Читать книгу Ausgerechnet Istanbul - Susann Teoman - Страница 5
Türkischer Deutschunterricht
Оглавление»Guten Morgen zusammen!«, begrüßte Frau Generes meine neue Klasse. »Guten Morgen!«, tönte es verhalten zurück. Frau Generes unterrichtete Mathe und Biologie, ausgerechnet die Fächer, die ich am meisten hasste.
»Lara Mavi?«, rief die Lehrerin und blickte über den Rand ihrer fragilen Metallbrille hinweg in die Klasse.
»Ja?«, meldete ich mich gelangweilt.
»Du sollst dich bitte in das Zimmer des Direktors begeben.«
»Ich? Warum denn?« Zu Hause in Bonn wurde man nur in das Rektoratszimmer zitiert, wenn man etwas echt Übles angestellt hatte. Ein überlaufendes Klo in die Luft zu jagen oder beim Mogeln während einer Klassenarbeit erwischt zu werden waren solche Vergehen, die dann im Zimmer der höchsten Schulautorität geahndet wurden. Soweit ich mich erinnerte, hatte ich in den paar Stunden, die ich hier war, noch kein Klo zum Explodieren gebracht.
»Das wirst du wohl dort erfahren«, antwortete Frau Generes kurz. »Du solltest dich beeilen, du hältst meinen Unterricht auf.«
Alle Augen waren auf mich gerichtet, manche blickten spekulierend, manche schadenfroh, andere wiederum einfach nur neugierig. Aus irgendeinem Grund ärgerte es mich, so begafft zu werden, als wäre ich das schwarze Schaf.
»Die hat bestimmt was ausgefressen«, raunte das Mädchen, das in der Reihe hinter mir saß, ihrer Tischnachbarin zu. Beide kicherten schadenfroh und ich drehte mich zornig um. Das Mädchen, das diese boshafte Bemerkung fallen gelassen hatte, hieß Ebru oder so ähnlich. Ich hatte vorhin jemanden ihren Namen rufen hören. Ebru war ein großes, schlankes Mädchen, auch sie hatte lange Haare, genau wie ich, nur war ihres dunkelbraun, fast schwarz, was einen verführerischen Kontrast zu den grünbraunen Augen bildete, die von dichten dunklen Wimpern umrahmt wurden. Gedanklich sortierte ich sie in die Kategorie »Hübsch, aber ohne Hirn« ein.
Ich wünschte, ich hätte nur ein Fitzelchen Gloss oder einen Hauch Wimperntusche auflegen dürfen! Und diese Schuluniform war auch nicht gerade nach meinem Geschmack, wo ich doch so tolle Klamotten hatte! Aber daran konnte ich wohl nichts ändern.
Ich steuerte auf die Tür zu, während die Lehrerin mit dem Unterricht fortfuhr. Wo war noch mal das Rektorat? Ah ja, gleich neben dem Lehrerzimmer im ersten Stock. Jetzt machte ich mir ernsthaft Gedanken darüber, warum ich dorthin zitiert wurde. Oh Gott, hoffentlich war meinen Eltern nichts zugestoßen! Diese Szenen kennen wir doch alle aus dem Kino, oder nicht? Ein Mädel wird zum Direktor zitiert, allerdings erledigt diesen Job im Film eine sanftmütige junge Lehrkraft mit Rehaugen und keine militante alte Schachtel, die mich im Geiste schon im Schulkerker vermodern sah. Nein, sicher war zu Hause alles in Ordnung.
Zaghaft klopfte ich an die dicke Eichenholztür. Ich war nervös. Zuerst dachte ich, ich hätte nicht laut genug geklopft und hatte schon die Faust erhoben, um es noch mal zu versuchen, doch dann erscholl ein gedämpftes »Herein!«, gefolgt von einem leisen Summen. Die Tür ließ sich ganz leicht öffnen. Ich betrat das Vorzimmer des Direktors, in dem eine Frau Ende fünfzig mit einem adretten silbernen Dutt auf dem Hinterkopf vor einem flimmernden Flachbildschirm saß und eifrig tippte.
»Der Direktor ist gleich fertig, du kannst solange hier auf dem Stuhl Platz nehmen«, erklärte sie freundlich in tadellosem Deutsch.
»Danke.« Ich setzte mich und wartete. Um mir die Zeit zu vertreiben, ließ ich meine Gedanken zum Ballett schweifen, malte mir aus, wie es wohl gewesen wäre, die Hauptrolle in Schwanensee spielen zu dürfen, und stellte mir den Applaus vor, der nach der Vorstellung aufbrandete. Ich hatte gerade das flauschige, matt glänzende Kostüm aus weißem Tüll und Federn vor Augen, das ich getragen hätte, als sich die Tür jäh öffnete und ein Junge mit dunkelblondem Haar und hellgrünen Augen aus dem Zimmer kam. Seine Miene wirkte verärgert.
»Du kannst jetzt hineingehen«, sagte die Sekretärin.
»Wie bitte?« Orientierungslos sah ich sie an. »Oh, jaja, natürlich.« Hochrot im Gesicht wandte ich mich der offenen Tür zu. Hatte ich den Typen wirklich angestarrt? Mann, wie peinlich. Aber er war attraktiv, das musste man ihm lassen. Nicht so groß und geheimnisvoll wie Noyan, aber da war ein gewisses Etwas an ihm, das man nicht leugnen konnte.
»Lara Mavi?« Hinter einem antiquierten Eichenholzschreibtisch saß ein schlanker Mann Mitte sechzig in einem gut sitzenden Anzug. Direktor Mattis war Deutscher, der Türkisch aber ebenso fließend beherrschte wie Englisch und Französisch, wie Papa mir berichtete.
»Sieht jung für sein Alter aus«, schoss es mir durch den Kopf. Seinen wachen Augen schien nicht die geringste Kleinigkeit zu entgehen.
Ich nickte. »Ja, das bin ich.«
Ich kam mir vor, als stünde ich vor einem Richter der spanischen Inquisition. Er musterte mich scharf, bevor er mich aufforderte, auf der braunen Ledercouch Platz zu nehmen.
»Ich werde nicht um den heißen Brei herumreden, Lara«, begann er ruhig. »Ich weiß, du bist neu an unserer Schule und weißt hier noch nicht so richtig Bescheid. Du kannst von Glück sagen, dass wir dich aufgenommen haben, bei deinem Notendurchschnitt hättest du hier eigentlich keine Chance gehabt. Allein die Tatsache, dass du aus Deutschland kommst und dass dein ehemaliger Klassenlehrer dich als nicht völlig hoffnungslosen Fall betrachtet, hat dafür gesorgt, dass du jetzt hier bist. Mag sein, dass du in der Vergangenheit, nun ja, sagen wir einmal salopp, nicht eben lernbegeistert warst. Hier erwarten wir mehr, viel mehr von dir. Dein Halbjahreszeugnis am Gymnasium war in meinen Augen eine einzige Katastrophe, nur in Sport und Deutsch konntest du glänzen. Das zeigt mir, dass du durchaus etwas leisten kannst, wenn du es nur willst. So, wie ich dich hier vor mir sehe, vermute ich, du gehörst zu den Schülern, die ich ›Spaßlerner‹ nenne. Gefällt dir der Unterricht, beteiligst du dich, wenn nicht, lässt du es bleiben und sitzt deine Zeit ab bis zur nächsten Stunde. Das geht nicht mehr, das solltest du wissen.«
So hatte noch nie jemand mit mir gesprochen. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte und ob überhaupt eine Antwort gefordert war, also schwieg ich und hielt dem Blick des Direktors mit hoch erhobenem Kopf stand.
»Ich hoffe, dass dir das zu denken gibt.«
Ich starrte den Mann an und schwieg weiter. Allmählich wurde ich wütend. Was sollte der Mist eigentlich? Es war ja nicht so, dass ich mich sehnlichst hierhergewünscht hätte, ich war hier, weil ich keine andere Wahl gehabt hatte. Wäre ich schon achtzehn, hätte mich keine Macht der Welt in dieses bescheuerte Land gebracht, darauf konnte der Alte Gift nehmen! Was bildete er sich eigentlich ein?
»Gut, dann kommen wir zum nächsten Punkt. Wie gesagt, es gibt Regeln, an die sich unsere Schüler und Schülerinnen halten müssen. Verhaltensregeln wie die, die ich eben erklärt habe, und Bekleidungsregeln, an die du dich nicht zu halten scheinst.«
»Aber ich trage doch die Uniform! Und Make-up benutze ich auch nicht!«, protestierte ich empört. Allmählich wurde mir das Ganze zu bunt.
»Das sehe ich. Aber dein Rock ist viel zu kurz, deine Absätze zu hoch und deine Haare sind gefärbt«, stellte der Rex sachlich fest.
»Das sind Strähnchen«, korrigierte ich ihn würdevoll und fügte in Gedanken hinzu: die mich das Taschengeld von zwei Monaten gekostet haben!
»Was auch immer.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das geht hier nicht. Bitte besorge dir flache schwarze Schuhe, die für den Schulalltag angemessen sind, und einen neuen Rock, der dir zumindest eine Handbreit bis an die Knie reichen sollte. Und so leid es mir tut, aber deine Haare musst du in ihren Ursprungszustand zurückfärben und danach solltest du sie nicht so herumwehen lassen, sondern sie mit einem Haarband oder einer Spange aus dem Gesicht halten.«
Ich war echt versucht, wütend aufzustehen, die Tür hinter mir zuzuknallen und diese ganze verdammte Schule zum Teufel zu wünschen.
»Was, wenn ich das nicht tun will?«, zischte ich böse.
Der Direktor schien Widerworte nicht gewöhnt zu sein, er hob erstaunt die Brauen und antwortete gelassen: »Dann kannst du dich an irgendeiner anderen Schule einschreiben lassen, die Wahl liegt natürlich bei dir.«
»Ich denke, das hier ist eine Privatschule.« Ich spürte, wie meine Wangen sich rot färbten.
»Ja, das stimmt. Eine Privatschule, in der Eltern uns sehr viel dafür zahlen, dass wir ihre Kinder dazu animieren, ihr Bestes zu geben, und ihnen Manieren beibringen, was bei dir offensichtlich bitter nötig ist. Du darfst jetzt gehen«, erklärte Herr Mattis energisch. »Bitte schließe die Tür hinter dir. Ach, und Lara?«
Ich hatte den Raum schon beinahe verlassen und drehte mich widerstrebend um. »Ja?«
»Ich erwarte, dass du dein Aussehen bis morgen veränderst. Schönen Tag noch.«
Wütend stapfte ich aus dem Zimmer. Dieser blöde Direx! Jetzt musste ich mein Haar braun färben, dabei hasste ich meine Naturhaarfarbe wie die Pest! Und diese unsägliche Uniform! Ich blickte an mir herab. Mama war dagegen gewesen, den Rock so stark zu kürzen, aber ich hatte sie ausgetrickst, indem ich die Stecknadeln, mit denen sie den Rock an der Stelle gekennzeichnet hatte, an der die Schneiderin ihn kürzen sollte, einfach ein wenig höher gesteckt hatte. Als Balletttänzerin hatte ich schließlich durchaus vorzeigbare Beine, warum also sollte ich die verstecken? Meine Mutter hatte den Rock ahnungslos in die Änderungsschneiderei gebracht, während ich die nötigen Schulbücher gekauft hatte, und war entsetzt, als sie später sah, wie kurz der Rock war. Aber da war es schon zu spät gewesen, eine Gegenmaßnahme zu ergreifen.
Ich klopfte an die Tür meines Klassenzimmers, öffnete sie, trat auf das Nicken der Lehrerin hin ein und huschte lautlos zu meinem Platz zurück. Überrascht hielt ich inne. Der Nebenstuhl war plötzlich besetzt.
Der Junge, den ich vorhin so angestarrt hatte, als er aus dem Zimmer des Direktors kam, saß nicht minder überrascht neben meinem Platz. Frau Generes hielt in ihrem Monolog inne und bemerkte trocken: »Lara, willst du weiterhin wie zur Salzsäule erstarrt mitten im Raum stehen oder erweist du uns allen die Ehre und setzt dich endlich?«
Tiefrot bis unter die Haarwurzeln glitt ich auf meinen Stuhl. Einige Minuten vergingen und Frau Generes hatte sich der Tafel zugewandt, auf die sie nun eine Formel schrieb. Allgemeines Papierrascheln kündigte an, dass dies womöglich relevant für die kommende Klassenarbeit war und aufgeschrieben werden sollte. Ich stöhnte leise. Wie sollte ich den verpassten Stoff nur aufholen? Was sie da an die Tafel kritzelte, war völlig unverständliches Zeug für mich.
»Mach dir nichts daraus, die Generes hat eben eine spitze Zunge«, flüsterte der Junge neben mir und grinste. Seine grünen Augen musterten mich interessiert und für den Bruchteil einer Sekunde vermittelte er mir den Eindruck, so etwas wie eine Laborratte zu sein. Was für ein Unsinn! Er versucht nur, nett zu sein!, schalt ich mich in Gedanken.
»Ich bin Osman.«
»Lara.«
Die Lehrerin hatte sich inzwischen wieder der Klasse zugewandt und warf einen prüfenden Blick über den Rand ihrer ständig herunterrutschenden Brille auf uns. Dann schob sie ihre Brille mit dem Zeigefinger wieder nach oben, drehte sich zur Tafel und schrieb weiter.
»Was machst du nach der Schule?«, wisperte Osman.
Ich wollte im ersten Moment antworten: »Nichts Besonderes«, als mir einfiel, dass ich in Wahrheit noch eine Menge zu erledigen hatte, ich musste meinen Rock ändern lassen, Schuhe kaufen und zum Friseur gehen und dann waren da noch die Hausaufgaben! Also schüttelte ich bedauernd den Kopf. »Hab ein paar Dinge zu erledigen.«
»Aha.« Osman nickte verständnisvoll. »Eine Uniform-Verschlimmbesserung, richtig?«
Ich konnte nicht anders, jetzt musste ich auch grinsen. »Ja, woher weißt du das?«
»Hab ich auch schon hinter mir. Da ging es um die Farbe meines Hemdes und meiner Socken. Heute war ich beim Direktor, weil er findet, dass meine Haare zu lang sind. Im Ernst.« Osman nickte gleichmütig. »War im Sommer in Alaçati surfen und hab mich nicht so sehr um die Länge meiner Haare gekümmert.«
Ich nickte verständnisvoll und schaute zweifelnd zur Tafel. »Sollten wir das, was sie da aufschreibt, nicht besser notieren?«
Er lächelte. »Klar, sollten wir.«
Erleichtert packte ich mein Heft und meine Stifte aus und lächelte dabei still vor mich hin. Wenigstens einer, der nett war!
Natürlich beschwerte ich mich nachmittags bei meiner Mutter, obwohl ich wusste, dass das wenig Sinn haben würde. Mama sagte nur schlicht: »Wir sind neu hier und noch fremd, auch wenn wir türkischer Abstammung sind. Wir können nicht erwarten, dass das Land sich uns anpasst. Vielmehr müssen wir uns dem Land und den Sitten hier anpassen, verstehst du das?«
Ich schüttelte trotzig den Kopf. »Wir sind doch noch immer wir und keine anderen Leute. Nur, weil wir jetzt woanders leben, heißt das doch nicht, dass wir unseren Charakter verbiegen und unser Aussehen ändern müssen, damit wir sind wie alle anderen!«
Mama nickte verständnisvoll. »Ich verstehe, dass es dir schwerfällt, dich hier zurechtzufinden. Aber nun stell dir mal vor, es wäre umgekehrt. Ein Araber, Türke oder Inder käme in deine Klasse in Deutschland, würde darauf bestehen, dass man ihn versteht, obwohl er kein Deutsch spricht. Und stell dir vor, er würde sich weigern, sich so anzuziehen wie ihr. Er würde doch Aufmerksamkeit erregen, oder? Manche von euch würden das positiv finden, aber viele würden auch sagen, dass er sich anpassen soll. Anpassen bedeutet ja nicht, dass man all seine Ideale und Vorsätze über Bord wirft. Es bedeutet, dass man sich bemüht, das neue Land und die Leute zu verstehen, mit denen man ab sofort zusammen ist. Es bedeutet, auch den anderen eine Chance zu geben, dich kennen- und mögen zu lernen, ihnen eine Möglichkeit zu geben, sich dir zu nähern. Du bleibst Lara, ganz gleich, welche Haarfarbe du hast, ob dein Rock lang ist oder kurz oder ob du eine Hose trägst, verstehst du?«
Ich schüttelte wütend den Kopf. »In Bonn war ich jemand, aber hier bin ich ein Niemand, noch dazu ein Niemand, den keiner leiden kann! Und ihr habt euch auch verändert, Mama! Du warst in Deutschland ganz anders. Hier bist du immer fort, shoppen oder in irgendwelchen Möbelgeschäften, was weiß ich! Und Papa kommt nie vor zehn Uhr nach Hause! Wir verbringen ja kaum noch einen Abend miteinander! Früher, da haben wir immer zusammen zu Abend gegessen und uns gegenseitig von unseren Erlebnissen erzählt, aber jetzt lebt jeder für sich und niemand interessiert sich mehr für den anderen!«
»Engelchen, das ist doch Unsinn! Natürlich, ich gebe ja zu, dass ich das erste Mal in einer so großen Stadt lebe und dass ich mich natürlich sehr für sie interessiere, außerdem habe ich noch einen Berg von Dingen zu erledigen, aber ich bin noch immer deine Mutter und für dich da, wenn du mich brauchst. Du kannst doch nicht erwarten, dass ich den ganzen Tag zu Hause hocke und darauf warte, dass mein Mann und meine Tochter heimkommen? Du solltest mich besser kennen, wirklich!« Sie schnalzte mit der Zunge. »In Bonn hat es dir nie etwas ausgemacht, wenn ich tagsüber arbeiten war und erst spät heimgekommen bin.«
»Aber da war ich ja auch nicht so verdammt allein!«
»Ach, Schatz!« Mama machte Anstalten, mich zu umarmen, aber ich war schon zur Tür gerannt und rief: »Lass mich einfach in Ruhe! Es ist dir doch ohnehin egal, wie es mir geht!« Ohne mir die Mühe zu machen, die Schuluniform auszuziehen, rannte ich in mein Zimmer, schnappte mir eine Jeans und den zweiten Schulrock, den meine Mutter mir vorsorglich gekauft hatte, und rannte zur Tür hinaus.
Im Fahrstuhl prallte ich gegen Noyan.
»Nanu, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?« Erstaunt nahm er meine aufgelöste Erscheinung in Augenschein und verweilte dabei einen Augenblick zu lange auf meinem viel zu kurzen Rock und den Schuhen mit den hohen Absätzen.
»Du bist auch nicht besser als alle anderen!«, fauchte ich, weil ich den Spott in seinen Augen bemerkt hatte, und drängte mich an ihm vorbei hinaus. »Lara! Warte mal, was ist denn los?«, rief er mir hinterher, doch ich hatte bereits ein Taxi angehalten und war davongebraust.
Das Gute an Istanbul ist, dass Taxis nur wenig kosten und einen in Windeseile überallhin transportieren können. Die Schneiderin zu finden, war nicht weiter schwierig, die Adresse stand auf der Tüte, in der sich mein zweiter Uniformrock befand, und der Taxifahrer hielt nach nur wenigen Minuten Fahrt. Das Atelier befand sich neben einem kleinen Supermarkt, der mehr an einen Tante-Emma-Laden erinnerte. Das Geschäft der Schneiderin war etwas, das ich in Deutschland in dieser Form noch nie gesehen hatte. Ein großes, schon ziemlich verlottert aussehendes Schaufenster mit ausgefransten und von der Sonne ausgebleichten Damastvorhängen und einer überdimensionalen feuerroten Schere kennzeichnete den Laden als Änderungsschneiderei. Zwei altersschwache Klappstühle und ein Eimer mit einem Brett darauf schienen von der Inhaberin gerne für Teepausen genutzt zu werden.
Im Inneren sah es erst recht merkwürdig aus. Direkt am Schaufenster standen zwei Nähtische mit altmodischen Nähmaschinen. Die Geräte aus schwarzem Metall mit Verschnörkelungen und kleinen, kunstvoll wirkenden Rädchen sahen aus, als gehörten sie in ein Antiquitätengeschäft.
»Singer 1926«, bekräftigte eine Aufschrift auf der Nähmaschine meine Vermutung. Wahnsinn! Das war ein echtes Museum! Der ganze Laden maß vielleicht fünfzehn Quadratmeter, eher weniger als mehr, und war lang und schmal. Das Schaufenster mit den beiden Tischen davor war schon alles, was an die Vorderfront passte, rechts neben dem Fenster stand die Tür offen und ließ ein wenig frische Luft herein und an der rechten, lang gestreckten Wand gleich hinter der Tür stand ein altersschwacher Diwan, ein Möbelstück, das zugleich als Bett und Couch fungierte und mit langen, hart gefüllten Kissen in allen möglichen, nicht zueinanderpassenden Farben und Mustern dekoriert war und gerade deswegen eine heimelige Gemütlichkeit ausstrahlte. Dem gegenüber befand sich ein quer im Raum stehendes Billy-Bücherregal mit einem Vorhang davor und dahinter trennte ein unheimlich kitschiger Vorhang aus kunterbunten Plastikperlen den Bereich der Teeküche ab, in dem die Schneiderin wohl ihre Mahlzeiten zubereitete.
»Hallo, ist da jemand?«, rief ich schüchtern ins Geschäft. Obwohl ich kein Problem hatte, Türkisch zu verstehen, konnte ich es doch nicht so fließend sprechen wie zum Beispiel meine Mutter, die von sich selbst behauptete, ihr Türkisch wäre schon sehr eingerostet. Ich musste noch immer bei der Wahl meiner Worte nachdenken, obwohl mir das Sprechen von Tag zu Tag leichter fiel. Deshalb sprach ich nur ungern und hielt mich lieber zurück.
»Nuray kommt gleich wieder, sie ist nur kurz etwas besorgen«, antwortete mir eine freundliche Stimme. Auf dem Diwan saßen drei ausgelassen miteinander schnatternde Frauen, die sich lebhaft über ihre Wechseljahre ausließen. Jede hatte eine Näharbeit in der Hand, die fleißig bearbeitet wurde. »Setz dich doch, Herzchen, wie wäre es mit einem schönen Tee und einem Stück Baklava?«
Noch ehe ich antworten konnte, waren die Frauen gemischt und hatten mir einen Platz auf dem Diwan frei gemacht und mir eines der typischen kleinen Teegläser und einen Teller mit Baklava in die Hand gedrückt. Baklava, eine türkische Süßigkeit aus hauchdünnem Blätterteig, der mit Walnüssen oder gemahlenen Pistazien gefüllt und in Sirup getränkt ist, war eigentlich keine Nascherei nach meinem Geschmack. Aber die Damen waren so nett, dass ich nicht unhöflich sein wollte und gehorsam am Tee nippte und ein Stück der Süßigkeit aß, die doch überraschend gut schmeckte.
»Das ist hausgemacht«, erklärten sie mir. Die Frauen tratschten weiter und beachteten mich nicht weiter.
»Arbeiten Sie alle hier?«, erkundigte ich mich höflich, um Konversation zu machen.
»Wie kommst du darauf?«, fragte mich eine Frau mit blond gefärbtem Haar lächelnd.
»Na ja, Sie nähen alle.«
Sie lachte. »Oh, Mädels, das Kind hat recht! Wir sollten uns von Nuray für unsere Dienste bezahlen lassen!«
»Das könnte euch so passen! Ihr trinkt so viel Tee, dass man damit problemlos einen Swimmingpool füllen könnte! Ihr solltet mich dafür bezahlen, dass ich euch so umsorge!« Nuray, die Schneiderin, war in den Laden gekommen und wurde von ihren Freundinnen lebhaft begrüßt.
Die Blonde zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Nicht, dass du etwas Falsches denkst, Kleine. Nuray ist seit unserer Kindheit unsere Freundin, wir kommen jeden Tag zu ihr, sehen, ob wir ihr unter die Arme greifen können, und quatschen dabei ein bisschen.«
»Und Sie bekommen dafür kein Geld?«, fragte ich mit großen Augen.
»Nein, natürlich nicht. Sie ist unsere Freundin.« Sie sagte das ganz selbstverständlich, als müsse jeder seiner Freundin kostenlos helfen. So etwas konnte ich mir in Deutschland nicht vorstellen. Klar, wenn eine von meinen Mädels in Schwierigkeiten wäre, würde ich tun, was ich konnte, um sie zu unterstützen. Aber würde ich jeden Tag bei ihr vorbeischauen und für sie arbeiten, ohne auch nur daran zu denken, Geld dafür zu verlangen?
»Wie kann ich dir helfen?«, wandte Nuray sich schließlich an mich.
»Mein Rock ist zu kurz. Ich soll einen längeren Rock tragen, hat der Direktor gesagt. Da bin ich also.«
Nuray schnalzte mit der Zunge. »Recht hat er! Schätzchen, mit einem solchen Rock könntest du nicht einmal zwei Stationen mit dem Bus fahren, ohne belästigt zu werden. Und das kann doch wohl kaum deine Absicht sein, oder? Du bist auch so ein hübsches Mädchen, man muss dein Höschen nicht sehen.«
Ich wurde hinter das Billy-Regal gescheucht und erst jetzt dämmerte mir, dass die Rückfront mit dem Vorhang davor eine Umkleidekabine darstellte. Die Frauen einigten sich auf eine »anständige« Länge, ohne mich nach meiner Meinung zu fragen. Zu meinem grenzenlosen Erstaunen machte mir das gar nichts aus.
»Und um den anderen Rock musst du dir auch keine Gedanken machen, ich nähe das, was ich hier abschneide, dort an. Das wird nicht weiter auffallen. Du kannst beide heute Abend gegen sechs abholen, okay?«
»Also zu meiner Schulzeit waren gefärbte Haare ja auch noch verboten«, bemerkte eine der Frauen, ohne von ihrer Näharbeit aufzusehen.
»Ja ... äh ... das ist jetzt auch so, aber ich ... ich weiß einfach nicht... Ich meine, ich kenne keinen guten Friseur«, stotterte ich.
»Wenn’s weiter nichts ist! Gleich weiter unten an der nächsten Kreuzung stößt du auf einen Friseursalon. Er ist nicht teuer und ich kenne den Besitzer. Er versteht sein Handwerk. Sag ihm, Nuray hätte dich geschickt, dann wird er dir einen guten Preis machen«, empfahl die Schneiderin mir freundlich.
Ich nickte dankbar. Dieser Laden gefiel mir, es war weniger, als würde man etwas erledigen. Vielmehr fühlte man sich, als würde man seine Großmutter besuchen. Als ich mit meiner Jeans und nur der weißen Bluse darüber bekleidet wieder in die Sonne trat, ging es mir wesentlich besser.
Ich spazierte die belebte Straße hinunter und atmete die sommerliche Luft tief ein. Es erstaunte mich noch immer, wie warm es hier noch war. Die Straße war staubig und voller Leben, auf der anderen Straßenseite unterhielten sich zwei ältere Herren und lachten kameradschaftlich, ein Stück weiter hinter ihnen kaufte eine junge Mutter mit einem kleinen Kind an der Hand ein Schälchen Brombeeren, wobei sie die Schale sehr genau prüfte und den Preis ein wenig herunterhandelte.
Ich kam an einem Laden vorbei, in dem es ausschließlich Kopien von DVDs, PC- und Konsolenspielen gab. Ein Spiel: 4 TL, drei Spiele/Filme: 10 TL , erklärte ein handgeschriebenes Schild an der Ladentür. Obwohl Raubkopien auch in der Türkei offiziell verboten waren, gab es fast an jeder Straßenecke einen solchen Laden, der kopierte Filme oder Spiele verkaufte. An einem ähnlichen Laden war ich auch neulich mit Papa vorbeigekommen.
»Ist es nicht illegal, Kopien zu verkaufen?«, hatte ich mich gewundert.
»Stimmt. Aber nur dann, wenn die Verkäufer sich dabei erwischen lassen«, erläuterte er.
»Was soll denn daran schon schwer sein? Da muss doch nur ein Polizist vorbeikommen!«
Papa schüttelte den Kopf. »So funktioniert das nicht. Wenn ein offiziell gekleideter Beamter hereinkommt, verschwinden die Raubkopien flink unter der Ladentheke und nur die Original-DVDs bleiben in den Regalen. Sobald der Polizist wieder fort ist, geht der Verkauf weiter. Und Bestechung ist natürlich auch ein Thema.«
»Bestechung?«
»So ist das hier nun einmal. Das Gesetz ist ein wenig dehnbarer als in Deutschland.«
Auch der Friseursalon hatte ein Schaufenster, das die gesamte Vorderfront bestimmte. Der Fußboden war mit rosafarbenem Granit ausgelegt und schwarze Frisierstühle aus Lederimitat sowie eine rosafarbene Couch aus demselben Material fielen mir zuerst auf. Die Spiegel waren groß, fast überdimensional, und vor jedem Spiegel befand sich ein an die Wand montiertes schwarzes Lacktischchen.
»Irgendwie sieht das ein bisschen wie in einem Bollywood-Film aus«, schoss es mir durch den Kopf.
»Hallo!«, begrüßte mich ein Mann mit grauem Haar und freundlichen braunen Augen.
»Hallo! Ich will mir die Haare färben lassen.«
»Na, dann setz dich doch schon mal, junge Dame. Dürfen wir dir etwas zu trinken anbieten?«
»Gern.« Ich bestellte ein Mineralwasser und machte es mir auf einem der Frisierstühle bequem.
»So, dann erzähl mal, was genau hast du dir vorgestellt?«
»In der Schule sind Strähnchen verboten, deshalb soll ich mein Haar in meine Naturfarbe zurückfärben«, erklärte ich. »Ach ja, und ich soll Ihnen ausrichten, dass Nuray, die Schneiderin, mich schickt.«
»Okay, dann werden wir deinen Haaren ganz besonders viel Aufmerksamkeit schenken, wenn die gute Nuray dich schickt. Hier sind ein paar Magazine, für den Fall, dass es dir zu langweilig wird.« Er lächelte und stand auf, um die Farbe anzurühren, die er mir wenig später auftrug.
»Mann, das ist ja ganz schön dunkel!«, seufzte ich, als ich meine neue Haarpracht später in Augenschein nahm.
»Ist aber deine Naturhaarfarbe«, entgegnete der Friseur. Meine Haare waren jetzt wieder nussbraun.
»Schlammfarbe«, stellte ich laut fest und der Friseur, der Bora hieß, lachte.
»Das habe ich noch nie gehört. Aber diese Farbe steht dir sehr viel besser, wenn ich das sagen darf.«
»Sehe ich so denn nicht wie zwölf aus?« Ich war mit meinem Spiegelbild noch immer nicht wirklich zufrieden.
»Nein, das finde ich gar nicht. Ehrlich gesagt siehst du damit frisch und jung aus. Und falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Du bist ein Herbsttyp, das heißt, dass diese Farbe viel besser zu dir passt als das helle Blond. Merkst du, wie rosig deine Wangen wirken und wie deine Augen leuchten? So, wie es im Grunde sein sollte.«
Aber blond hatte ich ausgesehen wie achtzehn, wenn nicht sogar wie zwanzig, und das war in meinen Augen auf alle Fälle besser. »Da kann man wohl nichts machen«, seufzte ich wehmütig.
»Pass mal auf, wir verpassen dir jetzt auch noch einen modernen Haarschnitt, dann wirst du schon merken, dass du viel besser aussiehst!«, schlug er vor.
»Aber nur an den Spitzen. Es war eine Heidenarbeit, sie zu züchten!«
Bora nickte zustimmend und machte sich sofort an die Arbeit. Nach einer weiteren Stunde war ich fertig und musste widerstrebend eingestehen, dass die neue Lara zwar fremd wirkte, aber trotzdem nicht so übel aussah, wie ich befürchtet hatte. Mein Haar war glatt und glänzend geföhnt und wehte mir seidig über die Schultern und der modische Pony betonte meine Augen.
»Gefällst du dir?«
Ich nickte zufrieden. »Vielen Dank!«
Als ich mich auf den Weg zur Bağdat Caddesi machte, war mir schon leichter ums Herz. Ich fühlte mich so wohl wie noch nie seit meiner Ankunft in Istanbul.
Wir waren am Meer entlang in Richtung Bostanci gefahren. Der Taxifahrer hatte mich am vorderen Ende der Straße abgesetzt, dort, wo die legendäre Shoppingmeile beginnt.
Gut gelaunt bummelte ich vor mich hin, erstaunt von den Ausmaßen dieser Straße. Eigentlich, so schien es, sollte die Straße vierspurig in nur eine Fahrtrichtung befahren werden, doch die Istanbuler Autofahrer, die in einem wirren Chaos in viel zu schnellem Tempo mit überlauter Musik in todschicken Wagen von Bostanci in Richtung Kiziltoprak brausten, schien das nicht viel zu kümmern. Mal waren es drei, mal aber auch sechs Spuren. Und so wie ich das Ganze beobachtet hatte, schien alles ohne Unfälle abzulaufen. Echt erstaunlich!
Ich spazierte auf der linken Seite, aber Geschäfte gab es auf beiden Straßenseiten reichlich. Designerläden wie Louis Vuitton, Burberry, Chanel, Tommy Hilfiger, Gucci, ein Laden von Ralph Lauren, aber auch erschwinglichere Marken wie Zara, Mango und Benetton standen kunterbunt durcheinander neben Filialen von Fastfoodketten, teuren Restaurants und Trendcafés. Ich bummelte durch sämtliche Schuhgeschäfte und ein paar Kaufhäuser, ehe ich ein paar Schuhe entdeckte, von denen ich hoffte, dass der Direktor sie nicht in die Müllverbrennungsanlage beordern würde und die mir zudem auch noch gefielen. Zufrieden mit mir selbst und der Welt ging ich weiter, verspeiste auf dem Weg ein Ben&Jerrys-Eis, das unglaublich gut schmeckte, so gut, dass ich mir bei Häagen Dasz gleich noch eins genehmigte. Ich war so in meine Schlemmerei vertieft, dass ich nicht besonders auf den Fußgängerweg achtete. Warum auch? In Deutschland schaute man ja auch nicht ständig auf seine Füße, wenn man shoppen war.
Ahnungslos schlendert ich dahin und dann – wumm! – landete ich in einem engen Loch, das ungefähr so tief war, wie ich groß bin. Und das schöne Eis befand sich nicht länger in meiner Hand, sondern auf meiner Wange und in meiner neuen Frisur. Aber das war zweitrangig. Schlimmer war, dass ich feststeckte.