrachtung dieser strukturellen Bedeutungen, im Lichte der Geschichte von Deportation, Sklaverei und Migration übersehen, dass die Wunde der Trennung, der ›Verlust der Identität‹, der für die karibische Erfahrung wesentlich gewesen ist, nur dann zu heilen beginnt, wenn diese vergessenen Verbindungen erneut einen Platz erhalten. Solche Arbeiten stellen eine imaginäre Vollständigkeit oder Fülle wieder her, die gegen die zerbrochene Vorstellung unserer Vergangenheit gesetzt werden kann. Sie sind Ressourcen des Widerstandes und der Identität, anhand deren wir uns mit den fragmentarischen und pathologischen Formen auseinandersetzen können, in denen diese Erfahrungen innerhalb des dominanten Regimes der filmischen und visuellen Repräsentation des Westens rekonstruiert wurden.
Nun gibt es eine zweite, mit der ersten verwandte und doch davon unterschiedene Sichtweise von kultureller Identität. Die zweite Position erkennt in dem, ›was wir wirklich sind‹ oder – da die Geschichte eingegriffen hat – ›was wir geworden sind‹, neben den vielen Ähnlichkeiten auch die entscheidenden Punkte einer tiefen und signifikanten Differenz. Wir können nicht mehr länger exakt über ›eine Erfahrung, eine Identität‹ sprechen, ohne ihre andere Seite anzuerkennen: die Brüche und Diskontinuitäten, welche gerade die karibische ›Einzigartigkeit‹ ausmachen. In diesem zweiten Sinne ist kulturelle Identität ebenso eine Frage des ›Werdens‹ wie des ›Seins‹. Sie gehört ebenso zur Zukunft wie zur Vergangenheit. Sie ist nicht etwas, was schon existiert, was Ort, Zeit, Geschichte und Kultur transzendiert. Kulturelle Identitäten haben Ausgangspunkte und Geschichten. Wie alles Historische unterliegen sie ständiger Veränderung. Weit entfernt davon, in einer wesenhaften Vergangenheit für immer fixiert zu sein, sind sie dem permanenten ›Spiel‹ von Geschichte, Kultur und Macht unterworfen. Weit entfernt davon, in einer bloßen ›Wiederentdeckung‹ der Vergangenheit begründet zu sein, die darauf wartet, entdeckt zu werden, und die, wenn sie entdeckt wird, unser Bewusstsein über uns selbst bis in alle Ewigkeit absichert, sind Identitäten die Namen, die wir den unterschiedlichen Verhältnissen geben, durch die wir positioniert sind und durch die wir uns selbst anhand von Erzählungen über die Vergangenheit positionieren.
Nur diese zweite Sichtweise ermöglicht es uns, den traumatischen Charakter der ›kolonialen Erfahrung‹ richtig zu verstehen. Die verschiedenen Weisen, mit denen schwarze Menschen und schwarze Erfahrungen in den dominanten Repräsentationsregimes positioniert und unterworfen wurden, waren Effekte einer gezielten Ausübung von kultureller Macht und Normalisierung. Wir wurden durch jene Regimes nicht nur in Sinne von Saids ›Orientalismus‹ innerhalb der Wissenskategorien des Westens als unterschiedene und andere konstruiert. Vielmehr hatten sie die Macht, uns dazu zu bringen, dass wir uns selbst als ›Andere‹ wahrnahmen und erfuhren. Jedes Repräsentationsregime ist ein Machtregime, das, worauf uns Foucault hinweist, durch das verhängnisvolle Doppel von ›Macht/Wissen‹ geformt ist. Doch dieses Wissen ist internalisiert und nicht äußerlich. Es ist eine Sache, ein Subjekt oder eine Gruppe in einem herrschenden Diskurs als das Andere zu positionieren. Es ist jedoch etwas ganz anderes, sie diesem ›Wissen‹ nicht nur durch das Aufzwingen eines Willens und einer Herrschaft, sondern auch durch die Macht des inneren Zwangs und durch subjektive Anpassung (conformation) an die Norm zu unterwerfen. Das ist die Lehre – die dunkle Majestät – aus Fanons Einsicht in die kolonisierende Erfahrung in Schwarze Haut, weiße Masken.
Diese innere Enteignung der kulturellen Identität verkrüppelt und verunstaltet. Wenn ihrem Schweigen nichts entgegengesetzt wird, bringt es – wie es Fanon lebhaft beschreibt – »Menschen ohne Ufer, ohne Grenzen, ohne Farbe, Heimatlose, Nicht-Verwurzelte, Engel« (Fanon 1981, 185) hervor. Trotzdem verändert diese Vorstellung des Andersseins als innerem Zwang unser Konzept von ›kultureller Identität‹. In dieser Perspektive ist kulturelle Identität alles andere als ein fixiertes Wesen, das unveränderlich außerhalb von Geschichte und Kultur läge. Sie ist nicht irgendein in uns vorhandener universeller und transzendentaler Geist, in dem die Geschichte keine grundlegenden Spuren hinterlassen hat. Sie ist nicht ein für alle Mal festgelegt. Sie ist kein fixierter Ursprung, zu dem es irgendeine letzte und absolute Rückkehr geben könnte. Sie ist aber auch nicht nur ein bloßes Trugbild. Sie ist etwas Reales, nicht nur ein bloßer Trick der Einbildungskraft. Sie hat ihre Geschichten – und Geschichten haben ihre realen, materiellen und symbolischen Effekte. Die Vergangenheit spricht weiterhin zu uns. Doch da unsere Beziehung zu ihr, wie die Beziehung des Kindes zur Mutter, immer schon eine ›nach der Trennung‹ ist, spricht sie uns nicht als einfache, faktische ›Vergangenheit‹ an. Sie wird immer durch Erinnerung, Phantasie, Erzählungen und Mythen konstruiert. Kulturelle Identitäten sind die instabilen Identifikationspunkte oder Nahtstellen, die innerhalb der Diskurse über Geschichte und Kultur gebildet werden. Kein Wesen, sondern eine Positionierung. Daher gibt es immer eine Identitätspolitik, eine Politik der Positionierung, für die es keine absolute Garantie eines unproblematischen, transzendentalen ›Gesetzes des Ursprungs‹ gibt.
Diese zweite Sichtweise der kulturellen Identität ist uns weniger vertraut und verunsichert uns stärker. Wenn Identität nicht in einer direkten, ungebrochenen Linie aus einem fixierten Ursprung hervorgeht, wie können wir dann ihre Formierung verstehen? Wir könnten uns schwarze, karibische Identitäten so vorstellen, dass sie von zwei gleichzeitig wirksamen Achsen oder Vektoren, einem der Ähnlichkeit und Kontinuität und einem der Differenz und des Bruches, ›eingerahmt‹ werden: Karibische Identitäten müssen immer als die dialogische Beziehung zwischen diesen beiden Achsen gedacht werden. Die eine gibt uns eine gewisse Grundlage in der Vergangenheit und Kontinuität im Verhältnis zu ihr. Die zweite erinnert uns daran, dass das, was wir miteinander teilen, gerade die Erfahrung tiefgreifender Diskontinuität ist: Die Völker, die in die Sklaverei, Deportation, Kolonisation und Migration getrieben wurden, kamen vor allem aus Afrika – und als das Angebot an Menschen aus Afrika zurückging, wurde es vorübergehend durch Vertragsarbeiter/innen vom asiatischen Subkontinent aufgefrischt. (Diese oftmals vernachlässigte Tatsache erklärt, weshalb wir in Guayana oder auf Trinidad die paradoxe ›Wahrheit‹ des Fehlers von Christoph Columbus sehen können, die in den Gesichtern der dort ansässigen Völker symbolisch eingeschrieben ist: Wir können Asien‹ finden, wenn wir nach Westen segeln, wenn wir wissen, wo wir suchen müssen.)
In der Geschichte der modernen Welt gibt es kaum traumatischere Brüche als diese erzwungenen Trennungen von Afrika – ein Bruch, der in der europäischen Vorstellung von Afrika als ›dem dunklen Kontinent‹ bildlich zum Ausdruck kommt. Dabei kamen die Sklaven ebenso aus unterschiedlichen Ländern, Stammesgemeinschaften und Städten und hatten unterschiedliche Sprachen und Götter. Die afrikanische Religion, die das geistige Leben der Bewohner/innen der Karibik so maßgeblich bestimmt, unterscheidet sich deutlich vom christlichen Monotheismus in dem Glauben, dass Gott so mächtig ist, dass er lediglich durch eine Vervielfältigung geistiger Manifestationen erfahren werden kann, die überall in der natürlichen und sozialen Welt präsent sind. Diese Götter leben weiter in einer untergründigen Existenz, in einem religiösen Universum, das aus haitianischem Voodoo, Pocomania, Native Pentecostalism, Black Baptism, Rastafarianismus und dem lateinamerikanischen Katholizismus der schwarzen Heiligen zusammengemischt ist. Das Paradoxon besteht darin, dass es die Entwurzelung der Sklaverei und der Deportation und die Eingliederung in die Plantagenwirtschaft (sowie in die symbolische Ökonomie) der westlichen Welt waren, welche diese Menschen über ihre Unterschiede hinaus gerade in dem Moment ›vereinten‹, als sie vom direkten Zugang zu ihrer Vergangenheit abgeschnitten wurden.
Aus diesem Grund bleibt die Differenz in und neben der Kontinuität bestehen. Nach einer längeren Abwesenheit bedeutet eine Rückkehr in die Karibik, den Schock der ›Dopplung‹ von Gleichheit und Differenz erneut zu erfahren. Als ich die französische Karibik zum ersten Mal besuchte, sah ich sofort den Unterschied zwischen Martinique und beispielsweise Jamaika, der nicht eine bloße Differenz der Topografie und des Klimas ist, sondern eine tiefgreifende kulturelle und historische Differenz. Sie positioniert die Bewohner/innen von Martinique und Jamaika sowohl als Gleiche als auch als Verschiedene. Darüber hinaus werden die Trennungslinien der Differenz immer wieder in Beziehung zu unterschiedlichen Referenzpunkten neu positioniert. Für den entwickelten Westen sind wir mehr oder weniger ›das Gleiche‹. Wir gehören zum Marginalisierten und Unterentwickelten, zur Peripherie, zum ›Anderen‹. Wir sind der äußere Rand, die ›Kante‹ der metropolitanen Welt, immer der ›Süden‹ in Bezug auf das, was für andere El Norte ist.
Gleichzeitig stehen wir nicht alle in der gleichen Beziehung des Andersseins‹ zu den metropolitanen Zentren. Jede Gruppe hat ihre ökonomische, politische und kulturelle Abhängigkeit unterschiedlich ausgehandelt. Und diese ›Differenz‹, ob sie uns gefällt oder nicht, ist bereits in unsere kulturellen Identitäten eingeschrieben. Zudem ist es dieses Aushandeln von Identität, das uns von anderen lateinamerikanischen Menschen mit einer sehr ähnlichen Geschichte unterscheidet – wir sind Menschen aus der Karibik, les Antilliens (›Inselbewohner‹ von ihrem Festland aus gesehen), und wir unterscheiden uns auch untereinander als Menschen aus Jamaika, Haiti, Kuba, Guadeloupe, Barbados etc. …
Wie kann nun dieses Spiel von ›Differenz‹ innerhalb der Identität beschrieben werden? Die gemeinsame Geschichte – Deportation, Sklaverei, Kolonisierung – hat all diese Gesellschaften maßgeblich gestaltet und vereint uns über unsere Differenzen hinweg. Doch sie konstituiert keinen gemeinsamen Ursprung, weil sie nur eine Übertragung im metaphorischen wie im wörtlichen Sinne darstellte. Die Einschreibung der Differenz ist ebenso spezifisch und entscheidend. Ich benutze das Wort ›Spiel‹, da die Doppelbedeutung dieser Metapher wichtig ist. Einerseits weist sie auf die Instabilität, die Unbestimmtheit, auf das Fehlen einer abschließenden Lösung hin. Andererseits erinnert sie uns daran, dass der Ort, an dem diese ›Doppelung‹ am deutlichsten zu hören ist, das vielfältige ›Spiel‹ der karibischen Musik ist. Daher kann das kulturelle ›Spiel‹ nicht wie im Film durch eine einfache binäre Opposition – ›Vergangenheit/Gegenwart‹, ›die Anderen/Wir‹ – repräsentiert werden. Seine Komplexität geht über diese binäre Repräsentationsstruktur hinaus. An verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten, in Bezug auf verschiedene Fragen werden die Trennungslinien wieder neu gezogen. Sie werden nicht nur zu sich wechselseitig ausschließenden Kategorien, was sie hin und wieder sicherlich gewesen sind, sondern auch, was sie manchmal sind, zu Differenzialpunkten entlang einer gleitenden Skala.
Ein triviales Beispiel ist die Art und Weise, wie Martinique sowohl ›französisch‹ ist als auch nicht ›französisch‹ ist. Natürlich ist es ein département von Frankreich, was sich in seinem Lebensstandard und Lebensstil widerspiegelt. Fort de France ist wesentlich reicher und ›modischer‹ als Kingston. Kingston ist nicht nur augenscheinlich ärmer, sondern befindet sich an einem Übergangspunkt zwischen einer anglo-afrikanischen und einer afro-amerikanischen Mode, für all jene, die sich Modetrends überhaupt leisten können. Das typisch ›Martinikanische‹ besteht in der speziellen und eigentümlichen Ergänzung, die die schwarze und farbige Haut der Menschen zur ›Verfeinerung‹ und Kultiviertheit der aus Paris stammenden Haute Couture beiträgt: eine Verfeinerung, die, weil sie schwarz ist, immer grenzüberschreitend ist.
Wollen wir diesen Sinn von Differenz, der nicht pures ›Anderssein‹ meint, einfangen, müssen wir das Wortspiel eines Theoretikers wie Jacques Derrida entfalten. Derrida benutzt bei seiner Schreibweise von ›Differenz‹ ein regelwidriges ›a‹ – différance – als eine Markierung, die unser gewohntes Verständnis bzw. unsere Übersetzung des Wortes/Begriffs stören soll. Dadurch wird das Wort zu neuen Bedeutungen in Bewegung gesetzt, ohne die Spur seiner anderen Bedeutungen auszulöschen. Christopher Norris zufolge verbleibt Derridas Verständnis von différance
»in der Schwebe zwischen den beiden französischen Verben für ›verschieden sein‹ und ›aufschieben‹2, die beide zu seiner Aussagekraft beitragen, von denen aber keine die Bedeutung von différance voll erfassen kann. Sprache hängt von Differenz ab, wie Saussure gezeigt hat …, von der Struktur klar unterscheidbarer Aussagen, die ihre grundlegende Ökonomie ausmacht. Derrida betritt in dem Maße neuen Boden, wie er ›Verschiedensein‹ unmerklich in ›Aufschieben‹ übergehen lässt … Es ist der Gedanke, dass Bedeutung durch das Spiel der Signifikation immer aufgeschoben ist, vielleicht bis zu dem Punkt einer endlosen Ergänzbarkeit.« (Norris 1982, 32)
Dieser zweite Sinn von Differenz stellt die binären Oppositionen, welche Bedeutung und Repräsentation stabilisieren, in Frage und zeigt, dass Bedeutung nie endgültig und vollständig ist, sondern sich weiterbewegt und andere zusätzliche oder ergänzende Bedeutungen einschließt. Dies bringt – wie Norris an anderer Stelle gezeigt hat (Norris 1987, 15) – die klassische Ökonomie von Sprache und Repräsentation durcheinander. Ohne Differenzbeziehungen könnte es keine Repräsentation geben. Was dann aber innerhalb der Repräsentation konstituiert wird, ist für weitere Aufschiebungen, Schwankungen und Reihungen offen.
An welcher Stelle gelangt nun Identität in diese unbegrenzte Aufschiebung von Bedeutung hinein? Derrida hilft uns hier weniger, als er könnte, obwohl der Gedanke der ›Spur‹ uns einer Antwort näherbringt. Hier scheint es manchmal, als ob Derrida seinen Anhänger/innen erlaubt hat, sich seine tiefgründigen theoretischen Einsichten in Form einer Zelebrierung formaler ›Verspieltheit‹ anzueignen, die sie ihrer politischen Bedeutung entleert. Wenn die Signifikation von der endlosen Neupositionierung ihrer unterschiedlichen Ausdrücke abhängt, so resultiert Bedeutung in jedem spezifischen Fall aus dem kontingenten und arbiträren Halt – der notwendigen und temporären ›Unterbrechung‹ in der unbegrenzten Semiosis der Sprache. Dies beeinträchtigt nicht das ursprüngliche Verständnis von différance. Die Gefahr des Missverstehens existiert nur dann, wenn wir diesen ›Einschnitt‹ von Identität – diese Positionierung, die Bedeutung erst möglich macht – als natürlich und dauerhaft betrachten, anstatt ihn als das wahrzunehmen, was er ist: ein arbiträres und kontingentes ›Ende‹. Ich möchte hinzufügen, dass ich jede dieser Positionen insofern als ›strategisch‹ und arbiträr begreife, als es keine dauerhafte Entsprechung zwischen einem einzelnen Satz, den wir abschließen, und seiner wahren Bedeutung als solcher geben kann. Bedeutung entfaltet sich über die arbiträre Beendigung hinaus weiter, die sie überhaupt erst zu einem beliebigen Moment möglich macht. Sie ist immer entweder über- oder unterdeterminiert, entweder ein Überschuss oder eine Ergänzung. Es bleibt immer etwas ›übrig‹.
Mit diesem Konzept von ›Differenz‹ wird es möglich, die Positionierungen und Neupositionierungen karibischer kultureller Identitäten im Verhältnis zu mindestens drei ›Präsenzen‹ – ich benutze hierbei die Metapher von Aimé Césaire und Léopold Senghor – neu zu denken. Bei den ›Präsenzen‹ handelt es sich um die Présence Africaine, die Présence Européenne und um die dritte, vieldeutigste ›Präsenz‹ von allen, die Présence Américaine. Natürlich lasse ich für diesen Moment die zahlreichen anderen kulturellen ›Präsenzen‹ (die indische, chinesische, libanesische etc.), die darüber hinaus die Komplexität der karibischen Identität konstituieren, außer Acht. Ich benutze den Begriff ›Amerika‹ hier nicht im Sinne der ›Ersten Welt‹ – der große Cousin des Nordens, dessen ›Ränder‹ wir bevölkern –, sondern im zweiten, wesentlich umfassenderen Sinne: Amerika, die ›Neue Welt‹, Terra Incognita.
Die Présence Africaine ist der Ort des Verdrängten. Afrika war – weiter als die Erinnerung reicht, durch die Macht der Erfahrung der Sklaverei zum Schweigen verurteilt – tatsächlich in allen Aspekten des täglichen Lebens präsent: im Alltag und in den Bräuchen der Sklavenquartiere, in den unterschiedlichen Sprachen und im Patois der Plantagen, in den oftmals von ihren Taxinomien losgelösten Namen und Begriffen, in den verborgenen syntaktischen Strukturen, in denen andere Sprachen gesprochen wurden, in den Geschichten und Erzählungen für die Kinder, in religiösen Praktiken und Glaubensrichtungen, im spirituellen Leben, in der Kunst, im Handwerk, in der Musik und in den Rhythmen der Sklaven- und postemanzipatorischen Gesellschaft. Das Afrika als Signifikant, das in der Sklaverei nicht mehr direkt repräsentiert werden konnte, blieb und bleibt die ungesprochene und unaussprechbare ›Präsenz‹ in der karibischen Kultur. Sie ›verbirgt‹ sich hinter jeder sprachlichen Flexion, hinter jeder erzählerischen Wendung des karibischen kulturellen Lebens. Sie ist der Geheimcode, mit dem jeder westliche Text ›neu gelesen‹ wurde. Sie ist der basso continuo, auf dem jeder Rhythmus und jede Körperbewegung beruht. Dies war und ist das ›Afrika‹, das noch »in der Diaspora lebendig und wohlauf ist« (Hall 1976c).
Als ich in den vierziger und fünfziger Jahren in Kingston aufwuchs, war ich von den Zeichen, der Musik und den Rhythmen dieses Afrikas der Diaspora – das allein als Ergebnis langer und diskontinuierlicher Transformationsprozesse existierte – ständig umgeben. Obwohl die meisten Menschen um mich herum in den unterschiedlichsten Schattierungen braun oder schwarz (Afrika ›spricht‹!) waren, habe ich kein einziges Mal gehört, dass jemand sich selbst oder die anderen als ›afrikanisch‹ oder als Menschen ›afrikanischer Abstammung‹ bezeichnete. Erst in den siebziger Jahren wurde die afrokaribische Identität für die Mehrheit der jamaikanischen Menschen in ihrer Heimat und im Ausland historisch zugänglich. In diesem historischen Moment, in dem die Jamaikaner/innen ihr ›Schwarzsein‹ entdeckten, erkannten sie sich selbst als Söhne und Töchter der ›Sklaverei‹.
Diese tiefgreifende kulturelle Entdeckung konnte jedoch nicht direkt und ohne ›Vermittlung‹ stattfinden. Sie wurde erst durch die Einflüsse der postkolonialen Revolution auf das Alltagsleben, durch die Bürgerrechtskämpfe, die Rastafari-Kultur und die Reggae-Musik – Metaphern, Erscheinungen oder Signifikanten einer neuen Konstruktion des ›Jamaikanischseins‹ – erfahrbar. Diese bezeichneten das ›neue‹ Afrika der Neuen Welt, das in dem ›alten‹ Afrika verwurzelt ist. Es war eine spirituelle Entdeckungsreise, die in der Karibik zu einer autochthonen kulturellen Revolution führte. Dies ist, so ließe sich behaupten, ein notwendigerweise ›aufgeschobenes‹ Afrika, ein Afrika als spirituelle, kulturelle und politische Metapher.
Es ist die Präsenz/Abwesenheit Afrikas in dieser Form, die ›Afrika‹ zu einem bevorzugten Signifikanten für die neuen Konzeptionen karibischer Identität werden ließ. Alle Menschen in der Karibik, unabhängig von ihrem ethnischen Hintergrund, müssen sich früher oder später mit dieser afrikanischen Präsenz auseinandersetzen. Schwarze, Braune, Farbige oder Weiße – alle müssen der Présence Africaine ins Gesicht blicken und ihren Namen nennen. Ob es sich dabei jedoch um den eigentlichen Ursprung unserer Identitäten handelt, um eine über vierhundert Jahre der Vertreibung, Zersplitterung und Deportation hinweg unveränderte Identität, zu der wir letztendlich und im wörtlichen Sinne zurückkehren können, daran darf zu Recht gezweifelt werden. Das ›ursprüngliche‹ Afrika existiert nicht mehr, auch Afrika unterlag Wandlungsprozessen. In diesem Sinne lässt sich Geschichte nicht rückgängig machen. Wir dürfen nicht den Fehler des Westens wiederholen, der Afrika genau dadurch normalisiert und sich angeeignet hat, indem er es in einer zeitlosen Zone der ursprünglichen und unveränderlichen Vergangenheit einfror. Zwar müssen nun auch die karibischen Menschen endlich mit Afrika rechnen, aber es kann nicht irgendwie wiederentdeckt werden.
Wir dürfen das unwiderruflich unser Eigen nennen, was Edward Said einmal als »imaginative Geografie und Geschichte« bezeichnet hat, die
»dem Geist hilft, das Bewusstsein seiner selbst dadurch zu intensivieren, dass sie die Distanz und Differenz zwischen dem, was ihm nah, und dem, was weit von ihm entfernt ist, dramatisiert« (Said 1985, 55; eig. Übers.)
Diese Geografie und Geschichte »[besitzt] einen imaginativen oder figurativen Wert, den wir benennen und fühlen können« (ebd.). Unsere Zugehörigkeit zu ihr begründet das, was Benedict Anderson mit dem Begriff der ›imaginären Gemeinschaft‹ umschrieben hat (Anderson 1988). Zu diesem ›Afrika‹, das unausweichlich Teil der karibischen Vorstellungswelt ist, können wir im wörtlichen Sinne nicht einfach heimkehren.
Der Charakter dieser aufgeschobenen ›Heimreise‹, ihre Dauer und Komplexität sind in zahlreichen Texten anschaulich behandelt worden. Die dokumentarischen Archiv-Fotografien von Tony Sewell – Garveys Kinder: Das Erbe des Marcus Garvey3 – erzählen die Geschichte einer ›Heimkehr‹ zu einer afrikanischen Identität, die notwendigerweise über den Umweg London-Vereinigte Staaten führte. Sie ›endet‹ nicht in Äthiopien, sondern bei Garveys Statue vor der St.-Ann-Gemeinde-Bibliothek auf Jamaika, sie ›endet‹ auch nicht mit einem traditionellen Stammeslied, sondern mit der Musik von Burning Spear und dem Redemption Song von Bob Marley. Hier finden wir unsere ›lange Reise zurück in die Heimat‹. Der couragiert geschriebene Bildkommentar von Derek Bishton, Black Heart Man – die Reise-Geschichte eines weißen Fotografen ›auf den Spuren des gelobten Landes‹ –, hat seinen Anfangspunkt in England und führt weiter über Shashemene, den Ort in Äthiopien, den viele Jamaikaner/innen auf der Suche nach dem gelobten Land durchstreifen, direkt in die Sklaverei. Die Reise endet jedoch in Pinnacle, Jamaika, wo sich die ersten Niederlassungen der Rastafarians entwickelt haben, und sie endet ›jenseits‹ davon – zwischen den Armen und Enteigneten im Kingston des zwanzigsten Jahrhunderts und in den Straßen von Handsworth, England, wo Bishtons Entdeckungsreise begonnen hatte. Diese symbolischen Reisen sind notwendig für uns alle, und sie sind notwendigerweise zirkulär. Hier finden wir das Afrika, in das wir – ›über einen Umweg‹ – zurückkehren müssen: das Afrika, das ein Teil der Neuen Welt geworden ist, das Afrika‹, das wir selbst geschaffen haben, das ›Afrika‹, wie wir es in unserer Politik, unserer Erinnerung und in unseren Wünschen und Sehnsüchten wiedererzählen.
Was hat es mit dem zweiten, beunruhigenden Term in unserer Identitäts-Gleichung, der europäischen Präsenz auf sich? Für viele von uns besteht hier das Problem nicht in einem Zuwenig, sondern in einem Zuviel. Während Afrika ein Fall des Ungesagten war, leiden wir im Falle Europas darunter, dass es ununterbrochen spricht und uns spricht. Die europäische Präsenz unterbricht die Unschuld des ganzen Diskurses über ›Differenz‹ in der Karibik, indem sie die Frage der Macht einführt. ›Europa‹ ist unwiderruflich mit dem ›Spiel‹ der Macht, mit den Linien von Gewalt und Zustimmung und mit der Rolle des Herrschenden in der karibischen Kultur verknüpft. Es ist die europäische Präsenz in Form von Kolonialismus, Unterentwicklung, Armut und Rassismus gegen Farbige, die innerhalb ihrer dominanten Repräsentationsregimes das schwarze Subjekt positioniert hat: im kolonialen Diskurs, dem der Abenteuer- und Entdeckungsliteratur, dem über die Romantik des Exotischen, im Auge des Ethnografen und Reisenden, in den Topoi des Tropischen im Tourismus, den Reiseführern und in Hollywood und in den gewalttätigen und pornografischen Sprachen des Ganja und der städtischen Gewalt.
Da es bei der Présence Européenne um Ausgrenzung, Zwang und Enteignung geht, erliegen wir oftmals der Versuchung, diese Macht als vollkommen außerhalb von uns zu sehen, als eine äußerliche Kraft, deren Einfluss wir – ähnlich wie die Schlange ihre Haut – einfach abstreifen könnten. Woran uns Frantz Fanon in seinem Buch Schwarze Haut, weiße Masken erinnert, ist die Tatsache, dass und wie diese Macht zu einem konstitutiven Element unserer eigenen Identitäten geworden ist.
»… und der Andere fixiert mich durch Gesten, Verhaltensweisen, Blicke, so wie man ein Präparat mit Farbstoff fixiert. Ich wurde zornig, verlangte eine Erklärung. Nichts half. Ich explodierte. Hier die Bruchstücke, die von einem anderen Ich wieder zusammengesetzt wurden.« (Fanon 1952, 113; dt. 1980, 71, eig. Übers.)4
Dieser ›Blick‹ von dem Ort des Anderen aus fixiert uns nicht nur durch seine Gewalt, Feindseligkeit und Aggressivität, sondern auch durch die Ambivalenz seines Begehrens. Dies konfrontiert uns nicht einfach direkt mit der herrschenden europäischen Gegenwart als einem Ort oder ›Schauplatz‹ der Integration, an dem all diejenigen Gegenwarten, die sie aktiv zerstört hatte, neu zusammengefügt und in einem Rahmen gefasst werden. Als Schauplatz einer tiefgreifenden Spaltung und Verdopplung, die Homi Bhabha »die ambivalenten Identifikationen der rassistischen Welt« genannt hat, »das ›Anderssein‹ des Selbst, ist sie in das perverse Palimpsest der kolonialen Identität eingeschrieben« (Bhabha 1986).
Der Dialog von Macht und Widerstand, von Verweigerung und Anerkennung mit und gegen die Présence Européenne ist fast ähnlich komplex wie der ›Dialog‹ mit Afrika. Im alltäglichen kulturellen Leben lässt er sich in seiner reinen und unberührten Form nirgendwo wiederfinden. Er ist zu jeder Zeit und immer schon mit anderen kulturellen Elementen synkretistisch verschmolzen, kreolisiert – nicht verloren jenseits der Mittleren Passage, sondern immer schon präsent: von den Harmonien unserer Musik bis zum basso continuo Afrikas durchquert und durchkreuzt er unser Leben an jedem Punkt. Wie können wir diesen Dialog so inszenieren, dass wir endlich diejenigen sind, die ihm, ohne Terror und Gewalt, seinen Platz zuweisen, anstatt für immer und ewig durch ihn unseren Platz zugewiesen zu bekommen? Werden wir jemals in der Lage sein, seinen unumkehrbaren Einfluss anzuerkennen und gleichzeitig seinem imperialisierenden Blick zu widerstehen? Bisher konnte dieses Rätsel noch nicht gelöst werden, höchst komplexe kulturelle Strategien sind dafür erforderlich. Denken wir zum Beispiel nur an den Dialog eines jeden karibischen Filmemachers und Autors, den er auf die eine oder andere Weise mit dem dominanten Film und der dominanten Literatur des Westens führen muss. Denken wir an das komplexe Verhältnis junger schwarzer britischer Filmemacher/innen zur ›Avantgarde‹ des europäischen und amerikanischen Kinos. Wer würde diesen angespannten und qualvollen Dialog als ›eindimensional‹ beschreiben?
In der Gegenwart der dritten Präsenz, der ›Neuen Welt‹, geht es weniger um Macht als um den Boden, den Ort und das Territorium. Die ›Neue Welt‹ ist der Treffpunkt, an dem die vielfältigen kulturellen Nebenflüsse zusammenlaufen, sie ist das ›leere‹ Land (das die europäischen Kolonisatoren entleert haben), in welchem Fremde aus allen Teilen der Welt zusammenstießen. Niemand von den heutigen Bewohner/innen der Inseln – den schwarzen, braunen, weißen, afrikanischen, europäischen, amerikanischen, spanischen, französischen, ostindischen, chinesischen, portugiesischen, jüdischen und niederländischen – ›gehörte‹ ursprünglich dorthin. Die Neue Welt ist der Ort, an dem die Kreolisierungen, Assimilationen und Synkretismen ausgehandelt wurden. Die Neue Welt ist der dritte Term, die erste Szene, auf der die verhängnisvolle und tödliche Begegnung zwischen Afrika und dem Westen inszeniert wurde. Sie muss auch als Ort vielfältiger und kontinuierlicher Vertreibungen verstanden werden: die der prä-kolumbianischen Ureinwohner/innen, der Arawaks, der Kariben und Indianer – die ständig aus ihrer Heimat vertrieben und dezimiert wurden –, die zahlreicher Völker aus Afrika, Asien und Europa; die ständigen Vertreibungen durch Sklaverei, Kolonisation und Eroberung. Die Neue Welt steht für die endlosen Wege, auf denen die karibischen Völker zur Migration bestimmt wurden. Sie ist zum Signifikanten für die Migration selbst geworden, für das Reisen, Unterwegssein und für die Rückkehr als gemeinsame Erfahrung und Bestimmung, für den Antillaner als den Prototypen des Nomadentums der modernen oder postmodernen Neuen Welt, der sich ständig zwischen dem Zentrum und der Peripherie hin- und herbewegt. Die Beschäftigung mit Bewegung und Migration ist dem karibischen Film und anderen ›Dritte-Welt-Filmen‹ gemeinsam. Aber es ist für uns eines der bestimmenden Themen, das sich in allen – den Drehbüchern und filmischen Bildern zugrunde liegenden – Erzählungen wiederfinden lässt.
Die Présence Américaine ist weiterhin durch Erfahrungen des Schweigens und der Unterdrückung gekennzeichnet. In seinem Aufsatz Inseln des Zaubers (1987) erinnert uns Peter Hulme daran, dass wir es bei dem Wort ›Jamaika‹ mit der spanischen Version des Namens der eingeborenen Arawaks – ›das Land der Wälder und des Wassers‹ – zu tun haben, der durch Kolumbus’ Umbenennung in ›Santiago‹ nie ersetzt worden ist. Die Präsenz der Arawaks ist heute die von Geistern, die auf den Inseln hauptsächlich in Museen und archäologischen Stätten als Teil der kaum wahrgenommenen und nutzbar gemachten ›Vergangenheit‹ sichtbar ist. Hulme bemerkt, dass sie zum Beispiel im Emblem des Jamaican National Heritage Trust nicht auftaucht. Stattdessen wurde die Figur von Diego Pimienta gewählt, die Figur ›eines Afrikaners, der 1655 auf der Seite seiner spanischen Herren gegen die englische Invasion der Inseln gekämpft hat‹ – eine verzerrte, metonymische, schwache und demütigende Repräsentation der jamaikanischen Identität, sollte es diese jemals gegeben haben! Hulme erzählt, wie Premierminister Edward Seaga einst versuchte, das Wappen Jamaikas zu ändern. Das Wappen zeigt zwei Arawaks, die ein Schild mit fünf Ananas, gekrönt von einem Krokodil, halten. Premierminister Seaga fragte rhetorisch:
»Können die Arawaks, die unterdrückt und vernichtet wurden, das unerschrockene Wesen der Jamaikaner repräsentieren? Symbolisiert das langsam kriechende, vom Aussterben bedrohte Krokodil, ein kaltblütiges Reptil, etwa die Wärme und den schwungvollen Optimismus unserer Menschen?« (Zit. bei Hulme 1987, 84)
Es gibt wenige politische Äußerungen, die in dieser Deutlichkeit etwas über die Komplexitäten aussagen, die mit dem Prozess und dem Versuch, ein Volk aus so unterschiedlichen Menschen mit einer so unterschiedlichen Geschichte durch eine einzige, hegemoniale ›Identität‹ zu repräsentieren, verknüpft sind. Der Vorschlag von Herrn Seaga an die jamaikanischen Menschen, die zum größten Teil afrikanischer Abstammung sind, ihre ›Erinnerung‹ damit zu beginnen, einen Teil ihrer Geschichte zu ›vergessen‹, bekam glücklicherweise die Ablehnung, die er verdiente.
Die Gegenwart der ›Neuen Welt‹ – Amerika, Terra Incognita – ist daher selbst der Beginn der Diaspora, der Verschiedenheit, der Vermischung und der Differenz. Afrokaribische Menschen sind immer schon Menschen der Diaspora. Ich benutze den Begriff hier metaphorisch und nicht im wörtlichen Sinne: Ich verstehe uns nicht als zerstreute Stämme, deren Identität nur im Verhältnis zu einem gelobten Heimatland gesichert werden kann und die unter allen Umständen, und sei es, dass sie andere Völker ins Meer treiben, in ihre Heimat zurückkehren müssen. Diese Vorstellung entspricht der imperialistischen und hegemonialen Form von ›Ethnizität‹. Wir kennen das Schicksal des palästinensischen Volkes, das unter einem solchen rückwärtsgewandten Konzept von Diaspora leiden musste, und wir wissen von der Mittäterschaft des Westens. Das Verständnis der Diaspora-Erfahrung, um das es mir geht, wird nicht von Essenz oder Reinheit bestimmt, sondern von der Anerkennung notwendiger Heterogenität und Verschiedenheit; von einem Konzept von ›Identität‹, das mit und von – nicht trotz – der Differenz lebt, das durch Hybridbildung lebendig ist. Die Identitäten der Diaspora produzieren und reproduzieren sich ständig aufs Neue, durch Transformation und Differenz. Wenn wir das einmalige, das ›eigentlich‹ Karibische benennen wollen, dann finden wir es gerade in der Mischung der Farben, der Pigmentierungen, der Physiognomien, in den ›Variationen‹ des Geschmacks, die die karibische Küche ausmachen, und in der Ästhetik des ›Cross-over‹, des ›Cut-and-Mix‹ – ich gebrauche den aussagekräftigen Begriff von Dick Hebdige –, der das Herz und die Seele der schwarzen Musik ist. Junge schwarze Künstler und Kritiker in Britannien gehen immer häufiger dazu über, in ihren eigenen Werken ›die Ästhetik der Diaspora‹ und ihre Formationen innerhalb der postkolonialen Erfahrung anzuerkennen und zu entdecken:
»Eine ganze Reihe kultureller Formen besitzt eine ›synkretistische‹ Dynamik, die die Elemente des herrschenden Codes der dominanten Kulturen kritisch aneignet und ›kreolisiert‹, vorgegebene Zeichen desartikuliert und ihre symbolischen Bedeutungen reartikuliert. Die subversive Kraft dieser hybridisierenden Entwicklung zeigt sich besonders deutlich gerade auf der Ebene der Sprache; dort sind es Kreolisch, Patois und schwarzes Englisch, die die linguistische Dominanz des ›Englischen‹ – der Nationalsprache des Herren-Diskurses – durch strategische Flexionen, Akzentverschiebungen und andere performative Umbrüche in den semantischen, syntaktischen und lexikalischen Codes dezentrieren, destabilisieren und karnevalisieren.« (Mercer 1988, 57)
Da diese Neue Welt für uns als ein Ort, als eine Erzählung der Vertreibung dargestellt wird, entsteht daraus eine bildliche Fülle, die die endlose Sehnsucht nach einer Heimkehr zu ›verlorenen Ursprüngen‹ weckt, den Wunsch nach der Wieder-Verschmelzung mit der Mutter. Niemand, der sie einmal aus der blau-grünen Karibik hervortauchen sah, kann die Inseln des Zaubers je vergessen. Wer hat nicht bei diesem Anblick gespürt, wie er/sie von einem nostalgischen Drang nach verlorenen Ursprüngen und ›vergangenen Zeiten‹ überwältigt wurde? Doch ist diese ›Rückkehr zu den Anfängen‹ wie das Imaginäre bei Lacan – sie kann weder erfüllt noch erwidert werden. Sie ist der Beginn des Symbolischen, der Repräsentation, die unbeschränkt erneuerbare Quelle unserer Sehnsüchte, Erinnerungen, Mythen, Suche und Entdeckungen, kurz, das Reservoir unserer filmischen Erzählungen.
Wir haben anhand einer Reihe von Metaphern versucht, ein anderes Verhältnis zu unserer Vergangenheit zu entfalten und dabei eine andere Denkweise über kulturelle Identität einzuführen, die neue Momente des Erkennens in den Diskursen des gerade entstehenden karibischen und schwarzen Films konstituieren könnte. Wir haben versucht, Identität als etwas zu denken, das innerhalb und nicht außerhalb der Repräsentation konstituiert wird. Daher verstehen wir den Film nicht als zweitrangigen Spiegel zur Reflexion des schon Existierenden, sondern als die Form der Repräsentation, die in der Lage ist, uns als neue Subjekte zu konstituieren, und die es uns ermöglicht, Orte zu entdecken, von denen aus wir sprechen können. Benedict Anderson hat in Die Erfindung der Nation aufgezeigt, dass Gemeinschaften nicht mit Kriterien wie Falschheit/Echtheit gemessen werden können, sondern dass sie sich durch den Stil der Imagination unterscheiden (Anderson 1988, 15). Dies leistet das moderne schwarze Kino, indem es uns erlaubt, unsere unterschiedlichen Teile und Geschichten zu betrachten, zu erkennen und jene Identifikationspunkte oder Positionierungen zu konstruieren, die wir im Nachhinein unsere ›kulturellen Identitäten‹ nennen.
»Es genügt also nicht, in der Vergangenheit des Volkes unterzutauchen, um hier Elemente einer Kohärenz gegenüber den verfälschenden und abwertenden Unternehmungen des Kolonialismus zu finden … Die nationale Kultur ist nicht jene Folklore, in der ein abstrakter Populismus die Wahrheit des Volkes hat entdecken wollen … Die nationale Kultur ist die Gesamtheit der Anstrengungen, die ein Volk im geistigen Bereich macht, um die Aktion zu beschreiben, zu rechtfertigen und zu besingen, in der es sich begründet und behauptet hat.« (Fanon 1981, 197)
Übersetzt von Joachim Gutsche und Dominique John
1 Aimé Césaire (geb. 1913 auf Martinique), Dichter und Politiker; Léopold Senghor (geb. 1906 in Thies, Senegal), Dichter und Literaturwissenschaftler, 1960–1980 Staatspräsident des Senegal.
2 Im zitierten Text wird nicht deutlich, dass es sich im Französischen nur um ein Verb mit zwei Bedeutungen, différer, handelt, die im Englischen mit differ und defer, postpone wiedergegeben werden.
3 Marcus Moziah Garvey, geb. 1887 auf Jamaica, gest. 1940 in London, gründete 1914 auf Jamaica die Universal Negro Improvement Association, vertrat eine Doktrin der Reinheit und Trennung der Rassen.
4 Die englische, von Hall zitierte Übersetzung von 1986 enthält eine leichte Akzentverschiebung im letzten Satz: »Now the fragments have been put together by another self«, 109.