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Ein Freund in der not

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»Hilfe!«, krächzte ich atemlos, dann immer lauter. »Bitte helfen Sie mir!«

Die Leute, die an mir vorbeigingen, sahen sich um, zuckten aber die Schultern, als sie nichts Außergewöhnliches bemerkten, und marschierten einfach weiter. Kunststück, ich befand mich ja auch nicht mehr auf Augenhöhe mit den Menschen, sondern eher auf Schienbeinhöhe. Wer schaute da schon hin?

»Ich bin hier unten!«, hauchte ich, denn der Sturz hatte mir die Luft aus den Lungen gequetscht und ich hatte das Gefühl, jederzeit in Ohnmacht zu fallen. Oh Gott, wie peinlich! Wäre es nicht schon passiert, ich würde vor Scham im Boden versinken!

»Bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass mich keiner von der Schule so sieht!«, betete ich inbrünstig.

Da reichte mir jemand eine Hand. »Komm, ich helfe dir.« Fast hatte ich Angst, das Gesicht, das zur Hand gehörte, anzusehen. Aber es war Gott sei Dank niemand, den ich kannte, ein Mädchen mit dunkelbraunem, langem Haar und rehbraunen Augen, aus denen freundliches Mitgefühl sprach.

»Danke!« Erleichtert schlug ich ein und mit einigen Mühen schafften wir es, mich aus dem engen, tiefen Loch herauszumanövrieren.

»Danke, wirklich, allein wäre ich da nie herausgekommen«, wiederholte ich, doch das Mädchen lachte freundschaftlich. »Ach, schon gut. Die Idioten von der Stadt tun so was ständig, sie buddeln Krater mitten auf Straßen oder in Fußgängerzonen und lassen sie dann ohne Warnung offen stehen, das geht oft wochenlang so und du bist nicht die Einzige, der so etwas passiert, leider.«

»Wieso, kennst du noch jemanden, der in so eine Grube gefallen ist?«, fragte ich, während ich mir den Staub von der Jeans klopfte.

Sie nickte. »Mein Freund und ich waren vor zwei Jahren in Beyoğlu unterwegs. Dort war gerade ›Habitat‹, irgendein Projekt zur Verschönerung der Stadt. Mein Freund Serkan und ich waren frisch verliebt und hatten nur Augen füreinander. Dann habe ich mal kurz eine Auslage im Schaufenster bewundert und Serkan war von einer Sekunde auf die andere verschwunden. Im wahrsten Sinne des Wortes vom Erdboden verschluckt, wie ich einen Moment später festgestellt hatte.«

Ich stimmte in ihr Lachen ein.

»Darf ich dich zum Dank vielleicht zu irgendetwas einladen?«, schlug ich vor, denn ich mochte ihre natürliche Art, sie erinnerte mich ein wenig an Saskia.

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nett, aber ich muss leider weiter, zur Fahrschule. Aber vielleicht sehen wir uns ja morgen in der Schule?«

»In der Schu...?«

»Du kennst mich nicht, aber ich habe dich schon gesehen, du bist in der Zehn, ich bin zwei Klassen über dir.«

»In Noyans Klasse?«, rutschte es mir heraus und ich wurde rot.

»Soso, DER ist dir also aufgefallen, ja?«, neckte sie mich.

»Nein, er ist nur ... äh ... mein Nachbar.«

»Ich heiße übrigens Seval.«

»Lara.«

»War nett, mit dir zu reden, bis demnächst!« Sie winkte und lief zügig davon, wobei sie gekonnt die Massen der Menschen teilte, die sich vor ihr herschoben.

Zum Weitergehen war ich jetzt zu müde. Ich überquerte eine Ampel und hielt von der rechten Straßenseite aus eines der gelben Sammeltaxis, einen Dolmuş an. Die fuhren fast an meiner Haustür vorbei und kosteten nur fünfzig Cent.

Im Spiegel des Fahrstuhls bemerkte ich, dass ich noch immer Eis in den Haaren kleben hatte. Es war inzwischen zu einer unappetitlichen gräulichen Masse zusammengetrocknet, aber merkwürdigerweise störte mich das nicht besonders. Ich kicherte leise, als ich mir vorstellte, wie ich so halb in dem Loch versunken ausgesehen haben musste.

»Du bist wahrhaftig das merkwürdigste Mädchen, das ich je kennengelernt habe, kleine Nixe«, ertönte es plötzlich hinter mir.

Erschrocken drehte ich mich um. »Wieso?«

»Heute Mittag noch habe ich gedacht, jemand wäre gestorben oder so etwas, und jetzt verliebst du dich gerade in dein Spiegelbild, wie’s aussieht.« Noyan grinste.

»Und wenn schon.« Ich bemühte mich nach Kräften, nicht rot zu werden, und drehte mich so, dass Noyan die Eisreste in meiner neuen Frisur nicht sehen konnte. »Dafür, dass mich euer verdammter Direx gezwungen hat, mich umzustylen, sehe ich doch nicht übel aus, finde ich.«

Noyan musterte mich. »Tust du das öfter?«

»Was? Lachen?«

»Ich meinte, ob du dir ständig durch Eigenlob schmeichelst. Steht dir nicht gut zu Gesicht, weißt du.«

Ich schnappte empört nach Luft, wusste aber nicht, was ich sagen sollte.

»Schönen Abend noch!« Er winkte mir zum Abschied, bevor die Fahrstuhltür sich schloss und er dahinter verschwand.

»Vollidiot!« Ich nahm mir fest vor, nicht mehr an ihn zu denken. Trotzdem, irgendwo in meinem Kopf spukten seine braunen Augen herum und ließen sich einfach nicht mehr vertreiben, so sehr ich es auch versuchte, deshalb setzte ich mich an mein nagelneues Netbook und beschloss, meine Eindrücke aufzuschreiben.

»Roman oder Drehbuch?«, überlegte ich laut. Ich hatte schon mal versucht, einen Roman zu schreiben, dann aber frustriert wieder aufgegeben, weil ich am Ende gar nicht mehr wusste, wovon das Buch eigentlich handeln sollte.

»Also Drehbuch«, entschied ich spontan und klickte das Programm dafür auf. Die Form war schon festgelegt, ich musste im Grunde nur noch die Regieanweisungen, Dialoge und handelnden Personen eingeben. War gar nicht so schwer, wie ich gedacht hatte, und Spaß machte mir das Ganze außerdem! Auf jeden Fall war das doch kreativer, als Tagebuch zu führen.

Sehr zu meiner Erleichterung war mein Aussehen vom nächsten Tag an kein Thema mehr. Meine Klassenkameraden behandelten mich wegen meines schlechten Türkisch mit freundlicher Nachsicht und das ärgerte mich maßlos, sodass ich meistens übellaunig war und Gespräche mit ihnen mied. Ein paar Leute hatten am Anfang versucht, mit mir zu reden, sie stellten mir Fragen darüber, woher ich kam und wo ich jetzt wohnte, aber ich antwortete nur knapp und tat dann immer so, als würde ich mich in die Lektüre irgendeines Buches vertiefen, sodass sie nach kurzer Zeit aufgaben und mich in Ruhe ließen. Das war mir auch lieber. Ich wollte weder die Stadt noch die Leute, die sie bewohnten, mögen.

Die meisten in der Klasse hatten wohl den Eindruck, dass mein IQ gerade noch ausreichte, eine Banane zu schälen. Ob das wohl an meinen Leistungen im Unterricht lag? Ich zögerte, mir dies selbst einzugestehen. Gerade jetzt fragte der Geografielehrer: »Lara, lass uns mal testen, wie weit du bist. Nenne mir bitte die Hauptstadt von Amerika.«

»New York«, platzte ich heraus. Verhaltenes Kichern machte sich breit.

»Und die Hauptstadt der Türkei?«

»Istanbul«, antwortete ich selbstsicher. War doch gar nicht so schwer! Warum lachten die bloß schon wieder? Verunsichert blickte ich mich um. Das Lachen wurde lauter. Selbst die Mundwinkel des Lehrers zuckten verdächtig. »Und dann ist die Hauptstadt von Deutschland ...?

»Berlin, natürlich.«

»Gott sei Dank! Zwei falsche, eine richte Antwort, der Kandidat. Die Hauptstadt der Türkei ist ...?« Suchend blickte er sich in der Klasse um. »Ja? Ebru?«

»Ankara, natürlich«, äffte sie meinen Tonfall höhnisch nach und hatte damit die Lacher auf ihrer Seite.

»Und die Hauptstadt von Amerika?«

»Nicht New York, sondern Washington«, antwortete ein Junge. Ich rutschte in meinem Stuhl so weit nach unten, wie ich konnte. Natürlich hatte ich das gewusst, ich Esel! Warum hatte ich nur so dämliche Antworten gegeben?

»Sehr gut!« lobte der Lehrer. »Und Lara?«

»Ja?« Ich konnte meine eigene Stimme kaum hören.

»Du solltest dir gelegentlich mal einen Atlas ansehen.«

»Ja.« Ging es noch peinlicher? Hinter mir wurde geflüstert und gelacht.

Im Türkischunterricht ging es gerade so weiter. Türkisch konnte ich leidlich gut sprechen, es zu schreiben hatte ich nie gelernt. In keiner deutschen Grundschule lernt man so etwas und das Türkisch meiner Eltern ist mündlich zwar besser als meines, aber schriftlich haben auch sie Probleme. Das Alphabet ist anders als im Deutschen, es gibt zum Beispiel zwei »i«, eins mit Punkt darauf, das man so liest, wie im Deutschen und eins ohne Punkt, das wie ein unbetontes »e« ausgesprochen wird, wie in »Sonne«. Ein kleiner, aber ziemlich signifikanter Unterschied, der die Bedeutung eines ganzen Wortes verändern kann, aber hey, woher sollte ich das wissen?

»Lara, lies uns doch bitte mal deine Hausarbeit vor«, forderte der Türkischlehrer mich auf, ein bauchiger, schnurrbärtiger kleiner Mann mit streng blickenden Augen. Ich schluckte. Türkisch fiel mir fast noch schwerer als Mathe. In unserer Hausarbeit ging es darum, was wir mit unserer Freizeit anfingen. Wir sollten berichten, was wir an einem schulfreien Tag machen.

Stockend begann ich: »Bugün canim çok sikildiği için ...« Brüllendes Gelächter unterbrach mich und der Lehrer wurde hochrot.

»Wenn du das mit Absicht tust, landest du beim Direktor«, warnte er mich mit gepresster Stimme.

»Mit Absicht? Was denn?«, fragte ich in meinem mangelhaften Türkisch.

Der Lehrer winkte hektisch ab. »Egal, jemand anders soll vorlesen. Du da!« Die Klasse lachte noch immer und mir traten Tränen in die Augen. Ich senkte den Kopf, damit niemand mich so sah, diese Genugtuung würde ich ganz sicher niemandem verschaffen! Aber Osman stupste mich an und reichte mir einen Zettel. Canim sikiliyor heißt: Mir ist langweilig. Canim sikiliyor dagegen heißt, dass deine Seele Sex hat, aber in einer sehr, sehr vulgären Form.

Ich schluckte und war im ersten Augenblick versucht, hysterisch loszulachen. Kein Wunder, dass alle über mich lachten. Wie schrecklich peinlich! Und kein Wunder, dass niemand wirklich mit mir sprach, sie hielten mich für einen Dummkopf! Ich schluckte erneut, um den Kloß aus Wut und Enttäuschung, der mir im Hals steckte, loszuwerden. Diese verdammte Sprache, diese verdammte Schule! Wie sollte ich je anständiges Türkisch lernen und Freunde finden? Während jemand seine Hausarbeit vorlas, schaute ich mich verstohlen um. Bisher kannte ich nur wenige meiner Klassenkameraden, die hochnäsige Ebru, ja, und deren Nebensitzerin Hanife, die beiden lästerten ganz öffentlich über mich, auch und vor allem, wenn ich in Hörweite war.

Dann war da noch Osman.

Er war der Einzige, der sich mir gegenüber freundlich verhielt. Aber da war etwas in seinem Blick, das mir nicht ganz geheuer war. »Du wirst paranoid«, schalt ich mich und musste dann widerwillig grinsen, weil ich seit Neuestem Selbstgespräche führte.

Alle anderen lachten entweder über mich oder beachteten mich gar nicht. Osman, der meinen Blick bemerkt haben musste, wandte den Kopf und lächelte mir tröstend zu. Ich erwiderte sein Lächeln zurückhaltend und tat, als konzentriere ich mich wieder auf die Hausaufgabe.

Das größte Rätsel aber gab mir Noyan auf. Aus seinem Verhalten wurde ich einfach nicht schlau. Zuerst hatte er mich gerettet und dann hatte er mich einfach links liegen lassen, wenn man von seinen spöttischen Kommentaren einmal absah. Klar, er grüßte mich, aber zögerlich und immer darauf bedacht, eine gewisse Distanz zu wahren. Tat er das, weil er älter als ich war? Oder hatte er etwa eine Freundin? Bei diesem Gedanken durchfuhr mich ein Stich. Na und! Soll er doch!, dachte ich trotzig.

Endlich läutete es zur großen Pause. Lustlos reihte ich mich in die Warteschlange in der Schulkantine ein, nahm mir ein Tablett und ließ mir Gemüse, Reis, etwas zu trinken und einen Apfel geben. Unentschlossen stand ich mit dem gefüllten Tablett in der Hand im Speisesaal. Die Kantine war voll, aber glücklicherweise erspähte ich weiter hinten einen freien Tisch, an dem ich mich erleichtert niederließ.

»Na, so allein?«

Überrascht blickte ich auf und sah Noyan. Ärgerlicherweise war meine Wut auf ihn mit einem Mal verflogen. Warum musste er nur so verdammt gut aussehen?

»Darf ich mich zu dir setzen?«

Ich nickte resigniert und widmete mich meinem Essen.

»Und, wie läuft es so?«

»Könnte besser sein«, erwiderte ich einsilbig und stocherte auf dem Tablett herum.

»Kommst mit dem Unterricht nicht klar oder liegt es an den Leuten in deiner Klasse?«

»Beides, mehr oder weniger.«

Eine Weile aßen wir schweigend, dann sagte Noyan: »Sehr gesprächig bist du ja heute nicht.«

Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Ebru plötzlich zwitscherte: »Da dies der einzig freie Tisch ist, setzen wir uns wohl hierher.« Ich drehte mich um und registrierte mit leiser Verzweiflung, dass Ebru nicht mit mir, sondern mit ihrem Anhängsel Hanife gesprochen hatte. Hanife war der größte Nickesel, dem ich je begegnet war. Was vermutlich auch der einzige Grund war, dass Ebru und Hanife so dicke Freundinnen waren. Ebru bestimmte, Hanife nickte. Nicht gerade die Art von Freundschaft, die ich mir wünschte.

»Oh, hallo, Noyan!« Ebru tat, als hätte sie ihn eben erst bemerkt, und klimperte heftig mit den Wimpern.

»Hallo«, erwiderte er wortkarg.

»Wir haben uns ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, wie?«

»Hm, kann schon sein.«

Ebru lachte gekünstelt und warf ihr Haar in den Nacken. »Vielleicht gehen wir ja demnächst noch mal aus?«

NOCH MAL? Sollte das etwa heißen, dass er mit einer Tussi wie dieser Ebru freiwillig etwas unternahm? Pfui, ich mochte gar nicht daran denken. Ebru war hohl, das konnte ein Blinder mit einem Krückstock auf vierzig Kilometer Entfernung sehen, ein Puppengesicht ohne die geringste Menge Hirnmasse. Zudem war sie gehässig und hinterlistig, soweit ich das beurteilen konnte. Noyan litt eindeutig an einer fortgeschrittenen Geschmacksverirrung!

Er bemerkte meinen Blick und errötete. »Mal sehen. Seid ihr nicht in derselben Klasse?«, lenkte er vom Thema ab.

»Ließ sich leider nicht vermeiden«, entfuhr es mir. Ebru funkelte mich böse an. »Du sagst es, Almanci . Wenn es nach mir ginge, dann wärst du nicht einmal auf dieser Schule. Wir Türken, auf die du so von oben herabschaust, müssen uns einer sehr schwierigen Prüfung unterziehen, bevor wir auf das Lyzeum kommen. Und nur die Besten von uns dürfen auf das deutsche Gymnasium. Die, die also hier sind, haben bewiesen, dass sie intelligent sind. Wohingegen solcher Abschaum wie DU ...«, Ebru war jetzt aufgestanden und pikste mir mit dem Zeigefinger auf die Brust, »... einfach so hereinspaziert kommt und unser Niveau senkt. Lernt ihr denn GAR NIGHTS in Deutschland?«

Mir war der Appetit gründlich vergangen. Ich schob meinen Stuhl zurück und erhob mich langsam. »WIR haben gelernt, dass man Ausländern gegenüber aufgeschlossen sein sollte. WIR wissen, was echte Freundschaft ist, was man von euch ja nicht gerade behaupten kann. Und WIR laufen Jungen nicht wie läufige Hündinnen hinterher.« Ich wandte mich wütend um und stieß ohne Vorwarnung gegen Osmans Brust.

»Oh, Verzeihung!«, rief er.

»Schon gut«, murmelte ich.

»Schön, dass ich dich erwische. Hast du nächste Woche Samstag schon etwas vor? Ich dachte, wenn du Lust hast, gehen wir vielleicht ins Kino oder so ...« Sein Blick glitt spekulierend an mir herab und für den Bruchteil einer Sekunde fühlte ich mich an Saskias Schwarm Simon erinnert, der alle Mädchen mit den Augen auszog.

Ich warf einen langen Blick auf Noyans gesenkten Lockenkopf hinunter, der sich scheinbar auf sein Essen konzentrierte. Warum sollte ich nicht mit Osman ausgehen? Immerhin war er der Einzige, der mich behandelte, als wäre ich ein Mensch. Und dass er mich immer so komisch anschaute, bildete ich mir ganz sicher bloß ein.

»Ja, das wäre schön«, stimmte ich zu.

Er lächelte begeistert. »Toll, dann hole ich dich gegen vier Uhr ab, okay?«

Ich nickte.

»Jetzt bildet sie sich sicher etwas ein, nur, weil Osman SIE gefragt hat und nicht dich!«, wisperte Hanife hämisch.

Überrascht wandte ich mich um.

»Halt die Klappe, Hanife!«, befahl Ebru wütend.

»Weißt du, Ebru, es gibt da ein deutsches Sprichwort: Man kann nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen«, trällerte ich salbungsvoll.

»Als wenn dich das interessiert, Ebru, du findest doch Noyan ohnehin viel sü...«, fiel Hanife ungefragt ins Gespräch ein.

»Halt endlich deine verdammte Klappe, du Idiotin!«, fauchte Ebru und schien ernsthaft versucht, ihrer Freundin eine Ohrfeige zu verpassen.

Noyan räusperte sich leise in die peinliche Stille hinein, die jetzt folgte. »Ich muss los. Der Unterricht fängt gleich an.« Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er an mir vorbei. Ich bemerkte überrascht, dass er sein Essen kaum angerührt hatte, was mir merkwürdigerweise ein Gefühl der Genugtuung verlieh.

Ich war einsam. Ich vermisste meine Mädels, ich vermisste es, mit ihnen zu lachen und etwas gemeinsam mit ihnen zu unternehmen, aber am meisten vermisste ich es, mit ihnen zu quatschen. Heute wollten wir ein Webmeeting veranstalten. Saskia hatte Leo, Aggie und Ira zu sich nach Hause beordert, alle würden bei ihr übernachten und ich sollte virtuell an der Pyjamaparty teilnehmen.

Voller Vorfreude schaltete ich meinen Computer an. Vergnügt machte ich es mir in meinem gepolsterten Lehnstuhl bequem. Ich trug meinen liebsten Flanellpyjama. Griffbereit neben mir stand ein Tablett mit Chips, Apfelsaft, Mineralwasser und Schokolade.

»Hi, Lara!«, erscholl es schon im Chor und ich blickte in die vier aneinandergequetschten, fröhlichen Gesichter meiner Freundinnen.

Ich lachte glücklich. »Hallo, Mädels!«

»Wir vermissen dich, Süße!«

»Wie ist es so in Istanbul?«

»Wann kommst du mal her?«

Ehe ich noch Luft holen und antworten konnte, fiel Saskia den andern ins Wort. »Weißt du schon das Neuste? Ira ist mit Hannes aus der Zwölf zusammen!« Sie lächelte triumphierend.

»Das wollte ich ihr doch selbst sagen!«, schmollte Ira.

»Der Basketballspieler mit den langen Haaren?« Ich versuchte, mir sein Bild ins Gedächtnis zu rufen.

»Ja, genau der! Und küssen kann er auch ganz toll, wie man so hört!« Aggie verdrehte in gespielter Verzückung die Augen.

»Halt die Klappe, du bist ja bloß neidisch!«, wies Ira sie zurecht. »Du solltest lieber mal auf Stefan achten, wie er dich anschmachtet, könnte man glauben, du hättest ihn verhext!«

»Welcher Stefan?«, wollte ich wissen.

»Na, der aus der Parallelklasse! Das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock, dass er total in Aggie verknallt ist!«

»Ich aber nicht in ihn!«, stellte Aggie energisch klar.

Ich warf lachend die Hände in die Luft. »Endlich mal wieder Leute, mit denen man ein vernünftiges Gespräch führen kann! Ich vermisse euch schrecklich! Hier ist kein Mensch, der auch nur annähernd so ist wie ihr. Im Gegenteil! Aber die Stadt ist interessant, stellenweise sogar gefährlich, auf alle Fälle ist sie nicht langweilig.«

Ich erzählte von meinem Abenteuer in der Seitengasse und wie Noyan mich gerettet hatte. »Aber SO viel habe ich bis dato ja noch nicht gesehen. Und ich würde jederzeit dieses tolle Zimmer gegen einen Abend mit euch tauschen, das könnt ihr mir glauben!«, schloss ich.

Meine Freundinnen tauschten vielsagende Blicke aus, dann fragte Saskia vorsichtig: »Süße, willst du uns erzählen, was da los ist bei dir? Ich meine, außer dass du von einem Prinzen gerettet worden bist.« Aus ihrer Stimme klang keine Neugier, sondern freundliche Anteilnahme.

Mit einem Mal traten mir Tränen in die Augen. »Ich bin hier so allein! Meine Klassenkameraden halten mich für eine dumme Nuss, die Lehrer auch und dann muss ich auch noch so ’ne bekloppte Uniform tragen. Und habt ihr schon meine Haare gesehen?«

»Oh ja, das wollte ich eben schon sagen, siehst spitze aus! Dass du da nicht früher draufgekommen bist, die Farbe betont deine Augen echt super!«, warf Saskia ein.

»Meinst du wirklich?«

»Echt, sieht toll aus!«, nickten nun auch die anderen.

»Warum könnt ihr nur nicht hier sein? Ich vermisse euch ganz schrecklich!«

»Ach, das wird schon! Aller Anfang ist schwer, sagt meine Mama immer. Ist doch logo, dass du dich noch nicht eingelebt hast, ein neues Land, alles ist doch anders, mir erginge es nicht besser, das kann ich dir sagen!«, machte Ira mir Mut.

»Meint ihr wirklich?« Hoffnung keimte in mir auf.

»Klar doch! Du bist manchmal vielleicht eine kleine Diva, aber ein Schwächling biste nicht! Reiß dich zusammen, du packst das!«

Ausgerechnet Istanbul

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