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Hanny Fries

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27. 11. 1918–7. 12. 2009

Hoch über der Stadt ein Haus, das so schnell nichts erschüttert. An der Tür ein Zettel mit dem handgeschriebenen Namen, man muss wissen, wo man Hanny sucht. Wohlgeordnete Überfülle präsentiert sich im malerischen Licht des Ateliers, das ihr Urgrossvater baute. In seinen Tiefen verbergen sich Schätze.


Man muss mit Coraggio anfangen, mit Mut. Einfach anfangen, das ist das Wichtigste. Nicht zuerst wissen wollen, wo es hinführt, sondern anfangen und dann einfach weitermachen. Wie im Leben ist das, da weiss man auch nie, was das wird. Eine Frage des Mischens. Man muss gar nicht weit laufen, alles ist gut genug, um damit anzufangen, jede hundskommune Ecke und jedes Papier. Ich habe gern Papier, das nicht extra für Kunst gemacht ist, sondern für Würste zum Beispiel. Metzgerpapier ist etwas Wunderbares, am liebsten ist mir das italienische. Ich liebe Märkte, auf den Märkten schaue ich und sammle Einwickelpapier. »Könnte ich noch von dem Papier haben, das dort hinter Ihnen hängt?« – »Ma perqué?« – »Sono pittore«, dann bekomme ich ganze Stapel Wurstpergament mit diesen Löchern, wo es aufgehängt war. Die Italiener mögen Maler. Dieses Papier ist grausam, man kann es eigentlich nicht beschreiben, nur mit dicken Federn oder Stiften. Leider ist es jetzt verboten. Zu wenig hygienisch; das Blut und das Fett lief den Hausfrauen doch ständig in die Einkaufstaschen.

Es ist auch gut, mit Spazieren anzufangen. Flanieren ist gut, schauen, riechen, hören, schauen. Sich unter die Leute mischen, ohne viel zu wollen. Ich habe nie Auto fahren gelernt, ich war immer zu Fuss unterwegs oder mit dem Tram. Ich liebe Bahnhöfe, Wartsäle. Flanieren ist das beste Fitnesstraining, da vergehen die Bobos von alleine. Aber nicht Powerwalken mit diesen Stöcken, die man von weitem klappern hört. Herumspazieren und sich die Welt anschauen, ohne Lärm, ganz gewöhnlich. Bei mir ist natürlich ein Notizblock dabei. Eine Zeichnung ist viel besser als eine Fotografie. Wenn ich eine Skizze mache, bleibt es mir, das ist dann gespeichert in meinem Computer hier oben. Wenn man an etwas gelitten hat, prägt es sich ein.

Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis. Drum bin ich jetzt ein wenig angestrengt, weil ich ständig gefragt werde nach Sachen, die die Jungen nicht mehr wissen. Wie ein Archiv komme ich mir vor. Die Jungen wissen viel Neues, aber sehr vieles wissen sie eben nicht. Ich habe ein paar Jährchen gelebt und Leute kennen gelernt. Da kommt etwas zusammen, wahnsinnig. Ich beobachte, wie die Löcher in der Erinnerung der Gesellschaft immer grösser werden. Komischerweise schien es lange Zeit niemanden zu stören, dass hinten so viel fehlt. Jetzt kommt das langsam wieder.

Ein gutes Gedächtnis kommt nicht von nichts. Das kommt bei mir vom Zeichnen. Auch Schreiben geht, aber das Malen und Zeichnen mit der Hand speichert sich am besten ab hier oben. Über das Auge und über das Gefühl gehen die Bilder hinein und bleiben. Ich muss immer einen Block neben dem Bett haben, damit ich zeichnen oder aufschreiben kann, was mir durch den Kopf geht. In der Dunkelheit kommt viel, was sich am Tag nicht hervortraut.

Ein Computer käme mir nicht ins Haus, das sind Prothesen. Ich hasse das alles, diese sklavische Abhängigkeit von Hilfsapparaten. Nur schon dieses Wort, Internet. Mir ist fast alles suspekt, was nett ist. Und ein Handy brauche ich auch nicht, bei der Hanny ist alles handy. Tutti quanti handy bei mir, alles von Hand. Die Sturheit habe ich vom Righini. Bei ihm musste sich sogar das Telefon unter einem Tuch verstecken.

Ich komme aus einer richtigen Künstlerfamilie. Mein Grossvater war der Kunstpapst Sigismund Righini, ein toller Mann. Mein Vater war ein Maler ganz anderer Art und führte eine begehrte Privatmalschule. Meine Mama sass über Schreibheften. Die Kunst, aber auch das Gesellige, das Sich-Mischen und Sich-Einmischen, lag bei uns in der Familie. Ich war ein Einzelkind, aber das Haus war immer voller Leute. Der Vater und vor allem der Grossvater engagierten sich in Gremien und Kommissionen für die Kunst und die Künstler. An der Schanzeneggstrasse 1 wohnten wir, da gab es ein grosses Atelier mit Blick auf den Botanischen Garten und den Fluss. Für Willys Freunde gab es jederzeit Mandarinli oder einen Kaffee vom Kätterli, meistens auch eine warme Mahlzeit. Ich nannte meine Eltern immer beim Vornamen.

Das Kätterli war die Tochter vom Righini und machte kleine Feuilletons. Lustige, farbige Texte. Es kam einmal ein Büchlein heraus beim Orell Füssli. Das Kätterli wäre sehr gut gewesen, aber sie schrieb absolut unleserliche Manuskripte. Der Willy zwang sie dann, es wenigstens so zu schreiben, dass man es in ein Büro geben konnte zum Abtippen. Von uns konnte ja niemand Maschine schreiben. »Seltsamer Abend« heisst das Büchlein. Impressionen waren das, kleine Mansfield-artige Stückchen, ein Schuhladen in Venedig, ein Gewitter im Garten, der Vater im Atelier. Sie hat gut geschrieben, sehr gut. Und sie war auch eine wunderbare Imitatorin. Wenn das Kätterli mit dem Willy ins Cabaret Cornichon ging, lag ich wach im Bett und wartete, bis sie kam und mir vormachte, was sie gesehen hatten. Daheim spross eine freie Bildung, ohne schulischen Druck. Alles ist Schule, wenn man sich darauf einlässt. Die Kunst gehörte bei uns ganz selbstverständlich zum Alltag, das eine bedingte das andere. Ich sass mittendrin, wenn meine Eltern sich über Ausstellungen, Sitzungen der Zürcher Künstlerschaft, über Lesezirkel, den Lyceum-Club, Theater und Konzerte unterhielten. In der Wohnung lagen die Zeitschriften »Der Querschnitt«, »Die Dame« und »Der Simplicissimus« herum. Von diesem Boden zehre ich heute noch.

Ich war das wohlbehütete einzige Kind in diesem Trio familial, und das bekam mir bestens. Als einzige Tochter ist man zwar glücklich, aber auch ein bisschen belastet. Die Lasten der Familie, vor allem die ganzen Vermächtnisse der Vorväter, die trägt man dann auch allein. Weil der Vater so beschäftigt war und mit seiner Kunstschule Erfolg hatte, machte das Kätterli mit der Zeit nur noch den Haushalt und schaute nach dem Rechten. Wunderbar machte sie das, obwohl sie es sicher nicht wirklich liebte. Sie machte es leicht, irgendwie mit links, wie alles, was sie tat. Mich liess sie nie in die Küche, sie wollte nicht, dass ich im Haushalt lernte, sie weigerte sich richtiggehend, mir etwas beizubringen. Vielleicht, damit ich nie in Versuchung käme, das Malen zugunsten von Hausarbeit zu schmeissen. Ich kann bis heute nicht kochen, ausser Spaghetti und Spiegeleier.

In diesem Milieu wurde ich Künstlerin, ohne es zu merken. Ich zeichnete und malte ständig. Am liebsten ganz Gewöhnliches, was grad vor der Nase lag. Ich lernte sehen und das Beobachtete umsetzen. Und ich lernte auch zuhören in diesem Haus, wo alle ein und aus gingen. Künstler reden gern von ihren Problemen und Bobos. Die merkten schnell, dem Hanneli muss man nicht viel erklären, die versteht einen rasch. Menschen haben mich immer interessiert. Ganz normale genauso wie etwa ein Friedrich Dürrenmatt oder der Ludwig Hohl, mit dem ich später acht Jahre zusammenlebte.

Ich ging an der Hohen Promenade in Zürich in die Töchternschule. Aber ich musste mich nicht mit einer Matura abplagen, mir widerfuhr die Gnade, Freischülerin zu sein. Das gab es damals noch. Ich konnte die Fächer auswählen, die mich interessierten und die ich brauchte für die Kunstgewerbeschule. Die Haushaltungsschule strich ich auch, gegen den Willen vom Papa allerdings. Der fand, das brauche man doch als Frau. Aber das Kätterli verstand das sehr gut und unterstützte mich. Dass ich in die Kunstgewerbeschule eintrat, war klar, man verlor kein Wort darüber. Dass ich trotz dieser Selbstverständlichkeit, oder gerade deswegen, einen eigenen Weg suchen musste, merkte ich erst mit der Zeit. Aus dem Schatten der erratischen Blöcke zu treten, die Vater und Grossvater bildeten, war nicht einfach. Es waren aber ebenfalls Männer, die mir halfen, auf meinem selbst gefundenen Weg zu bleiben.

Nach der Kunstgewerbeschule wollte ich eigentlich nach Paris, an eine Mal-Akademie. Aber der Krieg brach aus und die Grenzen schlugen zu. Da zog ich nach Genf, wohnte in einer Pension und studierte an der Ecole des Beaux-Arts. Das war die einzige Möglichkeit für ein Kunststudium in der Schweiz. Dort arbeiteten wir vom Morgen bis zum Abend, malten, bis wir umfielen. Akte, Porträts, immer grossformatig, manchmal mit dem Verlängerungsstab, nicht klein auf den Tischen wie in Zürich. Das gefiel mir sehr. Aber meine Eltern brachten ein grosses Opfer, dass sie mich gehen liessen in dieser schwierigen Zeit. Diese Trennung war für sie schmerzhaft. Das Kätterli schickte mir regelmässig feine schwarze Strümpfe, die ich so gern trug. Der Willy und der Righini mobilisierten väterliche Freunde, die mich unter ihre Fittiche nehmen sollten. »Am Sonntag bist du vorerst immer beim Bildhauer James Vilbert eingeladen«, hiess es. Ich liess sie gewähren, aber nichts hinderte mich am Genuss einer neuen, französisch geprägten Freiheit.

Die behütete Jugend gab mir sehr viel Standfestigkeit. Es ist eigentlich erstaunlich, dass ich in einer solchen Familie eine so gute Bodenhaftung bekam. Bodenhaftung hilft einem, selbständig zu arbeiten, schwierige Wege zu gehen, nicht aufzugeben. Es braucht viel Kraft, wenn man alles selber herausfinden will. Bis man weiss, was man ist und was einen ausmacht. Es ist meistens nicht einfach, so zu leben, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken. An den eigenen Sachen festzuhalten, ist ziemlich anstrengend. Natürlich muss man auch merken, was man kann und wo man besonders gut ist. Da hatte ich in dieser Familie einen Vorteil, weil es alle merkten. Und dann gibt es nur noch eins: viel arbeiten, arbeiten, arbeiten. Dann bekommt man plötzlich auch Unterstützung von aussen.

Der grosse Kopf Ludwig Hohl fand es wunderbar, dass ich malte, aber er hasste es, wenn ich tagelang »landschaften« ging. Ihn verliess, bloss um Landschaften zu malen. Er hasste es auch, wenn ich ein paar Tage nach Zürich verreiste. Er litt Qualen, wenn ich nicht da war, so war der Hohl. Lieber begleitete er mich abends zum »Dringlichschalter« der Post am Bahnhof Cornavin. Ich hatte die grossen Couverts mit den abzuliefernden Illustrationen unter dem Arm, ihm hing wie immer die Gauloise von den Lippen. So war er zufrieden, denn es war ja nicht ich, die verreiste, und bald würden meine Arbeiten von Verlagen und Redaktionen honoriert werden – und der Geldbriefträger würde unser Leben erleichtern. Ein solcher Abend endete meistens im Buffet de la Gare, und ich konnte mein Zeichenblöcklein aus der Tasche ziehen und mein Lieblingsthema, das mir bis heute geblieben ist, weiterskizzieren, Bahnhöfe.

Der Hohl war ein phänomenaler Literat und Philosoph, ein genialer Mensch, ein richtiger Solitär im wahrsten Sinn des Worts. Und ein sehr schwieriger Mann. Als ich nach Genf kam, war er noch wenig bekannt. Kennen gelernt habe ich ihn in einem Café. Ich sass ständig in irgendwelchen Parks und Cafés, um zu zeichnen und weil ich nicht kochen konnte. In Genf war es ein wenig wie am Montmartre in Paris, die Cafés waren der Mittelpunkt des Künstlertums. Wunderbar war das. Das Clémence an der Place du Bourg-de-Four war unser Montmartre, das Café du Centre und die grossen Brasserien an der Place du Molard unser Montparnasse.

Ich hockte also an einem Tischchen, und in einer anderen Ecke hockte der Hohl mit seiner Entourage und rezitierte etwas. Er sah einfach fabelhaft aus, wirklich sehr gut sah er aus. Der Hohl war fünfzehn Jahre älter als ich, ich war erst Anfang zwanzig und natürlich sofort beeindruckt von seiner Erscheinung. Er hatte eine enorme Ausstrahlung, wenn er in einer geselligen Phase war. Das war selten. Wahrscheinlich sah er, wie ich an seinen Lippen hing, jedenfalls kamen wir ins Gespräch. Er fand anscheinend sofort, mit dieser Hanny kann ich über alles reden. Das erzählte er mir später einmal. Er interessierte mich, aber ich war ihm nicht untertan, ich war Leute wie ihn gewöhnt. Wir waren uns sofort nah, im Gespräch und auch sonst, vom ersten Moment an. Wir fanden uns einfach gut, jedes den anderen. Das war für den Hohl ein Glücksfall. Und für mich doch auch! Kurze Zeit später stand er vor der Pension Hemmeler, wo ich wohnte, mit einem Billett, »Invitation pour Hanny Fries – pour la lecture de Ludwig Hohl«. Er gab ab und zu solche Abende, die Leute liebten seine Auftritte, weil er wunderbar las und rezitierte. Wenn er in Stimmung war, hatte der Hohl immer Erfolg. Er war sehr beliebt, und er war sehr einsam, beides.

Mit ihm zu leben, war nicht leicht, aber äusserst anregend. Ich kenne niemanden, der dermassen konsequent auf seinem unbürgerlichen Weg beharrte. Gegen alle Widerstände, immer nur seine Arbeit, seine Überzeugung und auch sein Tagesrhythmus. Der Hohl mischte sich kaum, mit nichts. Aber er dachte über alles nach, immer weiter und weiter. Das ist unglaublich, dass einer das ein Leben lang durchhält. Er war so veranlagt, er konnte nicht aus seiner Haut. Es ist das, was der Dürrenmatt und auch der Max Frisch an ihm bewunderten, ja eigentlich beneideten, diese fast unmenschliche Kompromisslosigkeit. Auch mich zog das an, die Rigorosität, mit der er das Eigene durchzog, es durch und durch lebte. Verdient hat er kaum etwas damit.

Wir ernährten uns schlecht und recht von meinen Aufträgen. Ich bekam schon während dem Studium Aufträge für Illustrationen. Der Manuel Gasser von der »Weltwoche« unterstützte mich. Ich arbeitete unter anderem auch für die »Annabelle«, die NZZ, die »Elle« und »Die Frau«. Oder ich illustrierte Bücher für den Peter Schifferli vom Arche Verlag und für den Manesse-Verlag. Sehr gern zeichnete ich auch ganz Profanes, Gärtnergeschichten zum Beispiel für SJW-Heftchen, die Publikation des Schweizerischen Jugendschriftenwerks. Es störte mich überhaupt nicht, Hefte mit Bärchen zu füllen, die plötzlich so in Mode kamen. Man muss etwas damit anfangen. Aus banalen Vorgaben etwas kreieren ist eine Herausforderung. Gute Künstler schätzen solche Aufträge, nur die schlechten sind sich zu schön dazu.

Übrigens, nichts lieber, als zum Beispiel der Literatur ein Gesicht verleihen. Wenn ich nicht Künstlerin geworden wäre, hätte ich wohl vergleichende Literaturwissenschaft studiert. Ich illustrierte auch Texte von Silja Walter. Die Silja war sehr erfolgreich, eine vielversprechende junge Schweizer Dichterin. Sie bekam einen Preis um den anderen, und dann ging sie ins Kloster. Auch so eine, marschierte unbeirrt ihren Weg. Wir haben uns eine Zeit lang geschrieben, aber jetzt habe ich jahrzehntelang nichts mehr von ihr gehört. Aber die Silja wird immer wieder erscheinen. Was gut ist, kommt irgendwann wieder.

Auch der Hohl ist einer, der nie vergehen wird. Vor kurzem fiel mir ein Geschenk in die Hände, das er mir einmal machte. Er hatte es selber von Hand genäht und geleimt, »Eine Suite für Hanny«, wunderschön. Es sind Zitate, Bemerkungen, die auf das Leben passen, Sprüche, Gedanken zur Einsamkeit, dann wieder »Geliebtes leuchtet durchs Gedränge« und solche Sachen. Der Hohl konnte unverständlich sein, aber auch äusserst liebenswert, richtig grosszügig. Er überredete mich zum Beispiel, ein Kleid zu kaufen, das mir sehr gefiel und das wir uns gar nicht leisten konnten. Ein Wollröckchen mit Tigermuster, Tigerlook. »Mais achète donc cette robe!«, sagte er. »Kauf es dir doch!» Er sparte es sich lieber vom Mund ab, als auf das Vergnügen zu verzichten, mit mir im Tigerlook durch Genf zu flanieren. Wir redeten oft französisch miteinander. Zum Beispiel über Katherine Mansfield, die wir beide verehrten, über Rahel Varnhagen, über Charles-Albert Cingria. Leider habe ich das Tigerkleid hängen lassen, als ich ging, zusammen mit der fantastischen spanischen Robe, die ich auf einem Flohmarkt entdeckte. Manches Schöne verschwindet eben doch, aber das macht nichts.

Der Hohl war auch ein guter Koch. Wenn wir wenig Geld hatten, stiefelten wir durch die Wälder und sammelten Pilze. Wir waren immer knapp bei Kasse, da änderte der Krieg gar nichts. Zu Hause hatten wir immer das gleiche Problem: Ich wollte die Pilze malen, und er wollte sie kochen. Er schimpfte, dass die Würmer die Pilze gefressen hätten, bis ich fertig sei mit Malen.

Dass der Krieg rundherum wütete, davon habe ich ehrlich gesagt wenig mitbekommen. Ich muss zu meiner Schande gestehen, ich war ziemlich apolitisch. Zu sehr beansprucht von meinen eigenen Lebensproblemen, meiner anstrengenden Lebensweise. Besessen von der Liebe und der Kunst. Ich war in allem erst am Anfang, als der Krieg ausbrach. Die Lehrer von der Académie führten uns ab und zu an die Grenzen um Genf und zeigten uns, wie weit wir gehen konnten. Bis hierher und nicht weiter. Das gab einem gleichzeitig das Gefühl, Glück zu haben und eingeschlossen zu sein. Der Hohl hingegen war politisch äusserst aufmerksam. Er hatte viele jüdische Freunde, die plötzlich bei uns auftauchten. Und die ganze Atombombengeschichte beschäftigte ihn sehr.

Im Elternhaus in Zürich war der Krieg das Dauerthema. Ich war nicht so oft dort, wie ich gewollt hätte, aber die Mutter erzählte und schrieb mir davon. Man fürchtete sich davor, dass die Deutschen ins Land einfielen und alles besetzten. Der Willy gestand dem Kätterli später, dass er sich eine Pistole organisiert hatte, falls die Deutschen doch noch über die Schweiz hergefallen wären. Damit sie uns nicht hätten verschleppen können.

Nach sieben Jahren wilder Ehe heiratete ich den Hohl. Meine Eltern waren entsetzt. Sie schrieben mir Briefe, ich solle das um Himmels willen nicht tun. Aber solche Ratschläge befolgt man als junger Mensch nicht immer, Gott sei Dank. Ich glaube, ich war eine gute Tochter, aber nicht immer folgsam. Wenn überhaupt, folgt man in dem Alter den Freunden, und meine Freunde fanden, dem Hohl würde es besser gehen, wenn wir verheiratet wären. Dass das mit uns nicht gut gehen konnte, wusste ich eigentlich selber. Aber ohne ihn zu heiraten, hätte ich mich nie von ihm befreien können. Bei ihm zu bleiben, hätte mich vielleicht zerstört, und ihm hätte es nicht geholfen. Ich musste es durchleben, weitermachen bis zum Ende und wieder anfangen. Gerettet haben mich die Bodenhaftung und mein gesunder Freiheitsdrang.

Wir gingen zusammen in den Jura und beweinten unsere Trennung eine Weile. Dann kehrte ich nach Zürich zurück. Ich sorgte dafür, dass der Hohl nicht allein blieb, als ich ging. Es war mir nie egal, wie es ihm ging. Die Liebe in ihrer seltenen, grossen Form vergeht nicht. Sie wandelt sich höchstens. Der Hohl war fünfmal verheiratet. Das war vielleicht seine Tragik, er kam über die Entwürfe nicht hinaus.

Das Leben ist ein Wechselbad, dann ist es gut. Alles mischt sich immer wieder neu, wenn es fliesst. Für mich war das so, obwohl ich es nicht suchte. Das Mischen ergibt sich vielleicht auch aus dem Doppelblick. Den muss man üben und pflegen, er bringt diese Mischung automatisch, das war Hohls Maxime für die Beziehung zum anderen. Das scharfe und das rührbare Auge. Er hatte es von Goethe: »Niemand kann sich glücklich preisen / Der des Doppelblicks ermangelt.«

Mit meiner grossen, letzten Liebe lebe ich heute noch zusammen. Seit über vierzig Jahren sind wir ein ziemlich glückliches Paar. Wir haben sogar geheiratet, der Ordnung halber, weil wir beide so viele Verpflichtungen haben. Mein Mann ist ein absolut zauberhafter Mensch. Grosszügig, gesellig, kritisch und aufmerksam. Künstlerisch extrem auf der Höhe, der wäre ein wunderbarer Maler geworden, wenn er nicht einen anderen Weg eingeschlagen hätte und Grafiker geworden wäre. Und er kocht fantastisch.

Ich sehe nicht ein, warum eine Liebe nicht gut alt werden könnte. Wenn sie gesund ist, wird sie alt werden. Das Spannende an der Liebe ist das Sich-Vermischen mit einem anderen Menschen. Neue Farben entstehen, wenn man die Mischung immer wieder ein wenig nuanciert. Und wenn man den Doppelblick übt. Das kann man doch auch mit dem gleichen Partner. Die Kunst ist, das richtige Mass zu finden zwischen der eigenen Freiheit und dem Nachgeben dem andern zuliebe. Sicher muss man oft nachgeben. Aber dort, wo es einen wirklich an einem Lebensnerv trifft, muss man sich behaupten. Dazu braucht es Bodenhaftung, die Sicherheit auf dem eigenen Weg.

Und man muss aufmerksam bleiben. Muss merken, wenn der andere nachgibt, dann schätzt man es und macht es auch selber lieber. Es ist doch etwas vom Schönsten, alte Paare zu beobachten mit ihren wortlosen Einverständnissen. Diese Friedfertigkeit entspannt das Leben ungemein. Spannung ist auch wichtig, die braucht aber keinesfalls immer erotisch zu sein. Es kann auch spannend sein, in eine Beiz mitzugehen, in die man eigentlich nicht gehen wollte, und sich überraschen zu lassen, dem anderen zuliebe. Aber irgendwo muss man sich einen Ort freihalten, wo gar nichts vermischt wird. Wo man absolut machen kann, was einem einfällt. Das ist existenziell für künstlerisches Tun, vielleicht überhaupt. Ich habe das vom Righini gelernt, diese unbedingte Verteidigung eines eigenen Ortes.

Mit Kindern geht das schlechter. Kinder wollte ich nie, eigentlich lieber nicht. Meine mütterliche Seite beschränkt sich auf Windeln. Ich musste mich entscheiden, entweder Leinwand oder Windeln. Beides ging schlecht, jedenfalls in jener Zeit. Wahrscheinlich auch heute noch. Ich habe sehr gerne Windeln, diese altmodischen, ich benutze sie als Mallappen. Vielleicht ginge es auch mit Pampers. Es wird nämlich immer schwieriger, diese schönen Stoffwindeln zu finden.

Familie hiess für mich der Mann, die Eltern, die Freunde. Freunde habe ich immer als Familie empfunden, ich bin sehr treu. Unter den Künstlern gab es eine gewisse Solidarität, man traf sich regelmässig in den Cafés. In der Kronenhalle sassen wir schon, als uns die Serviertöchter die Konsumation noch vorschiessen mussten. Wir sassen im Odeon, im Select, das ist jetzt alles anders. Und diese wunderbaren EPA-Restaurants, die stink-billig, gewöhnlich und gut waren, sind verschwunden. Zusammen mit der originellen Kundschaft. Mit dem Hohl ging ich fast täglich ins EPA-Restaurant in Genf. In Zürich zur EPA am Bellevue und ins altjümpferliche Café Gleich in Örlikon. Alles nicht mehr da. Heute hat es überall Lounges, in denen man vor lauter Lockersein nicht mehr richtig sitzen kann. Ich sitze lieber an einem rechten Tisch, als mit Fremden auf Sofas zu liegen. Und die Kundschaft ist inzwischen so originell, dass man sie auf gar keinen Fall malen möchte.

Der grösste Verlust war das Odeon, dort hat der Niedergang dieser Lokale begonnen. Ich glaube, es gibt unter den Künstlern auch diesen Zusammenhalt nicht mehr. Wir gingen regelmässig an die Luft, spazieren. Wir wussten, wo man die anderen trifft. Keiner musste telefonieren, die meisten hatten gar kein Telefon und wahrscheinlich auch keine Lust, sich an einen Apparat zu hängen. Wir hatten Orte, wo wir uns trafen, jammerten, diskutierten, feierten. Diese Orte waren so wichtig wie das Zuhause, für manche wichtiger. Mir scheint, jetzt hockt jeder für sich in seinem Atelier oder Loft und brütet fürs nächste Stipendium. Tüftelt über dem Businessplan, den er dafür abgeben muss. Das kreiert ganz andere Künstler.

Den Dürrenmatt zeichnete ich als jungen Mann im Spital, vor Urzeiten. Den besuchte dort kaum jemand, er war oft krank. Mit dem Dürrenmatt hatte ich eine freundschaftliche Beziehung, die richtige Mischung aus Anteilnahme und Distanz. Ich kannte ihn vom Hohl und vom Schifferli. Wir mochten uns, wir redeten über alltägliche Dinge, Verlegerprobleme, Finanzprobleme, Gesundheitsprobleme und »In welche Beiz gehen wir? Kennst nicht noch etwas anderes als immer diese Kronenhalle?«. Aber er musste nie meine Zeichnungen begutachten, und ich musste nie seine Stücke kommentieren. Ich zeichnete sie nur. Unser Verhältnis war sehr entspannt.

Tausende von Zeichnungen habe ich im Theater gemacht, auch in Opern und im Cabaret. Vom Dürrenmatt und vom Max Frisch zeichnete ich sämtliche Stücke, aber auch von anderen Autoren, die ein kleineres dramatisches Werk schufen. Liegt tutti quanti versammelt in Mappen und Blöcken in den Tiefen meines Theaterschranks. Wohl ziemlich alles wurde in diesem »Work in Progress« festgehalten, was nach dem Zweiten Weltkrieg im Theater passierte. Was im Theater passiert, passiert auch im Leben, das ist wie ein Spiegel. Ich vermute, wenn man diese Zeichnungen in ihrer Abfolge von Jahrzehnten in einen Zusammenhang stellte, käme Interessantes zum Vorschein. Bis jetzt habe ich keine Zeit gefunden, mir das einmal genauer anzusehen. Sie liegen da einfach, und ich arbeite weiter.

Zeichnen ist eigentlich schnell, das passt mir. Man kann die Augen schweifen lassen, flüchtige Eindrücke einfangen, überblenden. Man kann an vielen Orten gleichzeitig sein und es zusammenfliessen lassen. Das Zeichnen liebe ich, schon immer. Malen ist langsam. Dafür hat man keinen Termindruck, kann sich endlos Zeit lassen.

Vor kurzem gab es eine Ausstellung im Centre Dürrenmatt in Neuchâtel. Die nannte ich »Der Besuch der alten Malerin«. Das ist doch gut, alt gefällt mir. Eine Bekannte meckerte sofort, alt könne man doch nicht sagen, das klinge schrecklich. Ich habe kein Problem mit diesem Wort. Ich sehe darin eher einen Rang als eine Beleidigung. Ich hätte auch kein Problem mit Ihrem Untertitel »Alte Frauen erzählen«. Die Leute zucken zusammen beim Wort alt, das ist ziemlich neurotisch. Ich muss sagen, ich hatte die alten Leute immer schaurig gern. Das tönt zwar, als wäre ich selber noch jung, aber es ist so. Ich bin in meinem Leben vielen Alten nachgelaufen, um sie zu zeichnen. Altes ist meistens interessanter als Junges, es ist mehr Leben drin. Und etwas ist ganz fabelhaft. Jetzt, wo ich selber alt bin, ist Altsein irgendwie schick. Suddenly you’re old and in.

Ich möchte aber gern noch ein paar Jährchen leben. Vor allem, um Zeit zu verlieren. Das ist mir wichtig im Leben, Zeit verlieren. Weil ich nämlich, indem ich Umwege machte, meistens zu einem guten Ziel kam. Da finde ich zum Beispiel eine Stelle in der Stadt, die ich noch nie betrachtet habe. Auf dem direkten Weg hätte ich sie nie gefunden. Immer, wenn ich einen Umweg machte oder machen musste, ist am Schluss etwas Gutes herausgekommen. Darum muss ich Zeit verlieren, wie andere Fitnesstraining machen. Verlieren tönt negativ, wie das Wort alt. Aber es ist gewinnen. Also möglichst viel Zeit verlieren. Und dann weitermachen, weitermachen bis zum Ende. Und wieder anfangen.

Das volle Leben

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