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Fränzi Utinger
Оглавление9. 8. 1923–12. 7. 2020
In dieser Küche wird gearbeitet. Sie ist der Mittelpunkt einer kleinen Wohnung mit grossem Balkon. Seidenblumen stehen frisch auf dem Tisch. Im antiken Geschirrschrank lehnen keine Porzellanteller, sondern Marien, Jesuskinder, Apostel mit goldenem Hintergrund und warten auf ihre Vollendung. Fränzis Abenteuer sind heute Ikonen.
Enge gefiel mir nie. Ich fühlte mich schnell eingesperrt und angebunden, das hielt ich nicht aus. Ich hatte es gern, wenn etwas lief, sonst wurde es langweilig. Meine Kindheit war nicht gerade ruhig. Aufgewachsen bin ich in Örlikon, an der Zapflerstrasse, die heisst heute Probusweg. Zuerst waren wir im Eisernen Zeit, das war etwas Edleres. Dann gingen wir hinunter nach Seebach, das war billiger. Dann an die Rütlistrasse, das war ein bisschen grösser. Sie heisst heute Berninastrasse. Dann hinauf an die Zapflerstrasse, die war heller. Danach mit der Mutter noch an die Langackerstrasse. Die Strassennamen änderten, als das Dorf Örlikon zu Zürich kam im Vierunddreissig. Wir waren drei Kinder, ich bin die Älteste, dann kam das Anita, dann der Theo. Das Anita ist plötzlich gestorben an der Rütlistrasse. Es war ein wenig feucht dort. Sie war schwach und starb an einer Lungenentzündung, mit drei Jahren. Da zogen wir weiter, ich war in der Chegelischule, im Kindergarten. An der Zapflerstrasse war alles modern. Die Kühe vom Milchbuck und von der Hirschwiese weideten bis vor unser Haus.
Dass wir so viel umzogen, hatte auch mit meinem Pape zu tun, mit seinen Geschäften und Zeug und Sachen. Er war eigentlich Drogist, zwischendurch hatte er einmal eine Drogerie. Zur Palme hiess das dort, am Schaffhauserplatz. Es lief aber nicht, und wir gingen Konkurs. Wahrscheinlich, weil mein Vater zu wenig Wissen und Erfahrung hatte als Geschäftsmann. Er wurde wieder Reisender, Handelsreisender in Drogeriewaren. Ich erinnere mich nicht im Detail, ich war noch klein in der Palme. Die Mutter erzählte mir davon, als ich später mit diesem Schuldschein nach Hause kam. Das war kurz nach Vaters Verschwinden, wir wohnten schon wieder woanders.
Das mit dem Pape war in der Zeitung rumgeschleppt worden, und eines Tages – Jahre später – sprach mich beim Caveglia an der Löwenstrasse im Treppenhaus einer an. Ich arbeitete dort und kannte den flüchtig, weil er im gleichen Haus wohnte. Er hatte einen griechischen Namen und handelte mit Schwämmen, auch ein Reisender. Er fragte mich, ob ich die Tochter sei von diesem Utinger in der Zeitung. Und dann überreichte er mir einen Schuldschein, den habe er vor Jahren bei Vaters Konkurs bekommen. Aber er werde ihn nie einlösen, die Mutter habe genug Kummer. Sie brach wieder in Tränen aus, als ich ihr den Schein brachte.
Der Vater war beim Wernle als Drogist angestellt gewesen, die Mutter arbeitete dort im Büro, so hatten sie sich kennen gelernt in den Zwanzigerjahren. Er war Zuger, sie hiess Viola und war die Tochter von Giovanni Giacomin, einem eingewanderten italienischen Gemüsehändler aus dem Zürcher Niederdorf. Auch mit diesem Grossvater kam es nicht gut. Die Mutter brachte uns jedenfalls nie Italienisch bei, sie schämte sich eher, Italienerin zu sein. Die Italiener waren die Fremden in der Schweiz, und Fremde waren sehr unbeliebt. Ich lernte dann später selber Italienisch.
Der Vater hatte viel vorgehabt, mit sich und mit uns. Er wollte selbständig sein, der Familie etwas bieten. Darum war er oft nicht da, auch über Nacht nicht, weil er herumreiste, um Geld zu verdienen. Ohne Auto, mit dem Zug, mit dem Velo oder zu Fuss. Es lag ihm viel an unserer Erziehung, er war ein guter, aber strenger Vater. Wenn er zu Hause war, wollte er immer, dass ich mich ruhig zu ihm setze und mit ihm zeichne. Ich weiss noch, ich musste Zeichnungen machen, er zeigte mir die Schattierungen und Zeug und Sachen. Wenn ich zu schnell war, sagte er: »Nicht kritzeln, Fränzi. Langsam.« Er malte selber auch, und mit meinem Bruder machte er Mechanik. Handwerklich war er sehr begabt, er baute uns ein Zimmer aus alten Obstkistchen, Stühle, Schränke, Regale, und strich alles grün und orange an. Ein wunderschönes Kinderzimmer hatten wir.
Wenn sie am Samstag vom Hermes-Verein der Handelsreisenden bei uns Sitzung hatten, bastelte der Vater stundenlang Aufschnittplatten, hochdekorierte. Aus Eiern und Tomaten schnitzte er Schwäne und Blumen, aus den Cornichons Igelchen. Er entwarf auch das Verbandswappen. Sonst malte er vor allem Blumen. Er wollte, dass ich das auch lernte, einfach so für mich. Vielleicht dachte er, damit ich einmal ein Hobby habe. Er spielte auch Geige mit mir, und ich durfte ihn auf dem Klavier begleiten. Ab und zu gab ich sogar ein kleines Vortragskonzert im Gemeindesaal in Örlikon, mit Publikum. Als der Vater nicht mehr da war, habe ich mit diesen Sachen aufgehört.
Wenn die Mutter zum Arzt musste in die Stadt, gab sie mich bei den Grosseltern im Niederdorf oder am Gemüsemarkt beim Bahnhofquai ab. Manchmal durfte ich mit dem Grossvater auf die Felder im Seefeld, dort hatten die Grosseltern Land gekauft und bauten Gemüse an. Ich liebte den Grossvater, und ich liebte den Markt mit den vielen Italienern. Es gefiel mir auch in den verrauchten Beizen, in die er mich mitnahm. Der Mutter gefiel das nicht. Sie fand, diese Touren seien kein guter Zeitvertreib für ein Mädchen. Eigentlich auch nicht für den Grossvater.
Sie hatte recht, denn eines Tages verschwand er nämlich. Er war an einem schönen Abend nach der Arbeit mit ein paar Kollegen beim Bellevue auf den See hinausgerudert. Sie hatten schon ein paar Aperitifs getrunken, Feierabend. Nach einer Weile kamen die Kollegen zurück. Aber der Grossvater war nicht mehr dabei. Niemand konnte sagen, was geschehen war. Man fand ihn nie. Wahrscheinlich liegt er jetzt noch irgendwo auf dem Seegrund beim Bellevue.
Meinen Pape fand man dafür. Das war im Fünfunddreissig, da war ich gerade zwölf geworden und der Vater zweiundvierzig. An einem Freitagabend im September kam er auch nicht mehr nach Hause. Er war die ganze Woche auf der Reise gewesen und hätte heimkommen sollen an die Zapflerstrasse, aber er kam nicht. Meine Mutter wartete und wartete und war sehr nervös, weil auch kein Anruf kam. Gegen Morgen telefonierte sie auf die Polizeiwache Örlikon. Und der Polizist sagte: »Gute Frau, beruhigen Sie sich. Der wird bei einer sein. Der wird schon wieder kommen.« Nicht gerade die feine Art. Es wurde Samstag, und er kam nicht. Die Mutter weinte nur noch und telefonierte herum. Sie fand eine Frau, bei der der Vater zuletzt gewesen war, in einem Kaff hinter Bülach. Die erzählte ihr, dass er bei ihr am Abend um sechs weggegangen sei, dass er den Zug verpasst habe und zu Fuss nach Kloten laufen wollte. Zu einem Freund, der eine Zigarettenfabrik besass und ein Auto. Der hätte ihn nach Hause fahren sollen. Eine Woche später hätte mein Vater selber ein Auto bekommen. Er war schon angemeldet für die Fahrstunden. Dann wäre das nicht passiert. Janu, das war zu spät.
Am Sonntag kam ein Onkel mit Militär, die suchten die Gegend ab. Der Onkel fand den Pape, am Rand vom Bülacher Wald. Am Strassenrand, im Gebüsch. Er war noch aufgestützt, so, auf die Ellbogen. Anscheinend hatte er versucht, noch einmal aufzustehen. Er hatte eine Mappe mit Müsterchen bei sich gehabt, die war weg. Auch die zwanzig Franken, die er jeweils auf die Reise mitnahm, waren weg. Und auch die Taschenuhr, eine Plaqué, kein echtes Gold, war weg. Das Messer hatten sie ihm gelassen. Er hielt es in der Hand, das rote, mit offener Klinge. Alles war voller Blut. Ein Loch im Nacken und ein Loch im Rücken, von hinten erschossen. Den Mörder fand man nie.
Es hiess nachher, er habe mit der Nationalen Front sympathisiert. Die Rechten sagten das, und die Linken sagten das auch. Es sei wahrscheinlich ein politischer Mord gewesen. Dabei war er nicht dabei bei denen, er war nirgendwo dabei, nur bei den Handelsreisenden. Man hatte meinen Vater für zwanzig Franken und eine unechte Uhr umgebracht. Aber die Zeitungen fanden einen besseren Grund. Der Hitler war in Deutschland schon an der Macht, alles war aufgeheizt. Für uns war der Vater einfach tot.
Von einem Moment auf den anderen wurde es sehr still in unserer Wohnung. Eine Witwe bleibt meistens einsam, das habe ich später oft beobachtet. Mutters Leben fiel um, zack. Wir zogen Hals über Kopf in die winzige Wohnung an der Langackerstrasse. Die konnte sie mit den hundertachtzig Franken von der Suval, der Unfallversicherung, gerade bezahlen. Die Mutter litt von jetzt an nur noch, furchtbar. Oft schwänzte ich die Schule, weil ich befürchtete, dass sie den ganzen Tag heult und sich etwas antut. Davor hatte ich am meisten Angst. Ich blieb bei ihr und log in der Schule, fälschte auch Unterschriften, damit ich sie im Auge behalten konnte. Nicht unbedingt aus Erbarmen. Eher aus einer Art schlechtem Gewissen heraus. Wie soll ich sagen – es machte mich wütend, dass sie immer weinte. Sie war sehr schwach, gebrochen, und ich ertrug das schlecht. Und fühlte mich irgendwie verantwortlich.
»Warum ausgerechnet wir? Warum ich?«, das war der Refrain. Der Vater, die fröhlichen Abende und unser schönes Zimmer waren fort, die Mutter ergab sich dem Leiden. Sie klammerte sich von nun an an mich. Ich wurde ihr Lebensinhalt. Der Bruder ging später, sobald er wegkonnte, nach Afrika und verkaufte schwarzen Frauen Nähmaschinen. Mutters einzige Stütze war ich, für alles und jedes, auch finanziell. Ich blieb bei ihr in der winzigen Wohnung, bis ich achtundzwanzig war.
Der Freund meines Vaters, der mit dem Auto, gab ihr eine Stelle in seiner Zigarettenfabrik, Mahalla hiess sie. Sie kannten sich von Seebach, er hatte bei der Turmac angefangen, einer anderen Zigarettenfabrik. Bis ich etwas verdiente, arbeitete die Mutter dort. Sie schob grossbusige Amerikanerfrauen zwischen die Zigaretten, so ein glänzendes Filmstar-Bildchen kam in jedes Päckchen. Die gingen weg wie warme Semmeln. Sie begann dort auch zünftig zu rauchen. Am Morgen stellte die Firma den Frauen am Arbeitsplatz Hunderterschachteln Zigaretten zur freien Verfügung, als Zwischenverpflegung. Manchmal brachte sie uns Bildchen nach Hause.
Die Verantwortung zu Hause nach dem Tod meines Vaters musste ich übernehmen, mit zwölf. Über Mittag rannte ich heim und kochte Mahlzeiten, die der Bruder nie ass. Ich konnte gar nicht kochen, und er ass nie, was ich fabrizierte. Bis es nicht mehr ging. Wir stritten nur noch und assen zudem nichts. Da musste der Bruder in den Hort, und ich hatte wieder mehr Zeit, mich auf die Sekundarschule zu konzentrieren. Ich hatte Pläne und eine Begabung für Sprachen. Ich sehnte mich danach, fortzukommen aus der Enge, unabhängig zu sein und frei. Ich wollte Dolmetscherin werden, die waren selbständig und kamen auch als Frauen in die Welt hinaus. Mein riesengrosser Traum war das.
Nach der Schule ging ich also ins Welschland fürs Französisch, danach nach Italien, und zum Schluss wollte ich nach England. Dann in die Dolmetscherschule. Die Sprachaufenthalte bezahlte die Versicherung. Für jedes Kind bekam die Mutter Ausbildungsgeld, aber nur für das. In Mailand konnte ich bei einem Onkel wohnen, dem Bruder der Mutter, er hatte eine riesige Wohnung. Der war Ingenieur und Royalist. Nach dem Studium in der Schweiz war er nach Italien gegangen, weil er in Abessinien für »seinen König« kämpfen wollte, wie er sagte. Aber der König wollte ihn gar nicht. Da verliebte er sich stattdessen, blieb in Mailand, entwarf Lifte und verspielte viel Geld bei Pferdewetten. Mein Kostgeld kam ihm sehr gelegen. Aber ich musste es hüten wie die kleinen Kinder des Onkels, sonst landete auch mein Geld bei den Pferden, bevor es die Tante zu Gesicht bekam.
Ich fühlte mich sofort zu Hause in Italien. Die Lebensart, der Betrieb, das Essen, die Leute, alles gefiel mir. Jeder im Haus kannte mich, man besuchte einander, schwatzte, umarmte und stritt sich, freute sich aneinander. Alles war offen und herzlich und lustig. Ich hätte für immer dortbleiben wollen. Ich ging in die Schule und mit den Kleinen spazieren, nahm wieder Klavierstunden und flirtete mit den italienischen Ragazzi, die konnten das. Natürlich auch mit den Schwarzkäpplern, die überall herumstanden, mit allen. Ich war sechzehn und sah in den Käppchen wenig Unterschied. Das Leben war herrlich, es hätte ewig so weitergehen können.
Aber dann kam der Krieg und ein Anruf der Mutter. Ich müsse auf der Stelle nach Hause kommen. Die Schweizer Grenzen gingen zu, und dann könne niemand mehr heim. Aus der Traum, sie brachten mich auf den Zug. Diese Reise zurück in die enge Wohnung der Mutter war schrecklich. Immerhin wenigstens spannend, sie verhörten mich nämlich. Ein Grenzpolizist mit Pelzkäppchen bewachte mich bis Göschenen und löcherte mich. Woher ich käme, wo ich wohne in der Schweiz, mit wem ich zusammen gewesen sei in Mailand und was ich vorhabe. Er merkte dann, dass ich eine gewöhnliche Sprachschülerin war und keine Spionin. Auch im Gepäck fand er nichts, damals hatte ich noch nichts zu verbergen.
So landete ich wegen diesem blöden deutschen Krieg wieder bei der Mutter. Ich weiss ja, dass die heutigen Deutschen nichts dafür können, aber das habe ich ihnen nie verziehen. Statt mich in Mailand oder London auf ein Leben voller Abenteuer vorbereiten zu können, musste ich zurück zur Mutter nach Örlikon und in eine Schule für Haushalt. Alles konnte ich mir vorstellen, aber niemals, Hausfrau zu werden. In einer kleinen Wohnung mit Kindern eingesperrt sein und Hemden bügeln. Auf einen Ehemann warten. Weder von einem Chef noch von einem Ehemann wollte ich abhängen. Vielleicht wusste ich das damals noch nicht so klar, ich sah nur dieses Bild, wie ich eingesperrt bin, warte und bügle. Oder vor einem Stenoblock hocke und aufs Diktat warte.
Man musste nehmen, was es gab, ich hatte keine Wahl. Dolmetschen ohne Englandaufenthalt kam nicht in Frage, also lernte ich Stenografie in vier Sprachen und Schreibmaschineschreiben wie der Teufel, das konnte man immer brauchen. Ich bewarb mich und wurde sofort genommen, für hundertzwanzig Franken im Monat. Die meiste Zeit des Krieges verbrachte ich mit Arbeiten, auf Partys und in der Oper. Wir sagten nicht Partys, wir sagten eigentlich gar nichts, wir trafen uns einfach und feierten die Nacht durch. Ich hatte eine Stelle bei der Kugellagerfabrik SRO, Schmid-Roost Oerlikon, und das Leben war trotz Krieg wieder etwas weniger deprimierend. Ich war verliebt in den Hagi, und wir trafen uns alle meistens beim Maieli, die hatte schon eine eigene Wohnung. Der Mutter sagte ich jeweils: »Ich bin eingeladen bei der Kollegin.« Was wir machten, sagte ich nicht, und sie fragte auch nicht. Wahrscheinlich dachte sie, es sei besser, wenn sie nicht zu viel wusste. Sie liess mich gehen mit dem Spruch: »Ich habe dich erzogen, du weisst, was sich gehört.« Als sie älter wurde, verlor sie jedoch diese Gelassenheit und erwartete, dass ich sogar am Mittag nach Hause komme zum Essen. »Jetzt habe ich dir extra Schnittlauchwähe gemacht«, jammerte sie und hatte wieder einen Grund, unzufrieden zu sein.
Dass die Mutter mit ihrem Leben haderte, konnte ich verstehen. Aber dass sie mir deshalb quasi verbot zu heiraten, das nahm ich ihr übel. Vielleicht wollte sie mich unbewusst davor bewahren, ewig auf jemanden warten zu müssen, der nicht kommt. Ich verzieh es ihr jedenfalls nicht, dass sie hinter meinem Rücken dem Hagi sagte, er müsse sich nicht einbilden, mich heiraten zu können. Es werde noch nicht geheiratet, zuerst müsse etwas Rechtes aus mir werden. Und sowieso brauche sie mich noch. Das machte mich wahnsinnig wütend. Ich hatte nie vorgehabt, sie zu fragen, ob ich heiraten dürfe. Eigentlich merkwürdig, dass ich nicht aus Trotz heiratete.
Die Oper war meine grosse Leidenschaft. Ballett liebte ich über alles. Überhaupt die Musik, seit der Vater lachend mit seiner Geige neben mir musiziert hatte. Wenn man zur Musik auch noch tanzen konnte, wunderbar. Ich ertrotzte bei der Mutter Klavierstunden, bis ich selber etwas verdiente, aber bei den Ballettstunden weigerte sie sich. Ein paar Stunden stotterte ich mir zusammen, und dann sah ich in der Zeitung eine Anzeige. Der Herr Rosen an der Seerosenstrasse suche Statisten fürs Opernhaus. Man bekomme dafür Gratisunterricht beim Ballettmeister. Ballett gab es kaum zu der Zeit, nur in Operetten und Opern. Ich raste an die Seerosenstrasse, tänzelte vor dem Rosen in einem Haufen junger Mädchen quer über die Bühne, wurde rausgezupft und konnte bleiben. Und bekam nun zweimal in der Woche Ballettstunden beim Rosen und beim Hans Macke, das waren grosse Männer. Eigentlich war ich viel zu alt fürs Ballett, aber für den Hintergrund ging es.
Wir machten alles, was das Ballett nicht machen wollte. In Operetten hatten wir sogar leichte Rollen. Und da passierten immer Zeug und Sachen. Wir Statisten waren beliebte Opfer für die vom offiziellen Ensemble. Einer hiess Pistorius, ein Sänger, der hatte es auf mich abgesehen. Beim Weihnachtsmärchen versteckte er sich hinter dem grossen Christbaum, ich stand als erster Engel davor und sollte den Ton geben für »Stille Nacht«. Und hinter dem Baum sang der Pistorius leise, aber laut genug: »S Bäbeli hät –, s Bäbeli hät –, s Bäbeli hät es Loch im Buch«, so dass ich furchtbar falsch sang. Es war nie langweilig an der Oper. Im »Lohengrin« spielte ich fünfunddreissigmal den Pagen, und jedes Mal gern.
Bei der Arbeit war weniger los. Ich war bei der Firma König in der Enge angestellt, die handelten engros mit Uhren. Ich machte Korrespondenz und Fakturierung. Der Wirtschaft ging es mies, die Grenzen waren zu, und die Schweizer hatten andere Sorgen, als Uhren zu kaufen. Wenn gar nichts lief, setzte ich mich manchmal ins Gärtchen vor dem Haus an die Sonne und schaute den Passanten zu. Diese Gewohnheit behielt ich während all den Jahren, die ich in der Enge war. Eine Zeit lang spazierte jeden Tag der Hund von der Papeterie Nabholz vorbei, mit einem Lehrling an der Leine. Der musste den Hund vom Chef spazieren führen im Parkring. An den Spaniel erinnere ich mich genau, aber seltsamerweise an den Lehrling am anderen Ende der Leine nicht. Obwohl das ein hübscher Boy war, aber sehr viel jünger als ich. Wenn ich gewusst hätte, dass er viele Jahre später der wichtigste Mann in meinem Leben würde, hätte ich wohl genauer hingeschaut.
Als der Krieg fertig war, wollten alle Uhren. Die Zeit wurde irgendwie kostbar. Vielleicht, weil niemand nach diesen Jahren der Erstarrung mehr Zeit verlieren wollte. Manchmal zogen wir die ganze Nacht hindurch Uhren auf, in den Geschäftsräumen an der Ulmbergstrasse tönte es wie in einem Wespennest. Der Export begann zu blühen. Wir verschickten die Uhren hauptsächlich nach Amerika, nach Deutschland und Skandinavien. Oft verpackten wir fünfhundert Rosskopf pro Sendung, billige Armbanduhren. Wir mussten sie vorher aufziehen und kontrollieren, ob sie richtig liefen. Für diese Extrastunden gab uns der Chef ein Zwanzigernötli, manchmal auch vierzig Franken. Er behandelte uns gut, die Frauen besonders. Bis er ins Chefi kam, eingelocht wurde wegen Unsauberkeiten in der Buchhaltung. Da schlug meine Stunde. Der Traum vom eigenen Geschäft rückte so in die Nähe, dass ich nur noch zugreifen musste.
Mit leeren Händen notabene, ich hatte ja nichts. Aber mein Compagnon, auch ein ehemaliger Mitarbeiter aus der Firma, trieb eine Tante auf, die mir Geld lieh. Ich konnte zwanzigtausend Franken Aktienkapital in die eigene Firma einzahlen. Mein Compagnon übernahm den Rest. Es war nicht mein Geld, aber schon das eigene Geschäft. Bis es auch mein Geld würde, war es ein weiter Weg. Es hiess arbeiten, das Geschäft in Schwung bringen, das Darlehen abarbeiten. Überhaupt die ganze Welt wieder in Schwung bringen.
Viele unserer Engros-Kunden waren GIS und Juden. Und Radrennfahrer. Ich kannte einige von der berühmten Offenen Rennbahn in Örlikon. In Örlikon kannten alle die Radrennfahrer. Den schönsten sowieso, den Hugo Koblet, der brachte sich leider um. Den Oskar Plattner, der so oft am besten fuhr und doch nicht gewann. Der wohnte ganz in unserer Nähe und machte später eine Bar auf an der Langstrasse. Den Fritz Pfenninger und den Fritzli Schär, den wir Pillenfritz nannten, weil er vor den Rennen immer so viele Pillen ass. Auffallend viele Pillen. Den Jacques Besson. Die Rennbahn war der wichtigste Treffpunkt der Jugend von Örlikon. Nach den Rennen traf man sich beim Stiere Egge vis-à-vis vom Kino Excelsior, wo jetzt die Beiz ist vom Rennfahrer Nannini, dem Bruder von dieser Sängerin Gianna Nannini. Vis-à-vis vom Stiere Egge wohnte auch eine Sängerin. Die Lys Assia, die war sehr häufig auf der Rennbahn. Ich hatte später einen Kunden, der bluffte damit, dass er dem Rosli Schärer, wie sie in Örlikon hiess, die Unschuld raubte. Diese Rennfahrer kamen alle zu uns, Superkunden, sie kauften in grossen Mengen ein und nahmen die Uhren in ihre Heimat mit oder an Radrennen im Ausland. Die Rennradreifen auf den VW-Bussen der Mannschaft waren doch meistens vollgestopft mit billigen Schweizer Uhren. Der Schwarzmarkt blühte.
Sehr gute Kunden waren auch die Juden. Schon während dem Krieg waren sie zu uns gekommen, die meisten emigrierten aus Deutschland und versuchten, sich hier wieder eine Existenz aufzubauen. Sie holten bei uns günstige Uhren »zu treuen Handen« und verkauften sie auf der Strasse, im Bekanntenkreis oder in einschlägigen Lokalen. Erst, wenn sie die Uhren verkaufen konnten, mussten sie sie bezahlen. Die Juden waren sehr gute Händler, viele bauten sich in kurzer Zeit wieder ein eigenes Geschäft auf. Der berühmteste in Zürich war ein Smaragdkönig, der fing auch so an und wurde dann mehrfacher Millionär. Ein sehr netter Mensch, bis er in die Luft gejagt wurde. Er hatte das grosse Pech, bei der Hochzeit seiner Tochter eines der ersten Attentatsopfer in Israel zu werden.
Handel und Schmuggel waren an der Tagesordnung. Fast jeder betrieb nach dem Krieg irgendein Geschäftchen, wenn er konnte. An den Grenzen gab es kaum Kontrollen. Was wir in unserer Firma verkauften, versteuerten wir immer, für uns war alles legal. Im Gegenteil, diese Geschäfte und die Aktivität der Leute waren das Schmiermittel der Wirtschaft. So kam das halbtote Europa nach dem Krieg wieder auf die Beine. Mit der Moral nahm man es nicht übertrieben streng, dazu hatte man schlicht keine Zeit. Jeder investierte, was er konnte, damit es wieder aufwärtsging.
Einige investierten auch ihr Leben. Wir hatten zwei Dänen, sehr nette Leute. Sie reisten regelmässig in die Schweiz und deckten sich bei uns mit Uhren ein. Ein alter und ein junger, wahrscheinlich Vater und Sohn. Der alte war mit allen Wassern von zwei Kriegen gewaschen, der junge ein sehr sympathischer Draufgänger. Er lernte mit meinem Compagnon und mir zum ersten Mal richtige Berge kennen. Raste mit den geliehenen Holzski ohne einen einzigen Bogen von der Klewenalp schnurgerade ins Tal. Unten wartete er und grinste. Ich mochte den.
Diese beiden Dänen verpackten die Uhren immer sorgfältig in Plastik, bevor sie wieder abreisten. Sie verstauten sie zwar nicht im Loch von Dosen-Ananas, die nachher in grosse Büchsen verlötet wurden, so wie andere das machten. Ihr Versteck war das Dach über den Toiletten von Fernzügen. Dort hatte es einen Hohlraum. Der Alte stieg am Hauptbahnhof in Zürich ganz normal in den Nachtzug nach Kopenhagen, der Junge stieg aufs Dach. Dort verstaute er die Uhren, und in Basel stieg er zum Alten ins Abteil.
Eines Morgens kam der Alte völlig aus dem Häuschen an die Ulmbergstrasse zurück. Sein Junge sei in Basel nicht zugestiegen. Ich ging in eine Telefonkabine und rief die SBB an, unter falschem Namen, fragte, ob in dieser Nacht auf der Strecke Zürich–Basel etwas nicht gestimmt habe. Das wurde bestätigt. Ein tragischer Unfall. Einen jungen Mann, einen Schwarzfahrer, habe es bei einem Tunneleingang vom Zugdach gerissen. Er sei auf der Stelle tot gewesen. Normalerweise fuhr der Zug nicht durch enge Tunnels auf dieser Strecke. Aber in dieser Nacht war er eine andere Route gefahren.
Das machte mich sehr traurig, aber nicht ängstlich, im Gegenteil. Ich ging jetzt manchmal auch selber mit der Ware ins Ausland. Die Rennfahrer hatten mich darauf gebracht, sie fragten, ob wir die Uhren nicht auch bringen könnten. Das liess ich mir nicht zweimal sagen. Nach Deutschland und nach Kopenhagen lieferte ich, in einem Auto mit doppeltem Boden. Angst gehörte so wenig zu meinem Lebensgefühl wie moralische Bedenken. Ich schadete ja niemandem damit, wenn ich Uhren im Auto versteckte. In der Schweiz rechnete ich den Verkauf ganz normal ab. Nur in Dänemark und Deutschland waren die Einfuhr und der Schwarzmarkt eigentlich verboten. Ich überlegte nicht so viel in diese Richtung in meinem Überschwang. Ich wusste einfach, ich musste das Darlehen abbezahlen, und wollte endlich unabhängig sein – eine eigene Wohnung, weg von der Mutter. Und wenn man so quer durch Deutschland fuhr nach diesem Krieg, dann war einem sowieso nicht nach erhobenem Zeigefinger zumute, eher ums Heulen. Schrecklich deprimierend war es, man kann sich das nicht vorstellen. In der Schweiz hatte man eigentlich keine Ahnung, wie das ennet der Grenze aussah, die Ausmasse. Deutschland gab es nicht mehr. Hunderte von Kilometern, nichts, nichts, nichts. Schutt und Asche. Alles kaputt. Ich fand nichts Schlimmes dabei, in diese kaputten Gegenden Uhren zu bringen, die schön waren, funktionierten und die sich die Leute leisten konnten.
Ich hatte nie Angst vor den Menschen, aber heute, um Gottes willen, würde ich das nicht mehr machen. Jetzt würde mir wohl nichts mehr passieren, aber jetzt hätte ich Angst. So ist das im Leben. Brenzlig wurde es zum Beispiel in Hamburg, da war ich allein mit meinem Koffer in einem düsteren, leer stehenden Haus. Meine Kundschaft war zuoberst, zwei komische Typen in fleckigen Arbeitsschürzen. Sie hockten in einem Zimmer und rauchten. Rundherum zitterten in Käfigen Mäuse. Es stank ganz grässlich nach Urin. Überall Gläser und Zeug und Sachen, Schläuche, Bunsenbrenner. Das sei ein Labor, erklärten sie. Nicht sehr vertrauenerweckend sah das aus. Sie machten Schwangerschaftstests mit dem Urin von schwangeren Frauen, kauften grosse Mengen Schweizer Uhren, und wozu sie die Mäuse brauchten, weiss ich nicht mehr. Sie waren unheimlich, und ich musste dringend aufs Klo. Das sei zuunterst im Haus, sechs Stockwerke tiefer. Ich musste ihnen meinen kostbaren Koffer dalassen und war sicher, jetzt würde ich ausgeraubt. Aber es geschah nichts. Sie bezahlten höflich ihre Ware, und ich konnte gehen. Wenige konnten es sich leisten, nur eine gute Figur zu machen nach diesem Krieg. Jeder musste schauen, wie er irgendwie über die Runden kam.
Haarscharf schief ging es einmal in Kopenhagen. Dort blieb ich jahrelang Persona non grata, auf der schwarzen Liste, durfte nicht mehr einreisen. In Kopenhagen mietete ich immer ein Hotelzimmer, und dann kamen die Kunden und holten die bestellte Ware. Die Prozedur im Hotelzimmer dauerte jeweils eine Viertelstunde, dann gingen die Kunden wieder. Auch einige Rennfahrer kamen, und wir feierten das Wiedersehen. Sie führten mich aus, mal der, mal der, das war lustig. Am Schluss nähte ich das viele Geld in den Mantel und ins Futter meines Koffers, picobello.
Ich war beinahe fertig, da klopfte es. Der Hotelmanager stand an der Tür und linste ins Zimmer. Was ich hier eigentlich mache? Sie seien kein Stundenhotel! Ich erklärte ihm das mit den Uhren, da hatte er nichts mehr dagegen, kaufte sich auch eine und war mir fortan sehr wohlgesinnt. Er rettete mich sogar. Als mich einer verpfiffen hatte, wahrscheinlich aus Eifersucht. Das kam in der Zeitung in Kopenhagen, ein Rennfahrer brachte sie mir später nach Zürich. Ich hatte riesiges Glück und einen noch grösseren Schutzengel. An einem Morgen beim Erwachen spürte ich seltsamerweise, dass ich sofort abreisen musste, keine Zeit verlieren. Es war sonst alles normal, aber ich spürte ganz stark eine Gefahr. Ich sagte dem Hotelmanager, ich müsse sofort in die Schweiz zurück. Ob er mir helfen könne, zu einem Flugticket zu kommen. Eine halbe Stunde später hatte ich eins und konnte abreisen. Am Flughafen kam mir in der Hektik noch der kostbare Koffer abhanden, aber das Bodenpersonal trug ihn mir freundlich nach. Im Hotel kreuzte unterdessen die Polizei auf und durchsuchte das Zimmer. Die hätten mich verhaftet, aber der Manager verriet mich nicht.
Es war irrsinnig spannend, so das Geld zu verdienen, mir gefiel das. Ich machte es viele Jahre. Mit der Zeit lief das Geschäft von allein, und ich hatte diese Reisli nicht mehr nötig. Ich konnte mein Darlehen abbezahlen und eine eigene kleine Wohnung mit Balkon mieten. Touristen kamen, die Nachfrage nach Bijouterien wurde grösser. Wir zogen weg von der Enge an die Bahnhofstrasse, dort gab es plötzlich viele Amerikaner. Die GIS kamen mit ihren Frauen wieder, sie waren immer noch begeistert von den Schweizer Uhren, leisteten sich jetzt etwas Teureres. Den Frauen gefiel der Schmuck, den wir im Sortiment hatten. Wir engagierten einen Schlepper von American Express, der leitete die Kunden aus den Hotels in unser Geschäft und bekam dafür Provision. Oft schauten sie nur herum und benutzten ausgiebig das WC, das ich am Abend putzen durfte. Bis ich jedes Mal sagte, es sei leider defekt, aber am Paradeplatz habe es ein schönes öffentliches. Ich hatte mein Leben lang nie eine Putzfrau.
Es lief so gut, dass mein Geschäftspartner und ich uns Ende der Fünfzigerjahre je ein Häuschen bauen konnten. Er für seine Familie und ich für mich. Bei Grosseto an der italienischen Küste war ein Stück Land zu verkaufen. Das Meer, ein Pinienwald, ein Sandstrand und eine Beiz mit grüner Neon-Leuchtschrift, Verde Luna Bar, sonst nichts. Die Tochter des Barbesitzers heisst Tosca und verkauft heute meine Ikonen in Italien, Ägypten und Amerika. Dort am Meer lief mir der Junge von der Papeterie in der Enge wieder über den Weg, und ich nahm ihn zum ersten Mal wahr.
Vorher stürzte ich aber beim Verde Luna in die schwere Liebe. Die Liebe aus der Oper, gross, verrückt und unmöglich. Je unmöglicher, desto grösser werden solche Lieben, schön und tragisch. Könnte man sie leben, würden sie ganz normal. Er zog mich aus dem Sand, in dem ich mit dem Umzugsauto versunken war, mit seinen Rekruten. Er war Offizier bei der italienischen Armee, in Civitavecchia einquartiert. Als Offizier gab er ein paar kurze Befehle, brachte alles an seinen richtigen Ort und half mir galant aus dem Lieferwagen. Es war dieses Gefühl, das einen nur sehr selten überkommt, wenn man einen Mann zum ersten Mal sieht. Alles geht auf. Wir verliebten uns schrecklich. Er konnte als Berufsmilitär aber unmöglich zu mir in die Schweiz ziehen. Und ich konnte unmöglich nach Italien umziehen, nachdem mein Traum so gut lief. Ich konnte mir nicht vorstellen, alles hinzuschmeissen und Ehefrau zu werden. Es wäre eine Hotelliebe geworden. Nichts Richtiges, nichts für mich. Ich brach es nach einer Weile ab. Er schrieb mir noch lange Kärtchen, konnte es nicht lassen, und ich litt. Ich sehe ihn noch heute vor mir, als wäre keine Zeit vergangen. Schon eigenartig.
Ich hatte mich darauf eingestellt, als alleinstehende Geschäftsfrau mein Leben zu geniessen. Kinder mussten nicht sein, und heiraten schon gar nicht. Ich war meine eigene Chefin, hatte mein Häuschen in Italien, war selbständig und zufrieden. Ich ging schon gegen vierzig, als ich wieder einmal im Liegestuhl beim Verde Luna lag und las. Da tauchte dieser junge Mann auf, ein wirklich hübscher Kerli, gescheit und ein wenig schüchtern. Er hatte mit Freunden das Häuschen meines Geschäftspartners gemietet. Der Metzger Meister von der Krone Unterstrass in Zürich, wo mein Compagnon Stammkunde war, hatte es ihnen vermittelt. Der Junge setzte sich neben mich in den Sand und behauptete, er kenne mich. Aus dem Tram Nummer sieben in Zürich, wo ich am Morgen immer am Milchbuck eingestiegen sei und er mir den Vortritt gelassen habe. Er habe mich auch in der Enge gesehen, als er den Hund vom Chef an der Leine ausführte.
Wir spazierten lange den Strand entlang, tranken Campari Soda im Verde Luna, neckten uns und diskutierten. Scheints habe ich ihn auch in den Arm gebissen. Dann fuhr ich ganz wie immer nach Zürich zurück. Er war eine lustige und angenehme Gesellschaft, aber viel zu jung für mich, dreizehn Jahre jünger. Zudem wollte ich unabhängig bleiben. So kann man sich täuschen.
Im See beim Bellevue, wo mein Grossvater so plötzlich verschwunden war, änderte sich auf einen Schlag auch mein Leben. An einem strahlenden Sonntag, dem ersten August. Der junge Buchbinder aus der Enge lud mich zum Segeln ein. Segeln, aha. Wir kreuzten allein und vergnügt zwischen Enge und Horn, da schlug aus der Bläue ein Sturm los. Schwarzes, schweres Gewitter. Wir kenterten, und ich plumpste wie ein Frosch ins Wasser. Mein Retter mir nach. Die Seepolizei fischte uns kurze Zeit später aus dem See und stellte uns klatschnass am Bellevue aufs Pflaster. Wir setzten uns in ein Taxi und fuhren zum Trocknen in meine Wohnung beim Milchbuck. Der schöne Junge blieb. Und wurde mein Mann und Zeug und Sachen, vor über vierzig Jahren. Eine Liebe gegen alle Regeln wurde das. Geheiratet haben wir nie. Das Lieben hat trotzdem nie aufgehört, bis heute nicht.
Nachdem ich kein Geld mehr verdienen musste, habe ich angefangen mit dem Malen. Schön langsam, wie es der Vater mir zeigte. Strich um Strich, in aller Seelenruhe. Ein grosses Abenteuer.