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Marie-Theres
ОглавлениеMarie-Theres Waser-Küttel ist 1956 geboren und lebt in Stans NW.
«Mich bringt fast nichts aus der Ruhe. Das Wetter schon gar nicht – höchstens wenn ich frühmorgens die Schneeketten montieren muss, wirds heikel.»
Ob sie die Umgebung für ihr Porträt selbst bestimmen könne? Am liebsten wäre ihr das St.-Rochus- Chappäli in Oberdorf. In diese historische Kapelle sei sie oft z’Chilä. Auch mit ihren Kindern. Der Ort sei ihr viele Jahre lang eine wichtige Kraftquelle gewesen. Kaum 100 Meter vom Kirchlein weg steht der Bauernhof ihres Ex-Mannes. Der müsse nicht aufs Bild, lieber noch etwas Natur. Nach dem Fotoshooting fährt Marie-Theres Waser-Küttel uns mit dem kleinen, blauen Wagen in ihr neues Zuhause – zufälligerweise wieder bei einer Kapelle, diesmal St. Josef gewidmet. Hier wohnt sie erst seit wenigen Monaten. Ihre geräumige Wohnung hat in alle vier Himmelsrichtungen Fenster. Und die begeisterte Berggängerin sieht den Pilatus, das Stanser- und Buochserhorn, den Bürgenstock, ja sogar Vitznau – ihre alte Heimat.
Letzten September wusste ich: Jetzt brauche ich etwas Eigenes. Zuerst fühlte ich mich etwas zwischen Stuhl und Bank. Die Wohnung in Dallenwil, in der ich mit meinen Söhnen gelebt hatte, kündigte ich. Ohne etwas Neues auf sicher zu haben. Aber ich sprach mir Mut zu: «Du bekommst, was du brauchst!» Im «Nidwaldner-Blitz» stiess ich auf die Annonce für diese Wohnung und erhielt mit Glück den Zuschlag. Jetzt kann ich in meinen ersten eigenen vier Wänden zur Ruhe kommen. Die letzten Jahre waren ein dauerndes Loslassen. Aber ich weiss, wenn ich loslasse, kommt Neues.
Meine fünf Kinder gaben mir immer Halt und die Kraft, nicht aufzugeben, weiterzukämpfen. Jetzt muss ich sie aber loslassen und nicht als mein Eigentum betrachten. Ich sagte ihnen: «Denkt nicht, ich käme nicht z’Schlag. Ich komme z’Schlag!»
Ich glaube, ich habe die Kurve gekriegt. Vor vier Jahren fand ich sogar meinen Traumjob bei der Spitex. Ich fahre als Pflegehelferin zu den Leuten in alle Chrachen hinauf. Auf den abgelegenen Höfen sind sie auf uns Spitexleute angewiesen. Ich bin zu 80 Prozent fix angestellt. Das ist wunderbar. Ich glaube, meine grosse Lebenserfahrung wird nun geschätzt. Ich bin geduldig und nehme die Leute, wie sie sind. Mich bringt fast nichts aus der Ruhe. Das Wetter schon gar nicht – höchstens wenn ich frühmorgens die Schneeketten montieren muss, wirds heikel.
Wenn ich so auf mein Leben zurückschaue, habe ich dieses Bild vor Augen: Ich lebte in einer Gemeinschaft mit sieben Menschen und sass mit meinen fünf Kindern im Zug. Mein Mann jedoch stieg nie zu uns in den Familienzug. Er stand all die Jahre draussen, abseits. Aber der Zug konnte nicht stillstehen, musste weiterfahren …
Ich bin eine einfache Bäuerin, aber eine Geschiedene. Religiös und geschieden, das passt nicht. Bis dass der Tod euch scheidet, gelobte ich doch damals, als wir heirateten. Dass der Papst jetzt gegangen ist, beflügelt mich. Wenn die Gesundheit sagt, ich kann nicht mehr, dann muss man gehen. Bis dass der Tod euch scheidet! Nein, ich mochte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr.
Als ich in der Klinik war, wusste ich, du kannst nie mehr heim. Und sogar der Pfarrer dort riet mir: «Loset Si, es ist nicht Gottes Wille, dass ein Partner krank wird in einer Ehe.» Aber die katholische Kirche goutiert Ehescheidungen nicht. Ich bin eine Verstossene. Das kann doch nicht Gottes Wille sein, oder?
Von meinem Mann höre ich nichts mehr. Nach der Scheidung sagte er: «Du bist für mich gestorben!» Bis dass der Tod euch scheidet …
Wäre ich nicht Bäuerin gewesen und hätte mit meinen Kindern privat in einer Wohnung gelebt, hätte ich meinen Mann nach der Scheidung weggeschickt. Aber «nur» als Frau des Bauern und als Schwiegertochter hatte ich kein Recht, auf dem Hof zu bleiben. Nach 24 Jahren musste ich gehen. Ich hielt es nicht mehr aus. Wurde sehr krank. Bis dass der Tod euch scheidet! Während vieler Jahre sagte ich mir: «Wart noch ein wenig. Wirf nicht gleich die Flinte ins Korn!» Ich weiss, es braucht ja in einer Partnerschaft für alles zwei. Aber wenn einer sich nie in Frage stellt, wird es mit der Zeit enorm schwierig.
Es brauchte grösste Verzweiflung zu gehen. Definitiv zu gehen. Ich bin nicht kopflos gegangen, habe jahrelang das Dafür und das Dagegen sorgfältig abgewogen. Schade ich den Kindern, wenn ich bleibe, oder schade ich ihnen, wenn ich gehe? Als der Jüngste in der Lehre war, spürte ich: «Nun hab ich meinen Dienst getan. Mehr muss ich nicht tun.» Den entscheidenden Schritt wagte ich aber immer noch nicht.
Die Kinder sind glücklicherweise alle gut geraten. Und sie sagen mir: «Muäti, mach, was dir guttut.» Keines würde mir je einen Vorwurf machen, dass ich von meinem Mann weggegangen bin. Und ich sage meinen Kindern: «Ihr habt es nicht einfach gehabt. Wenn ihr merkt, dass euch etwas schadet, müsst ihr es sofort ändern. Mit 80 noch zu sagen, ihr hättet eine schlechte Jugend gehabt, bringt nichts. Holt euch Hilfe!»
Jahrelang schaffte ich irgendwie den Spagat zwischen meinem Mann und den Kindern. Gegen aussen spielten wir heile Welt. Ich sagte mir, wir sind eine Familie, wir müssen einander helfen. Ich machte den Vater nie schlecht vor den Kindern. Das Traurige ist, ich sah den guten Kern in ihm nie. Er schaute weder nach rechts noch nach links, nahm mich und die Kinder kaum wahr. Er erzählte wenig von seinem eigenen Leben. Er ist in sich selbst gefangen. Ich will ihn auch heute nicht schlecht machen, innerlich habe ich mich mit ihm versöhnt. Es ist doch so: Er hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Jemandem vergeben zu können, ist das A und O im Leben. Nur so habe ich eine Chance, gesund zu bleiben.
Wenn ich ehrlich bin: Bereits am Hochzeitstag fühlte ich, dass es schwierig werden würde mit uns beiden.
Dabei erlebte ich eine wunderbare Kindheit in einer liebevollen und harmonischen Familie. Ich bin während der Seegfrörni am 29. Januar 1956 im Kantonsspital Luzern geboren. Mueti erzählte später, sie habe aufpassen müssen, dass ihr erstes Töchterchen nicht erfriere. Wir lebten damals mit meinen zwei älteren Brüdern in der Wohnung ihres Schwagers im Dorf Vitznau – und die Heizung war nicht eben erstklassig. Vater war Bahnwärter bei der Rigi-Bahn, aber im Herzen ein Bergler, der Bergbauernsohn vom Eselberg. Mit seinen sieben älteren Brüdern war er auf 1200 Meter über Meer mit Sicht auf den Vierwaldstättersee aufgewachsen. Seine Mutter starb, als er fünf Jahre alt war. Das hat ihn geprägt. Später war er lange Zeit Knecht auf einem Hof in Inwil. Dort lernte er unsere Mutter kennen, die damals Magd war. Mutter hätte den Hofbauern heiraten können, aber sie entschied sich für das Chnächtli, meinen Vater. Als junges Paar kamen die beiden nach Vitznau und Vater zur Rigi-Bahn. Aber das Bäuerische blieb ihm lieb, genauso wie meiner Mutter, die eine Bauerntochter war.
Mit meinen fünf Geschwistern hatte ich es gut. Zwei meiner Brüder sind ganz Wilde – einer wurde Unspunnen-Steinstösser und der andere «Chranz-Schwinger». Meine Kindheit in Vitznau, mit einer Menge Kindern in der Umgebung, war einfach und unbeschwert. Wir hatten eine tolle Gemeinschaft, und mit der Cousine im gleichen Haus verband mich viele Jahre lang eine grosse Freundschaft. Vater hatte neben seiner Tätigkeit bei der Bahn über Jahre einen kleinen Betrieb mit Mastschweinen, die er in einem Vitznauer Stall einquartierte. Das Gwäsch holte er von den Hotels ab und kochte das Ganze vor dem Verfüttern auf. Beim Campingplatz hatten wir zudem Land zum Emden gepachtet. Wir Kinder bekamen dort die ersten Bikinis zu Gesicht. Vater hat dieses lockere Leben auf dem Campingplatz immer verpönt. Er fand, Baden und Schwimmen, das mache man nicht. Das Leben dieser Touristen war gar nicht das unsere. Und ich fand es komisch, dass es meinen Eltern nicht passte.
Das Heimet auf dem Eselberg liess Vater nicht los. Das Land war weit oben am Berg und nur mit einer einfachen Seilbahn erreichbar. Als sein Bruder dort eine Wirtschaft baute, das Restaurant Hinterbergen, zog es Vater ebenfalls dahin zurück, wo er aufgewachsen war. Ich war 16 Jahre alt und ging noch in die Sekundarschule, als meine Eltern mit dem Hofbau begannen. Die Bäume wurden am Berg oben gefällt und das Holz in der Sägerei meines Onkels gesägt. Das andere Baumaterial, auch der Zement, wurde mit der Seilbahn raufgebracht. Unvorstellbar! Meiner Mutter fiel es schwer, mit ihren mittlerweile sechs Kindern so weit weg vom Dorf zu ziehen. Aber sie hat sich nie beklagt.
Meine Mutter ist meine grösste Lehrmeisterin. Sie konnte alles. Kochen, flicken, stricken, gärtnern – und sie schaffte und krampfte zeitlebens. Mutter war für meinen Vater seine Frau und sein Mueti. Ich sage heute: Mueti hat dem Dädi trabantälät – sie hat ihm einfach jeden Wunsch von den Augen abgelesen und alles für ihn gemacht. Ich weiss, sie liebten sich und hatten eine harmonische Ehe. Obwohl Mutter eigentlich die Magd blieb, wie zu Gotthelfs Zeiten. Noch mit 90 Jahren sagte sie: «Ich wollte es nie anders, ich bin glücklich.» Während der Bauerei auf dem Eselberg kochte Mutter im Dorf unten und liess das Ganze mit dem Bähnli hinaufziehen – für die Arbeiter und meinen Vater. Sie hatte aber auf dem Berg viel zu tun. Meine drei kleineren Geschwister gingen noch in Vitznau in die Schule. Als Ältestes der Mädchen machte ich mit ihnen Schulaufgaben, wusch die Wäsche, bügelte und half, wo nötig. Ich stand schon früh in den Schuhstapfen meiner Mutter. Aber wir waren bald alle sehr glücklich auf dem Oberberg – und ich bin heute noch stolz, eine von dort oben zu sein!
Nach den neun obligatorischen Schuljahren war es selbstverständlich, dass ich ins Haushaltlehrjahr ging. Was für eine andere Welt, wenn auch nur wenige Kilometer von daheim weg, in Küssnacht! Die Frau des Hauses war im Schwyzer Kantonsrat engagiert, Präsidentin des Müttervereins, Bäuerin und Mutter von sieben Kindern. Eine emanzipierte Frau. Für sie war es ideal, eine Lehrtochter zu bekommen, die selbständig arbeiten konnte. Mir gefiel der grosse Bauernhaushalt, und ich blühte richtig auf. Beim Abschied sagte die Lehrmeisterin: «Du warst das zehnte Lehrmädchen – und das beste von allen.» Eine ihrer Töchter arbeitete im Spital Cham als Hilfsschwester. Ein Traum für mich! Aber eine Lehre traute ich mir damals noch nicht zu. Ich erhielt jedoch auf der Männerabteilung bei Schwester Alfonsa für ein Jahr Arbeit als Hilfsschwester. Herrliche Monate, in denen ich viel lernte, glücklich war, viel Verantwortung übertragen bekam und meine beste Freundin fand, Rita Buholzer. Das Bauernmädchen aus Hohenrain wollte im Jahr darauf an die Bäuerinnenschule ins Kloster Fahr. «Kommst du mit?», fragte sie mich.
Vater fand, im Spital würde ich zu wenig lernen, und so übernahm ich bald in einem noblen Haushalt in Sempach die Stelle als Haushälterin. Der Hausherr, ein Bildhauer, hatte zehn Kinder von drei Frauen – zwei waren ihm gestorben, und mit der dritten hatte er schliesslich noch sieben Kinder. Das Jüngste kam auf die Welt, als ich dort im Dienst war. Ich hatte immer acht bis neun Leute zum Essen am Tisch. Ich lernte eine neue Küche kennen: Nicht nur Bauernsachen mit Kartoffeln – es gab oft Fisch, auch Reis, und ich lernte, aus dem Kochbuch zu kochen.
Aber ich wollte weiter. Ich war an der Bäuerinnenschule angemeldet und kündigte die Stelle. Kaum daheim, rief der Hausherr aus Sempach an, ob ich nicht doch wieder zu ihnen zurückkehren könnte. Ich weiss, wenn ich nicht schon daheim gewesen wäre, hätte ich mich nicht getraut, Nein zu sagen. Unter ihren Augen wäre ich weich geworden. Damals habe ich mich das erste Mal in meinem Leben für mich entschieden. Und danach lange Zeit nicht mehr!
Das Kloster Fahr hat mich sehr beeindruckt, ich fühlte mich von der ersten Stunde an wohl. Die Atmosphäre, die Schwestern, einfach alles erlebte ich als Geborgenheit, als Zu-Hause-Sein. Heim ging ich höchstens drei, vier Mal während der ganzen 20 Wochen. Gestresst haben mich nur die Handarbeitsnoten. Ich wollte gut sein, ja bei den Besten. Vater hatte uns Mädchen immer eingebläut, dass Handarbeit wichtig sei. Ich nähte im Fahr Hosen und eine Bluse und rote Sennenchutäli für meine Brüder.
Mein Lieblingsplatz aber war in der Küche. Beim Kochen war ich in meiner Welt und durfte noch Unerwartetes dazulernen. Die Buffets waren grossartig. Und so liess ich es mir an Weihnachten nicht nehmen, die Familie daheim mit einem grossen Fahrer Buffet zu überraschen: Es gab einen bunt gespickten Kohlkopf voller Würstchen und Käsestückchen, dazu Suppe, Salate und selbstgemachte Brote. Unvergesslich sind auch die Dampfnudeln – die Fahrer Dampfnudeln ziehen sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Meine Kinder lieben sie heute noch. Und das Hühnerrupfen gehörte ganz selbstverständlich zum Alltag in der Bäuerinnenschule. Beim Kopfabschlagen mussten wir nicht zuschauen, wenn wir nicht wollten. Aber ums Rupfen der toten Tiere kam keine herum.
Aus unserer Klasse hatten nur zwei, drei schon Bekanntschaft. Für mich war das absolut kein Thema. Ich fühlte mich nicht besonders selbstsicher, war eher rundlich. Ich fand, ich sei nicht attraktiv für einen Mann. Ich war auch zurückhaltend und etwas scheu. Ich weiss, dass die Fahrer Schwestern sogar hofften, ich würde vielleicht Kandidatin fürs Kloster werden. Zumal ich einige Jahre nach Abschluss meiner Ausbildung an der Bäuerinnenschule immer wieder als Haushälterin Ferienablösung in der klösterlichen Propstei machte. Aber mein Leben sollte eine andere Wendung nehmen. Heute denke ich oft, vielleicht wäre es gar nicht so schlecht gewesen, ins Kloster einzutreten …
In den Jahren nach dem Fahr arbeitete ich als Familienhelferin und da und dort in Haushaltungen und absolvierte daneben die Eidgenössische Bäuerinnenprüfung. Nun war ich diplomierte Bäuerin, was mir viel Selbstvertrauen und Sicherheit schenkte. Meine Schwester Hildi hatte inzwischen einen Freund, der mir eigentlich auch gefiel. Er war ein feinfühliger, herzlicher Mensch. Es tat weh, als er sich für sie und nicht für mich entschied. Ob mir dieser Mann helfen wollte, als er eines Tages fragte, ob ich zu einem interessanten Vortrag über Mineralien eines Nidwaldner Betriebshelfers mitkommen würde?
Ich war mittlerweile 28 Jahre alt und arbeitete als Hausbeamtin in der Bäuerinnenschule in Pfäffikon, Schwyz. Ich sagte zwar zuerst ab, liess mich dann aber überreden und ging an diesen Vortrag nach Stans. Ohne zu ahnen, dass dieser Abend mein Leben verändern sollte. Als der gewiefte Redner sich nach dem Vortrag zu uns an den Tisch setzte, wusste ich instinktiv, dass er mich anderntags anrufen würde. Und so war es. Er lud mich bald zu einem Treffen nach Luzern ein und erzählte mir, seine Mutter habe ihm aufgetragen, eine Frau zu suchen, die mit ihm zusammen den Hof schmeissen würde. Sie könne den Haushalt aus gesundheitlichen und Altersgründen nicht mehr machen. Der Nidwaldner imponierte mir irgendwie. Er war Meisterlandwirt und Betriebshelfer, im Winter Skilehrer und vor allem – Sepp fand ihn gut.
Bei meinem ersten Besuch auf dem Hof in Oberdorf bei Stans gefiel es mir dort nicht schlecht. Seine Eltern hatten sich mittlerweile im Dachstock des Bauernhauses eine Wohnung ausgebaut – die untere war frei! Als ich kam, wurde ich als künftige Schwiegertochter gemustert. Ich fühlte mich irgendwie gefangen und hatte das Gefühl: Das ist es jetzt. Ich weiss nicht, wieso. Es kamen vermutlich viele Faktoren zusammen. Meine beiden Brüder hatten unterdessen Bekanntschaft, meine Schwestern auch. Ich war als Einzige noch ledig. Ich suchte die Schuld klar bei mir, vielleicht war ich eben doch zu wählerisch! Ich konnte die Situation nicht durchschauen.
Mein Bräutigam und ich sahen uns nur an den Sonntagnachmittagen kurz. Wenn ich länger mit ihm reden wollte, winkte er ab, wich aus. Das hätte mir auffallen sollen. Mir war klar, er brauchte jemanden im Haus und im Bett! Ich sagte ihm: «Wenn du nicht Bauer wärst, würde ich Nein sagen. Aber ich weiss, ein Bauer braucht eine gute Frau.» Ich kam als tüchtige Haushälterin auf den Hof, und ich wollte ihn nicht enttäuschen. Ich dachte, vielleicht kann sich im Verlaufe der Jahre noch vieles zum Bessern verändern. Von meiner religiösen Haltung her wäre es für mich nie in Frage gekommen, vor der Heirat sexuellen Kontakt zu haben. Heute weiss ich, wir hätten länger miteinander leben müssen, um uns näher kennenzulernen. Am 28. April 1984 haben wir geheiratet. Und schon in der Hochzeitsnacht wusste ich … er ist es nicht!
Nach neun Monaten kam das erste Kind. In fünf Jahren habe ich fünf Kinder geboren: die erste Tochter 1985, der erste Sohn 1986, im Dezember 1988 die Zwillinge und 1990 noch ein Sohn. Unsere Sexualität lief nach Fahrplan. Das musste einfach sein. Ab und zu hatte ich Kopfweh oder die Periode. Mein Mann war wie ein Dampfkochtopf – und immer nach dem Sex war die Stimmung wieder etwas besser.
Das Haushaltungsgeld war stets knapp bemessen; dank Sparsamkeit und Selbstversorgung wusste ich mir zu helfen – aber Sonderwünsche gab es keine. Und so begann ich mit der Zeit, auswärts zu putzen, um eigenes Geld zu haben, und schaute immer, dass es irgendwie ging. Einer meiner Söhne spürte gut, wie ich mich fühlte, und sagte ab und zu: «Gäll, Mueti, hast wieder geweint.»
Mein Schwiegervater kam mit seinem Sohn nicht eben gut aus, und so arbeiteten meine Schwiegereltern für einige Jahre auf dem Gutsbetrieb des Klosters Disentis. Mit meiner Schwiegermutter verstand ich mich sehr gut – sie mochte unsere Kinder und auch mich.
Von Anfang an hatte ich kein gutes Gefühl. Aber ich konnte ihn erst verlassen, als ich schliesslich krank wurde. Im Jahr 2009 hatte ich eines Tages die Wahnidee, mein Vater sei gestorben, was überhaupt nicht zutraf. Ich war völlig überdreht, hatte einen Nervenzusammenbruch. Mein Sohn brachte mich in die Klinik nach Sarnen. Als ich dort vor den Ärzten stand und meine Situation schilderte, wusste ich, ich gehe niemals mehr heim. In diesem Moment ist mir ein schwerer Rucksack vom Rücken gefallen. Die erste Woche in der Klinik war schlimm, es hat mich durchgeschüttelt. Mein ganzes Leben kam an die Oberfläche. Nur einmal kam mein Mann mich besuchen und sagte: «Jetzt bist du endlich da, wo du hingehörst!»
Nach dem erholsamen Monat in der Klinik suchte ich mir eine Wohnung und Arbeit. Der Kurs als Pflegehelferin beim Schweizerischen Roten Kreuz war meine Rettung. Und bald schon bekam ich die Stelle bei der Spitex Nidwalden. Mein Glück. Und ich wollte die Scheidung. Finanziell ich stand vor einem Scherbenhaufen. AHV hatte ich während all der vielen Jahre als Bäuerin auf dem Hof nicht einbezahlt, denn Lohn hatte ich ja nie erhalten. «Vorsorge» oder «Pensionskasse»waren Fremdwörter für mich. Mein Mann hatte nicht in den Hof, sondern im Ausland investiert. Nur dank seinem Treuhänder, mit dem ich in meiner Not Kontakt aufnahm, kam es nicht zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung. Ich wusste, die Hälfte der Errungenschaft gehört mir. Ich drückte schliesslich beide Augen zu, habe dem Frieden zuliebe weniger gefordert, als mir zugestanden hätte … aber ich habe es geschafft, ohne Anwalt das Finanzielle zu regeln. Ich wollte es vermeiden, unnötig Geld für Anwälte hinauszuwerfen.
Jetzt bin ich finanziell einigermassen abgesichert. Ich muss wenigstens nicht Angst haben, nach der Pensionierung auf dem Sozialamt um Geld betteln zu müssen. Ich verdiene, und für mich selber brauche ich nicht viel. Aber um mein Auskommen im Alter mache ich mir schon Gedanken.
Was ich in meinem Arbeitsalltag erlebe, ist oft erschütternd. Ich sehe viele alte Menschen, die niemanden mehr haben. Sie sitzen nur noch da und warten. Das ist doch kein Leben mehr. Ich war mit Leib und Seele Bäuerin. Und ich hätte nie gedacht, dass ich es aus der Not heraus einmal aufgeben müsste. Den Traum, irgendwo auf der Welt noch einen liebenswürdigen Mann zu treffen, geb ich nicht auf. Aber die Chemie müsste schon stimmen. Sonst bleibe ich lieber allein.