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1.

Am Abgrund

Er war siebenundzwanzig Lichtjahre von Arkon entfernt – und wenige Momente von seinem Tod.

Askhan Kuur lächelte. Er sagte sich diesen Satz oft vor – die Entfernung zu Arkon, dem Nabel und Zentrum des Universums, und sein mögliches Ende. Für einen Celista im Dienst von Emthon V. konnte jeder Tag der letzte sein, das galt in diesen unruhigen Zeiten mehr denn je. Man hatte versucht, Emthon V. zu ermorden. Die Imperatrice war geflohen. Ob auch ihm die Flucht gelingen würde? Oder war das der Tag, an dem die Befürchtung wahr wurde, mit der er schon seit Jahren lebte?

Kuur spazierte an einem Abgrund entlang, aus dem ihm die Ewigkeit entgegenspähte. Er kannte diesen Abgrund, hatte ihn schätzen, ja sogar lieben gelernt. Jeder unbedachte Schritt führte hinein – endgültig, unwiderruflich. Die schwarze Schlucht mit ihrer drohenden Tiefe war allgegenwärtig, und jemand wie Kuur verdrängte sie nicht.

Er spähte zurück, hob grüßend die Hand und sagte: »Heute nicht!«

»Schneller!« Delynn da Rankal beschleunigte ihre Schritte. Der Abstand zwischen ihr und Kuur drohte sich zu vergrößern. Das Absatzklacken ihrer hohen, roten Stiefel auf dem harten Plastboden wurde lauter und lauter. Es steigerte sich fast zu einem Stakkato. »Wir müssen von diesem Platz verschwinden!«

Über ihnen wölbten sich in luftigen Höhen lichte Bögen aus dünnem Kristallstahl, der sich wie blasssilberne Fächerkorallen verzweigte. Pflanzen mit bunten Köpfen rankten sich daran. Viele Blüten maßen einen halben Meter. Trotzdem bot das großflächige Areal unter dem wolkenlosen Himmel zu wenig Sichtschutz, weil die Bogenelemente zu weit verteilt waren. Überwachungsdrohnen konnten ihnen mühelos folgen. Vielleicht taten sie das längst.

Seit sechs Tontas waren Askhan Kuur und Delynn da Rankal auf den Beinen, versuchten von dieser Welt zu entkommen, auf der in den vergangenen Monaten sonderbare Dinge vor sich gingen. Es hatte sich etwas zusammengebraut, das sich zu entladen drohte wie ein Gewitter, und Kuur wusste noch immer nicht, was es war. Das nagte an ihm. Er war ein guter Celista, einer der besten Mitarbeiter des imperialen arkonidischen Geheimdienstes – jedenfalls hatte er das bisher geglaubt. Der unerwartete Anschlag auf die Imperatrice und die aktuelle Situation auf Aarakh Ranton verunsicherten ihn. In den vergangenen Wochen hatte der Geheimdienst eine Schlappe nach der anderen hinnehmen müssen. Kuurs Quellen versiegten, die Informanten verstummten einer nach dem anderen, abgeschaltet, ausgelöscht. Angeblich steckten dahinter Unfälle. Doch eine solche Häufung an Unglücken für zufällig zu halten, war so naiv, wie daran zu glauben, ein Naat könne Imperator werden und auf dem Kristallthron sitzen.

Der Bodenbelag unter ihnen wechselte, und ihre Schritte verstummten schlagartig. Sie eilten nun lautlos durch die Menge der Passanten. Das bleichgraue, blass wirkende Braun wich einer transparenten Fläche, die den Blick in die Tiefe freigab. Nicht nur nach oben war viel Platz, bis hin zu den schweren Blumenrabatten mit exotischen Mehandorzüchtungen, auch nach unten bot sich ein atemberaubender Anblick direkt in den Lauf des Aranakh II hinein, der in diesem Abschnitt besonders wild floss. Er stürzte sich in kaum zwei Kilometern Distanz in die Virra-Fälle. Stromschnellen wirbelten, Strudel tosten. Auf ihnen vergnügten sich einige Abenteuerlustige mit Gravohoverboards. Sie hielten mit weit ausgebreiteten Armen das Gleichgewicht, eingepackt in spezielle Wärmeanzüge, die sie im Ernstfall vor dem Ertrinken und Erfrieren retten würden.

Die schwebenden Kristallgärten waren ein beliebtes Ausflugsziel der besseren Gesellschaft, und auf Aarakh Ranton, der Zufluchtswelt des Imperiums, gab es davon massig. Hierher waren die Angehörigen der hohen Khasurne – der Geschlechter des mächtigen Hochadels – geflohen, als der Krieg gewütet hatte und die Kristallwelt Arkon vier Jahrzehnte zuvor von den Maahks verheert worden war. Längst waren viele nach Arkon zurückgekehrt, doch nicht alle. Der Prunk hielt nach wie vor Hof auf Aarakh Ranton, er verschlang Unmengen an Material, Zeit und anderen Ressourcen; was mit dafür sorgte, dass Arkon sich nur langsam erholte. Wer wollte schon zugunsten der Hauptwelt auf Luxus verzichten, wenn er es sich vor Ort gemütlich gemacht hatte?

Dieser Luxus zeigte sich in den verrücktesten und unsinnigsten Formen. Keine zwei Schritte voraus hatte eine junge Frau einen energetischen Käfig aufgestellt, in dem ein Bantuu schlief. Allein waren die haarlosen, vielmäuligen, kaum faustgroßen Tiere harmlos, doch in der Masse fielen sie selbst über Arkoniden her. Es war unglaublich aufwendig, einen Bantuu zu fangen und zu zähmen. Man musste dafür die Geschwister des Tiers töten, damit es den neuen Halter als Rudelführer annahm und sich ihm unterwarf. Vielleicht galten Bantuus gerade deshalb bei einigen der oberen Zehntausend als schick: die gebändigte und gemäßigte Natur, besiegt und beherrscht von Arkoniden. Ein Wahrzeichen und Symbol für die Herren und Herrinnen der Schöpfung.

Die Positronik in Kuurs Spezialanzug piepte enervierend. Was er die ganze Zeit vermutet hatte, bestätigte sich: Es hatten sich Verfolger an sie gehängt. Er prüfte die eingehenden Daten, erkannte die Ortungsreflexe zweier Roboteinheiten: getarnte Kampfmaschinen. Genaue Werte standen noch aus, doch das konnte sich rasch ändern, wenn die Roboter vom passiven in den aktiven Modus wechselten und ihre Opfer angriffen.

Neben Kuur und da Rankal drehten sich Holomodelle, die exotische Vasen in allen Farben, Formen und Größen zeigten. Es gab kaum echtes Material in dieser Handels-Traumwelt, die um die Aufmerksamkeit der Vorbeieilenden buhlte. Die Verkaufsware konnte besichtigt, teils sogar virtuell angefasst werden, und wurde nach Vertragsschluss physisch nach Hause geliefert. Eine Rückgabe war jederzeit möglich. Wenigstens mussten die zwei Celistas nicht fürchten, größere Verwüstungen oder Zerstörungen anzurichten, falls es zu einem Schusswechsel kam.

»Zeitfenster zum Ziel?«, fragte Kuur.

Da Rankals Hand lag auf ihrer durch Stoffschichten verdeckten Waffe. »Acht Zentitontas. Ich habe den Gleiter in die Virra-Ströme gesenkt.«

Es war unglücklich, dass sie ausgerechnet so nah bei ihrem Fahrzeug aufflogen. Sie hatten es doch fast geschafft gehabt. Was hatte sie verraten? Sie waren zügig gegangen, aber nicht panisch. Keine Seltenheit in den Gärten, in denen eine etwas schnellere Geschwindigkeit als schick galt. Wer wichtig war, der hatte es eilig, und je eiliger man es hatte, desto wichtiger war man. Wie also waren ihre Feinde auf sie aufmerksam geworden? Und wer steckte überhaupt dahinter? Ihin da Achran, die ehemalige Rudergängerin? Pertia ter Galen, die Mascantin, die ihre Orden lieber versteckte, als sie auf der Brust zu tragen? Oder einer der großen Khasurne, die Emthon V. gestürzt hatten? Angeblich waren die da Quertamagins und die da Gonozals beteiligt gewesen.

Die Roboter holten auf. Vor den Agenten lag eine Kristallbrücke, die zwei Schwebeplattformen miteinander verband.

»Flugmodus vorbereiten!«, ordnete Kuur an.

»Das weiß ich selbst!« Da Rankal klang angespannt. »Ich kann Toness nicht erreichen!«

»Ein weiterer Unfall?«

Die Celista wurde blass, ihre Unterlippe zitterte. Sie hatte hin und wieder mit Kuur geschlafen, um sich die Zeit zu vertreiben. Santur Toness aber liebte sie. »Es darf nicht sein! Nicht er!«

»Ferguss, da Nigall, da Esteloir ... Mach die Augen auf! Das waren keine Unfälle. Wenn wir nicht höllisch aufpassen, sind wir Geschichte. Prüf nach, ob du weitere Verfolgereinheiten findest. Mit zwei werden wir fertig.«

Sie schwieg, doch Kuur war sicher, dass seine Kollegin tat, was er von ihr verlangte. Er war der Ältere, Erfahrenere der beiden und ihr dreizehn Jahre voraus. Eine lange Zeit, wenn man bedachte, dass er schon seit zwanzig Jahren Celista war, also ein Mitglied des arkonidischen Geheimdienstes. Nicht jeder erreichte in diesem Metier ein derart von den Sternengöttern gesegnetes Alter.

»Keine weiteren Einheiten. Aber die beiden haben uns im Visier. Sie halten sich bloß zurück. Es sind Spezialanfertigungen. Mindestens Typ GX acht. Sie entgehen der öffentlichen Ortung. Noch keine Registrierung durch die Behörden. Wir sind auf uns gestellt.«

»Was mir lieber ist. Scheiß auf GX acht. Wir schaffen das!«

»Selbst wenn. Was dann? Unser Glanz ist erloschen. Es ist wie mit Arkon. Emthon die Fünfte ist gestürzt. Du willst einfach nicht einsehen, dass unsere Heimat nur noch ein Schatten ihrer selbst ist und unsere Leben keinen Kristallsplitter mehr wert.«

Die Roboter beschleunigten schlagartig, ohne aus dem Tarnmodus zu fallen. Niemand außer Askhan Kuur und Delynn da Rankal konnte sie wahrnehmen, und selbst die zwei Celistas hatten nach wie vor kein Bild, bloß einen Ortungsreflex. Die verdammten Mistdinger passten sich ihrer Umgebung hervorragend an.

Kuur presste die Zähne aufeinander. »So leicht ist es nicht vorbei!« Er riss den Strahler hoch, schoss und sprang gleichzeitig über das Geländer von der Schwebeplattform.

Da Rankal tat es ihm nach, flankte ins Nichts.

Rufe wurden laut, zwei weißhaarige Mädchen starrten ihnen mit großen Augen hinterher. Mehrere Passanten rissen die Arme hoch, um Aufnahmen mit ihren Multifunktionsarmbändern zu machen. Der Einsatz von Schwebeanzügen war auf den Promenaden eine Seltenheit. Wer in den Fluss wollte, nutzte die offiziell erlaubten Stellen. Außerdem waren die Schutzmonturen der Celistas kaum als solche zu erkennen. Sie wirkten wie normale, eng anliegende Kleidung aus silbergrauem Torgan. Tatsächlich waren sie bedingt weltraumtauglich und in der Lage, einen hochwertigen Schutzschirm aufzubauen – und natürlich konnten sie fliegen. Doch davon machten die beiden Geheimdienstagenten vorerst keinen Gebrauch. Sie ließen sich fallen, stürzten dem Fluss wie Metallklumpen entgegen.

Die Aktion erfüllte ihren Zweck: Sie irritierte die Maschinen und ihre taktischen Berechnungen. Es dauerte ziemlich lange, bis sie folgten.

Kuur bremste den Fall erst im letzten Moment, vertraute auf die Anzugpositronik und ließ sich ins Wasser fallen, bis er den Grund erreichte. Sofort startete er durch, bewegte sich mit der Strömung dicht über dem steinigen Boden. Automatisch leuchtete der Brustscheinwerfer ein scharfes Feld vor ihm aus. Der geschlossene Helm engte die Bewegungsfreiheit seines Kopfs ein, sodass er nicht frei nach oben blicken konnte, doch er hatte diverse Kameraansichten, aus denen er wählte.

Da Rankal folgte dicht hinter ihm. Blätter und dünne Hölzer trieben ihnen entgegen, bläulich verfärbt durch die Tiefe, in die sie vorgedrungen waren. Erst wenn sie näher kamen, erhielten sie im Schein der Lampe ihre Farben zurück. Eine Quamshar fuhr erschrocken auf und schwamm zur Seite. Die fünf Meter lange, spärlich gefiederte Riesenschlange war zum Glück friedlich. Arkoniden standen nicht auf ihrem Speiseplan. Ihr blaugräulicher, im Scheinwerfer braungrün gesprenkelter Körper entfernte sich rasch. Das unerwartete Licht hatte sie geblendet.

»Haben wir sie abgehängt?«, fragte da Rankal im Funk.

»Unwahrscheinlich. Lass dich zurückfallen, ich spiele den Köder. Dann kannst du sie dir von hinten vornehmen.«

»Verstanden!«

Kuur aktivierte einen Täuschmodus, der den Robotern vorgaukelte, es mit zwei Arkoniden statt mit nur einem zu tun zu haben, während da Rankal sich energetisch tot stellte. Sie nutzte eine Felsformation als Halt, stieß in einen schmalen Spalt vor. Ein Schwarm grüner Ahnenfische zuckte aufgeregt davon. Sie hatten Gesichter, die denen von älteren Arkoniden glichen. Oben auf dem Kopf wuchsen dünne Fühler, die an weiße Haare gemahnten.

Die Verfolger schlossen auf. Sie gingen in den direkten Angriff über, doch keiner der beiden schoss. Endlich bekam Kuur ein Bild. Er starrte die Aufnahmen des Roboters an, der ihm am nächsten war. Die Maschine hatte eine scheibenförmige Basis, die an eine Servierplatte aus Netzkristall erinnerte. Darauf saß ein klobiger, kugelartiger Rumpf mit mehreren dünnen Armen und einem viel zu kleinen Kopf; eine ungewöhnliche und wenig ästhetische Konstruktion, als hätte jemand die Todesinstrumente eilig aus Versatzstücken und Resten zusammengezimmert. Dass es Todesinstrumente waren, daran zweifelte Kuur keinen Augenblick. Die altmodisch und unfertig wirkenden Maschinen bestanden der Analyse nach zu fast achtzig Prozent aus Sprengstoff. Wenn sie nah genug heran waren, konnten sie Kuurs Abwehrschirm und Schutzanzug mit hoher Wahrscheinlichkeit knacken. Genau dafür waren sie wohl entwickelt worden.

Der Celista beschleunigte, holte aus dem Antrieb heraus, was er konnte. Orangefarbene Warnlichter zeigten ihm, dass er sich an der Belastungsgrenze bewegte.

»Mach schon, Delynn!« Es konnte nur noch Augenblicke dauern, bis die Roboter kapierten, dass er allein war, und sich eine von ihnen auf die Suche nach da Rankal machte.

Endlich schoss Delynn da Rankal aus der Deckung hervor. Zufrieden erkannt Askhan Kuur, dass sie nicht untätig gewesen war. Sie hatte beide Verfolgermaschinen mit Markersonden versehen, jagte nun Desintegrator-Kapselmunition los, die mit Sprengladungen gefüllt war. Das Flussbett flirrte grünlich auf, kurz darauf donnerte und krachte es dumpf. Wasser geriet in Bewegung, weit heftiger als die ohnehin starke Strömung. Kuur wurde umhergeschleudert. Er zog die Spezialwaffe, die auch unter Wasser funktionierte, und richtete sie mit der Peilfunktion auf die Markersonden, um das Ziel nicht zu verfehlen.

Auf dem Helmvisier kamen die Statusmeldungen. Einer der Roboter war überrascht worden. Es hatte ihn in tausend Teile zerrissen. Der andere war beschädigt, doch er bewegte sich noch. Er steuerte auf da Rankal zu, gewann Länge um Länge.

Kuur presste die Zähne zusammen, zielte sorgfältig und feuerte ein Sprenggeschoss ab, das nur im vorab erfassten Ziel detonieren würde. Der Roboter wich aus. Der Schuss ging daneben, traf eine Steinformation – die Ladung blieb ungezündet.

Auch da Rankal schoss – zu nah an der eigenen Position, doch sie hatte keine Wahl. Wenn der Roboter sie erreichte, war es aus.

»Tauch ab!«, rief Kuur.

Die Agentin reagierte – zu spät. Die erste Detonation, verursacht von ihr selbst, belastete ihren Schutzschirm.

Der Roboter explodierte mitten in die energetischen Schwankungen hinein. Die Welt geriet aus den Fugen, wurde ein einziges Durcheinander, in dem Oben und Unten sich in rascher Folge abwechselten.

»Delynn!« Askhan Kuur hielt den Kurs, zwang sich mit eiserner Selbstbeherrschung, alles anzuwenden, was er in jahrelangem Training gelernt hatte, und raste ins Chaos hinein.

Die Wellen beruhigten sich allmählich, doch die Sicht war schlecht. Ohne die schematische Anzeige im Helmvisier hätte Kuur die eigene Hand vor Augen nicht erkannt. Von der Maschine waren nur Bruchstücke geblieben, ebenso wie von da Rankals Anzug und dem Helm. Der Roboter musste gezielt eine Schwachstelle geschaffen haben, um den schützenden Panzer seines Opfers zu knacken. Er hatte den richtigen Moment genutzt – das Erlöschen des Schutzschirms. Wahrscheinlich hatte er eine Teilkomponente zeitversetzt gezündet, um einen tödlichen Kaskadeneffekt zu erreichen.

Geistesgegenwärtig griff Kuur nach einem vorbeigeschleuderten Trümmerstück. Es war ein Arm des Roboters. Er versuchte, im Chaos aus aufgewirbeltem Wasser, Blättern, Sand und Bruchstücken mehr zu erkennen. Der Wassersog war derart stark, dass er die Stiefel an einem Stein im Grund verankern musste, um die Position halten zu können.

»Delynn?«

Sie antwortete nicht. Die Verbindung war abgerissen. Es dauerte entsetzlich lange, bis Kuur ihren toten Körper fand, der am Grund des Flusses trieb, unten gehalten und stabilisiert von einer Spezialfunktion der Stiefelsohlen. Die roten Augen waren weit aufgerissen.

Kuur wollte nach seiner Kollegin greifen, sie bergen. Doch die Strömung war zu heftig und sein Anzug verfügte kaum noch über Energie. Er musste ihn schnellstmöglich aufladen, sonst würde auch Kuur in den Abgrund fallen. Jederzeit konnte ein weiterer Roboter aufkreuzen, um das grausame Spiel fortzusetzen und die Arbeit zu beenden, die seine Vorgänger nur zur Hälfte erledigt hatten.

Vorsichtig zog er da Rankals Leichnam zu sich, ließ sich ein Stück mit ihr treiben und öffnete eine Tasche an ihrer Seite. Der Datenkristall war noch da. Er nahm ihn an sich, schloss die Tasche.

»Votanthar. Ewigkeit.« Es gab kein ewiges Leben. Nur den Tod.

Einer von da Rankals Stiefeln löste sich, sank in den Sand. Ihr Körper drehte sich, wollte aufsteigen und wurde doch gehalten. Die Haare trieben wie ein Fächer auseinander, als wollten sie sich auflösen. Sie gehörte nun Irvora, der Göttin des Todes und der unendlichen Nacht.

Askhan Kuur schloss Delynn da Rankal die Augen, ließ sie davondriften. Es war wichtiger, Emthon V. zu informieren. Dieser Anschlag bewies endgültig, dass auf Aarakh Ranton eine Verschwörung vor sich ging. Etwas war enorm wichtig – wichtig genug, um die Celistas der Imperatrice noch nach ihrer Entmachtung anzugreifen und zu töten. Das war fast wie in den alten Tagen, als selbstverliebte Patriarchen geherrscht hatten, denen ein Leben nichts bedeutete. Damals war man schnell mit Tötungsbefehlen bei der Hand gewesen, angeblich um Stärke zu demonstrieren. Aber warum diesmal? Wieso diese Härte?

Das Spiel der Kelche war brutal, aber oft genug hieß es, aus strategischen Gründen auf Morde zu verzichten. Gute Celistas wurden nicht nur von Emthon V. gebraucht, und selbst wenn man Treue lebte, gab es andere Möglichkeiten, sich zu einigen. Wer schätzte schon einen Agenten, der den Vorgänger verraten hatte? Von ihm musste man befürchten, ebenfalls verraten zu werden. Besser war es, einen Konsens zu finden.

Lag es an den Hinweisen, die Askhan Kuur und Delynn da Rankal ausgegraben und noch immer nicht endgültig interpretiert hatten? Spuren deuteten darauf hin, dass es eine Verschiebung der Machtverhältnisse gab. Doch das alles war bisher zu unkonkret gewesen. Vielleicht konnte die Auswertung des Kristalls Klarheit bringen. Kuur war sicher, dass dieser Datenspeicher in der Tasche seiner Kollegin der Hauptgrund war, warum jemand die Celistas jagte und tötete. Sie hatten mit einem Dagorschwert in ein Bantuunest gestoßen, und nun fraßen die Bantuus sie einen nach dem anderen auf.

Vor ihm zeichnete sich der Gleiter am Grund des Flusses ab. Durch die Tarnfunktion verschwammen seine Umrisse im Wasser. Kuur merkte, dass seine Hand zitterte, als er die schmale Schleusentür öffnete. Er hatte schon viele Arkoniden sterben sehen, aber der Tod der vertrauten Agentenkollegin ließ ihn beinahe die Selbstbeherrschung verlieren. Die Härte seines unbekannten Feinds machte ihm zu schaffen. Zum ersten Mal seit Jahren loderte in ihm ein tiefer, urwüchsiger Wunsch nach Rache. Er wollte die Schuldigen bluten sehen.

»Unprofessionell«, murmelte er. »Sie kannte das Risiko.«

Aber war das wirklich so? Irgendetwas hatte sich verändert. Die Spielregeln stimmten nicht mehr.

In der Schleusenkammer lief das Wasser ab. Der Druck wurde ausgeglichen. Nur noch wenige Zentitontas, und Kuur konnte mit der Imperatrice reden.

Ungeduldig wartete er, stieg in das eigentliche Gleiterinnere, sobald es möglich war. Dort sah es aus wie immer: sauber, einfach, funktional. Keine Spur vom Eindringen eines Roboters. Wie auch immer ihre Gegner auf die zwei Celistas aufmerksam geworden waren – das vielseitige Fahrzeug hatten sie offensichtlich nicht gefunden. Er war voll funktionsfähig inklusive dem Hypersender. Kuur löste die Bodenverankerung, ließ den Gleiter mit der Strömung steigen, bis er kurz vor den Wasserfällen war. Ehe sich die Fluten über den Abgrund ergossen, stieg er auf, schoss in den dunkler werdenden Himmel, den Wolken entgegen. Er suchte Abstand, während der Sender arbeitete.

Es dauerte, bis die Verbindung zustande kam und sich ein Kommunikationshologramm aufbaute.

Endlich konnte er sie sehen: Emthon V., die Imperatrice. Jedenfalls war sie das bis vor Kurzem gewesen. Was war sie nun?

Die schlanke, zierliche Frau mit der schmalen Nase, den leicht schräg gestellten, rosafarbenen Augen und den geschwungenen Lippen war nach wie vor schön. Äußerlich sah Kuur ihr nicht an, was die vergangenen Tage sie gekostet haben mochten. Das silberne Haar war sorgfältig frisiert, wie es das immer war. Sie trug es kurz geschnitten.

Beim Anblick des vertrauten und doch fremden Gesichts kamen Zweifel in Kuur hoch. Er war einst Höfling gewesen, hatte sich Männern wie Frauen hingegeben und Emthon V. damals noch Theta genannt. Er kannte Ihin da Achran, hatte einige Zeit zu ihrer Truppe gehört, und er fragte sich, ob seine Entscheidung, sich für Theta einzusetzen, die richtige Wahl gewesen war. Er hatte sich durch Theta neue Impulse erhofft, aber auch neue Größe. Der Glanz des Imperiums war erloschen, und lag es nicht auch an Theta oder besser an Emthon V., dass es genau so gekommen war? Hätte sie es verhindern können?

»Was ist los?« Die Imperatrice kam sofort zur Sache. Wenigstens hielt sie sich nicht mit dem Protokoll auf.

Auch Askhan Kuur hatte nicht vor, sich lang zu fassen. Man wusste nie, wie viel Zeit einem blieb. Beiläufig übermittelte er den Speicherkristall-Inhalt. »Delynn da Rankal ist tot. Drei weitere Celistas vermutlich ebenfalls. Ich weiß inzwischen, dass meine und da Rankals Informanten nicht an Unfällen gestorben sind, und ich habe das hier!« Er hielt das Roboterbruchstück in die Kameraerfassung.

Emthon V. lehnte sich vor, kniff die Augen zusammen. Die Reaktion kam leicht verzögert, wegen der Entfernung zwischen ihnen. »Was genau ...?«

Der Kontakt brach ab. Das Holo erlosch.

»Wie bei allen She'Huhan ...« Kuur fuhr herum. Er sah den winzigen Roboter, der ihm gefolgt sein musste. Die Maschine hatte sich an Bord geschlichen, vermutlich direkt an Kuurs Anzug in den Rücken gepresst. Sie hatte den Gleiter sabotiert und die Funkverbindung gekappt. Wenn sie ihren beiden großen Brüdern ähnelte, die Delynn da Rankal und er im Fluss ausgeschaltet hatten, bestand sie zu achtzig Prozent aus Sprengstoff.

Er war siebenundzwanzig Lichtjahre von Arkon entfernt – und wenige Augenblicke von seinem Tod.

Zahlreiche Warnmeldungen sprangen an, die zuvor offensichtlich unterdrückt gewesen waren. Sie tauchten das Innere des Flugfahrzeugs in grelles Licht.

Es zischte laut, die Steuerung fiel aus. Dann gab es einen Funken: winzig, blau, endgültig. Er tanzte auf Askhan Kuurs Netzhaut, als wäre der Moment ewig.

Der Gleiter explodierte.

Perry Rhodan Neo 221: Ein neuer Feind

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