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Polizei im Klassenzimmer

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Wenig später hört man ein Martinshorn. Ein Krankenwagen fährt mit quietschenden Reifen vor, er bremst scharf, zwei Sanitäter springen heraus, gefolgt von einem etwas schwerfälligeren Notarzt, der sich beim Heraushüpfen aus dem Sanka beinahe den Hals bricht. Wir schauen alle gleichzeitig entsetzt und gebannt aus dem Fenster. Gibt es noch Hoffnung? Der Notarzt kniet sich neben den gekrümmt daliegenden Körper, tastet den Puls und schüttelt den Kopf. Sie ist tot. Hier wird kein Rettungswagen mehr gebraucht. Die Gewissheit legt sich wie eine bleischwere Decke über uns, die wir hier an den großen Klassenzimmerfenstern stehen. Keiner sagt etwas.

Ich bin fassungslos und zucke zusammen als Max, der Klassensprecher, mich mit dem Ellenbogen schubst. „Schau mal, Frau Sorglos, die Presse ist auch schon da.“ „Ansorge heißt das. Wie können die so schnell hier sein?“ Ich bin verblüfft. Max zuckt mit den Schultern: „Handy natürlich.“ „Ja schon, aber Handy ist doch an Schulen verboten!“ „Na da halten sich ja auch nur die Lehrer dran, Frau Ansorge“, frotzelt mich der Typ an, der einen auf cool macht und dabei doch Tränen in den Augenwinkeln hat. Ich verpasse ihm einen ordnenden Seitenhieb. Dann fange ich auch an zu schluchzen.

Der Krankenwagen fährt wieder ab. Ein Polizeiauto fährt vor. Ein Mann im Anzug und eine blonde Frau in Uniform steigen aus. Mit einem eleganten Ausfallschritt schiebt sich die wuchtige Frau vor den zierlichen Herrn und segelt voraus Richtung Portal. Der kleine Mann stolpert verdutzt und eilt ihr dann hinterher. Sie spielt bestimmt Basketball oder Rugby, bemerke ich anerkennend. Das Team betritt kurz darauf das Klassenzimmer. Die wuchtige Dame blickt majestätisch um sich und fragt: „Wer ist hier zuständig!“ „Ich“, mein Chef hebt eingeschüchtert die Hand. „Name!“, bellt sie wie auf dem Kasernenhof. „Herrlich“, sagt der Chef brav. „Was soll hier herrlich sein“, fragt die Dame indigniert in betontem Hochdeutsch „hier ist eben jemand verstorben!“ Ich zeige mich hilfsbereit: „Er heißt so!“ Von unten taucht der kleine Mann auf und schiebt sich zwischen die Freiheitsstatue vom Revier und meinen Chef. „Marta!“, sagt er vorwurfsvoll. „Was ist Rüdiger?“, fragt sie genervt. „Du hast etwas vergessen.“ „Wieso vergessen?“, sie schüttelt unwirsch den Kopf. „Das sind keine Drogenhändler, wir sind an einem Gymnasium. Der Mann ist Rektor.“ „Und jetzt?“, blafft sie.

„Wir sollten uns zunächst einmal vorstellen“, souffliert er hilfreich. „Ich bin das noch nicht gewöhnt, Rüdiger, mach du das mal!“ Also stellt sich der kleine Mann erst mal vor. „Guten Tag, Herr Herrlich“, er stutzt kurz wegen der Verdopplung und fährt dann fort. „Wir kommen von der Kripo Aschaffenburg, das ist Kommissar Marta Baierl, eine neue Kollegin aus dem Osten. Sie ist von der Drogenfahndung Berlin zu uns gewechselt. Und mein Name ist Rüdiger Schneider, ich bin Psychologe. Wir sind hier um zu helfen und natürlich um den Tathergang zu ermitteln. „Es war Selbstmord!“, wirft Herr Herrlich schmollend ein. „Auch dann müssen wir ermitteln“, informiert Herr Schneider gelassen und dann machen sich die beiden an die Arbeit.

Man merkt, dass sie Erfahrung haben. Frau Baierl zeigt sich von ihrer mütterlichen Seite und ordnet mit energischer Hand das Chaos. Sie wird dabei von dem kleinen Psychologen unterstützt. Beide machen einen ruhigen und souveränen Eindruck. Die Mehrzahl der Schüler hat sich wieder gefasst. Man steht in Gruppen herum und diskutiert wild. Carlas beste Freundin allerdings ist zusammengebrochen und schluchzt hysterisch. Sie bekommt etwas Beruhigendes und Marlene eine Klassenkameradin nimmt sie tröstend in den Arm. Als alle auf die Anweisung von Frau Baierl hin Platz genommen haben und einigermaßen Ruhe eingekehrt ist, wendet sich der Psychologe an unseren Rektor und fragt: „Würden sie uns bitte berichten, was sich hier zugetragen hat?“ Herr Herrlich berichtet ausführlich. Herr Schneider hört aufmerksam zu und nickt hin und wieder.

Dann wendet er sich an die Klasse: „Wir brauchen möglichst viel Information über den Tathergang und über Fräulein Faber. Wir werden jeden von euch einzeln vernehmen müssen. In der Zwischenzeit werden wir eure Eltern verständigen, damit sie euch später abholen.“ Zu Herrn Herrlich gewandt fährt er fort: „Die jungen Leute brauchen etwas Stärkendes, etwas Heißes zu trinken wäre gut. Tee, wenn es nichts ausmacht. Können Sie das organisieren?“ Der angesprochene nickt. Der kleine Mann blickt vollkommen unbeeindruckt von dessen Größe zu unserem Rektor hoch, tätschelt ihm beruhigend den Arm und fährt fort: „ Wenn Sie dann mit ihren Kollegen warten würden, bis wir mit den Schülern fertig sind, wäre das fein.“ An die Kommissarin gerichtet fährt er fort: „Martha, wir brauchen einen Sozialarbeiter oder Seelsorger, wir schaffen das alleine nicht.“ Martha reagiert schnell und zückt ihr Handy. Das angeforderte Team leistet ganze Arbeit. In der nächsten Stunde wird Tee ausgeschenkt, getröstet, beruhigt und natürlich ermittelt. Ich selbst stehe einfach nur rum und beobachte das Treiben. Seltsam unbeteiligt fühle ich mich. Sollte ich mir jetzt Vorwürfe machen? Hätte ich anders reagieren sollen? War ich zu schnell, zu forsch? Ach ich weiß es einfach nicht.

Die Ermittlungen laufen zügig. Zwei Stunden später sind alle verhört worden und haben das Schulhaus verlassen. Der Unterricht für den nächsten Tag ist abgesagt. Ich sitze apathisch im Lehrerzimmer und grüble vor einer kalten Tasse Kaffee immer noch vor mich hin. Immer wieder lasse ich das Erlebte vor meinen inneren Augen Revue passieren. Beginnend von da an, als ich im Lehrerzimmer sitze und mich eine laute Stimme aus meinem Morgendämmer reißt. „Frau Ansorge, bitte kommen Sie unverzüglich in den Klassenraum 28!“, röhrt es über den Lautsprecher der Schule. Das reißt mich fast vom Stuhl. Wütend schimpfe ich: „Mein Gott, wie das scheppert!” Morgens bin ich ja immer noch nicht ganz fit. Da muss ich mich immer erst mal sortieren.

Also, Frau Ansorge, das bin schon mal ich. Ich resümiere, Eva Ansorge, Lehrerin für Englisch und Sport, Alter: 40 plus, klein und drahtig, Augenfarbe grün, Sternzeichen, Wassermann, besondere Kennzeichen: Sommersprossen und ein roter lockiger Haarschopf mit Eigenleben. Im Moment im Lehrerzimmer sitzend. Eigentlich sollte ich hier Unterricht vorbereiten. Aber in Wirklichkeit sitze ich hier quasi zur Selbstfindung, die bei mir morgens immer etwas länger dauert.

„Zimmer 28, wo ist Zimmer 28? Verflixt noch mal, woher soll ich wissen, wo Zimmer 28 ist!“, beschwere ich mich. Mein Orientierungssinn ist zwar großartig, aber einen Klasseraum an der Zimmernummer erkennen, das ist zu viel für mich, ich habe mir noch nie Zahlen merken können. „Sag doch einfach welche Klasse du meinst!“, schimpfe ich. Also erhebe ich mich und schau mal auf dem Lageplan der Klassenzimmer nach. Zimmer 28 ist die 10 b, da müsste ich eh gleich hin. Das passt ja prima. Ob die Klasse etwas angestellt hat? Sie neigt etwas zum Drama, die 10b.

Ich werfe noch einen zweiten Blick auf die Stundentafel. Mathematik, steht da. Der Meinrad, unterrichtet die Klasse also jetzt. Das könnte gut sein, dass es jemandem schlecht geworden ist, sinniere ich. Der Mann kann nämlich die vielfältigsten Symptome in Menschen hervorrufen. Angefangen von A wie Angstschweiß über Ü, wie Übelkeit, bis hin zu Z wie Zerebrallähmung.

Notrufe kommen aus dem Rektorat. Der Stimme nach ist der Chef die Quelle des ominösen Aufrufs und er klingt, wenn ich es mir so recht überlege, doch ziemlich nervös. Vielleicht ist es doch etwas Schlimmeres? Ich raffe mich widerwillig auf und sprinte los. Im Eiltempo, na ja halt so schnell wie ich kann, haste ich die große Freitreppe empor. Unterwegs ramme ich wie einer von diesen bulligen Baseballspielern ein paar Leutchen um, die gerade zum Stundenwechsel die breite Treppe herunterscharwenzeln. Ich reiße die Türe auf und dann sehe ich nur noch ein Bild in Großformat. Es ist der Moment, in dem Carla loslässt. Mir wird akut schlecht und ich renne aufs Klo.

Hier stöbert mich später Frau Übel, unsere Sekretärin auf. „Komm schon Eva, du bist dran. “ Sie klemmt mich unter ihren Arm und bringt mich ins Elternsprechzimmer, das jetzt als Verhörraum dient. „Ach Sigrid, du bist immer so gut zu mir“, seufze ich, als sie mich noch einmal anguckt, ob ich auch präsentabel bin. Dann streicht sie mir die widerspenstige Haarlocke aus der Stirn und sagt: „So geht`s.“ Sie ist einfach die menschlichste Person an unserer Schule, obwohl sie so übel heißt.

Der Psychologe und die Kripobeamtin sitzen bereits im Lehrerzimmer. Die beiden scheinen sich hier eindeutig nicht wohl zu fühlen. „Es rieschd hier so nach Schule!“, sächselt die ältere Beamtin spontan und rümpft missbilligend die Nase.

Ihre blonden Haare zu einem Dutt hochgesteckt, mustert sie die Umgebung und sieht dabei aber recht adrett aus in ihrem Polizeioutfit. Ihr Vorbau sprengt beinahe die Uniform. „Nett, Sie kommt ja aus dem Osten!“, registriere ich erfreut. Ich mag nämlich Dialekte. Deshalb hat sie vorhin so schönes Hochdeutsch gesprochen. Ihr Vorsatz scheint nicht lange zu halten. Ich folge ihren Blicken und nehme den Raum mit ihren Augen wahr. Es stimmt, es riecht nicht nur so, es sieht auch so aus. Die dunklen Schränke und die altmodischen Stühle wirken erdrückend. Alles ist irgendwie staubig. Ich erkläre der Dame: „Die Inneneinrichtung des Raums stammt teilweise noch aus dem vorletzten Jahrhundert. Dafür ist unsere Bildungssystem aber so was von modern!“ Die Kriminalbeamtin mustert die abgewetzten, mit grünem Samtstoff bezogenen Stühle. Sie stehen um einen großen Tisch herum, auf dem es vor Heften, Ordnern und Blätterstapeln nur so wimmelt. Die Frau von der Polizei stellt trocken fest: „Hier könnte einer wenigstens mal aufräumen, wenn Sie schon in so altem Mobiliar hausen müssen.“

Die robuste Frau und der kleine freundlich wirkende Psychologe mit Halbglatze und Nickelbrille sind das ideale Gegensatzpaar. Er geht ihr mal gerade bis zum Busen, sieht aber doppelt so wichtig aus. Jetzt stellen sie sich noch einmal vor. „Wir sind gerade dabei mit allen bedroffenen Bersonen ein Gespräch under vier Augen zu führen. Sie sind uns dabei nadürlich besonders wichtig, sie haben ja als letzte quasi persönlichen Kondagt zu ihr gehabt“, informiert mich die Beamtin. „Wir hätten deshalb gerne genaue Informationen über den Ablauf des Geschehens und die anderen betroffenen Beteiligten.“ „ Stimmt, wir müssen nicht nur den genauen Ablauf des Geschehens rekonstruieren, sondern auch möglichst viel über den persönlichen Hintergrund von Fräulein Faber erfahren“, bestätigt der Psychologe. Dabei blicken mich seine Augen über den Brillenrand hinweg prüfend an. Er erinnert mich ein bisschen an Dumbledore, wenn er über den Speisesaal von Hogwarts blickt. Es fehlen nur noch die Zauberermütze und der Bart. „Wer kannte Fräulein Faber genauer? Wer waren ihre Freunde? Wer hatte Kontakt zu ihren Eltern? Welche Lehrer unterrichten in der Klasse?“, fragt Frau Baierl jetzt in die große Runde. Alle ziehen den Kopf ein und schauen betreten zur Seite. Über einen Kollegen herziehen, will natürlich jeder ganz gerne mal, aber nicht unbedingt bei der Polizei. „Ihre Aussagen werden natürlich streng vertraulich behandelt“, versichert die Frau in Grün.

Sigrid Übel, unsere Sekretärin, überbrückt die peinliche Situation. Wie immer adrett, mit Hochfrisur und gekonnt geschminkt. Sie kommt mit einer Kanne und einem Tablett in den Raum und flötet: „Der Kaffee ist fertig, möchten die Herrschaften vielleicht ein Tässchen. “ Die Polizeibeamtin lehnt ab. Aber der Psychologe nickt. „Schwarz, aber mit viel Zucker!” Er setzt sich auf einen der grüngepolsterten Stühle. Es steigt spontan eine Staubwolke aus dem betagten Sitzmöbel auf. Da sitzt er jetzt und freut sich über die, wie er noch nicht weiß, üble braune Brühe, die ihm gleich serviert werden wird.

Mein Chef, der sich in seine Chefetage zurückgezogen hatte, ist in der Zwischenzeit auch eingetroffen. Seine Einsteinfrisur ist ziemlich zerzaust, kein Wunder bei der Sachlage. Man sieht ihm an, dass die Sache für ihn oberpeinlich ist. Aber er versucht, wie immer, Herr der Lage zu bleiben. Er begrüßt die beiden mit einer jovialen Chefgeste. Dann entführt er sie in sein Büro. Chef wird also im Chefzimmer vernommen.

Danach ist Meinrad Blum dran, der ist ja auch der Hauptverdächtige. Als nächstes werde ich aufgerufen. Ich setze mich gegenüber auf einen Stuhl und mache erst mal Konversation. Ich bin schließlich ein höflicher Mensch. „Meine Freundin arbeitet bei der Polizei. Kennen Sie sie vielleicht? Sie heißt Luisa Kempf? „Ach nadürlisch“, sächselt die sympathische Beamtin. Danach tauschen wir uns von Frau zu Frau ein bisschen aus. Nach einer Weile meint sie dann aber doch: „Jetzt aber mal los, Frau Sorglos?“ Ich unterbreche sie: „Entschuldigung, ich heiße Ansorge, Eva Ansorge. Erwarten sie vielleicht jemand anderen?“ Sie schaut irritiert. „Aber, die Schüler!“ Ich unterbreche Sie und schüttle vehement den Kopf. „Gut, dann muss ich mich wohl verhört haben,“ lenkt Frau Baierl ein. „Also, Frau Ansorge, schildern Sie doch bitte mal den Härgang des Geschehens aus ihrer Sischd. Ich bitte sie dabei möglichst genau zu sein. Auch kleine Details sind manchmal enorm wichtig!“

„Isch antworde jetzt mal aus besdem Wissen und Gewissen. Isch will ja geen Ärscher machen“, sächsle ich spontan zurück. Frau Polizei zuckt zusammen, wie von der Glabberschlange gebissen. Dann lacht sie schallend: „Na mit ihnen ham se ja auch den Bock zum Gärtnä gemacht, Frau Sorglos.“ Anschließend beantworte ich ihre Fragen. Unser Gespräch wird auf Diktafon aufgenommen. Tolles Gerät! So etwas hätte ich auch gerne mal. Kommt gleich auf meine Wunschliste. Danach muss ich über den Flur zum Psychologen. „Na, wie war der Kaffee?“, frage ich mitfühlend. Der Mann hat Humor und verdreht die Augen. „Aber besser als nix.“ Er nickt. „Sie scheinen die Sache ja sehr gelassen zu nehmen“, meint er. „ Als Lehrer kann man so was, schließlich fängt bei uns jeden Tag um 8 Uhr die Krise an und endet meist erst gegen Nachmittag.“ Er nickt verständig: „Spaß beiseite, Frau Ansorge, wir sind auch hier, um eine psychologische Erstversorgung nach einem traumatischen Geschehen zu gewährleisten.“ „Mir geht es gut, ich schaffe das schon“, kommentiere ich trotzig. Mit neugierigen Äuglein blickt er mich forschend über den Brillenrand hinweg an. „Wie geht es ihnen in ihrem Beruf, arbeiten Sie gerne in der Schule?“ Was soll das jetzt? Ich blicke ihn mit großen Augen und offenen Mund an. Was will der Mann jetzt von mir. Ich versinke erst mal ins Nachdenken. „Ob ich gerne Lehrerin bin? Doch schon. Die Arbeit ist abwechslungsreich. Im Prinzip ist jeder Tag ein Abenteuer. Man muss halt ständig hellwach sein, wenn man unterrichtet. Wenn man sich nur darauf konzentrieren müsste, seinen Stoff zu vermitteln, ginge das ja noch. Aber es spielen noch viele anderen Faktoren eine Rolle Stoffüberfrachtung und viel zu große Klassen. Menschen, die sich gar nicht unterrichten lassen wollen, weil sie viel lieber mit den Nachbarn schwätzen, leistungsstarke Schüler, die nicht genug Wissen in sich aufsaugen können und außerdem welche, die schon seit der vierten Klasse im Schülerburnout hocken. Die Bandbreite ist halt groß. Ich würde sagen, es geht oft mehr um Psychologie und Gruppendynamik, als um die reine Wissensvermittlung.“

„Wie ist es denn bei ihnen? Ihr Beruf ist auch nicht ganz ohne?“ frage ich gleich mal zurück. „Wenn ich an das ständige Gewusel in einem Klassenzimmer denke, werde ich richtig neidisch. Sie können ihre Klienten wenigstens auf die Couch legen, da halten sie still. " Der Psychologe lässt sich nicht aus der Ruhe bringen: „Wissen Sie, das mit der Couch ist ein amerikanischer Mythos und um die Wahrheit zu sagen, seit der Einführung von G8, der Verkürzung der Gymnasialzeit auf 8 Jahre, geht es auch bei uns Psychologen auch drunter und drüber. Ich komme vor lauter Terminen kaum noch aus meiner Praxis raus. Neue Klienten kann ich gar nicht mehr annehmen.“

Ich freue mich mal mit einem Fachmann reden zu dürfen und beschließe meinem Unmut über Ärzte und Psychologen hier ein Forum zu geben. „Wissen Sie, Herr Schneider, das ist die moderne Leistungsgesellschaft. Die Schule hat sich durch G8 stark verändert. Für alle die drinnen sitzen, weht ein rauer Wind. Aber für Ärzte, Psychologen und die Pharmaindustrie ist unser Schulsystem doch ein Gewinn!“ „Wie bitte?“, der kleine Mann schüttelt ungläubig den Kopf über meine tolldreiste Argumentationskette. „Na ihr Ärzte und Psychologen mischt da doch auch fleißig mit. Manchmal denke ich, dass G8 von der Pharmaindustrie gesponsert sein muss.“ Ich stehe auf und laufe dozierend durch den kleinen Raum. Wenn ich laufe, kann ich besser nachdenken. Lehrergewohnheit. „Ich erzähle ihnen jetzt mal, wie eine Schulwoche für einen Zehntklässer aussieht: Montags Matheprobe, dienstags Lateinabfrage, mittwochs Reli-Ex und donnerstags noch ein kleines Englischschulaufgäbchen. Manchen macht das gar nicht aus, aber viele überleben so eine Woche nur mit der Hilfe von kleinen Pillchen. Sie glauben gar nicht was die alles einnehmen. Die Putzfrau erzählt mir jede Woche, wie viele und welche leere Pillenschachteln sie wieder aus dem Abfalleimer geborgen hat. Das ist kriminell. Ich sage nur Drogenhandel. Kopfschmerztabletten, Tranquilizer, Aufputschmittel. Alles da. Deshalb steht für mich fest. G8 ist für die Pharmaindustrie ein Gewinn. Und wer verschreibt den ganzen Unsinn? Die Handlanger der Pharmaindustrie. Und wenn sie alle mal auf Drogen gehoben sind, dann werden Sie diesen ein Leben lang treu bleiben. Das hört nicht mit der Schule auf!“ Ich schnappe nach Luft und mache eine entrüstete Pause. Der Psychologe zeigt auf. Aber ich bin noch nicht fertig! Und nehme ihn einfach nicht dran. Wenn der Lehrer spricht, nennt man das Unterricht. „Und da soll man noch anständigen Unterricht halten! Vor lauter Hetzen von einem Thema zum Nächsten, wird einem doch einfach nur schlecht. Das Ende vom Lied ist, jeder ist mies drauf, überall wird mit ausgefahrenen Ellenbogen gearbeitet, sogar die Lehrer giften sich gegenseitig an. Und in der Oberstufe, da kommt noch der Druck dazu, den wir Lehrer von oben und von Seiten der Eltern abkriegen. Da liegen die Nerven richtig blank!“ Jetzt bin ich richtig grätzig und haue um meinen Diskurs zu unterstreichen mit der Faust auf den Tisch. Aua, das war zu fest, stelle ich fest und reibe mir die Hand.

Der Psychologe guckt irritiert. Wahrscheinlich verschreibt er selbst gerne Ritalin. Damit jeder seine Ruhe hat. „Das Internet ist übrigens voll mit Abhandlungen über die Nebenwirkungen dieses Medikaments,“ runde ich meinen Diskurs ab.

„Jetzt kommen wir aber bitte zum eigentlichen Thema, Frau Ansorge“, lenkt der Psychologe ab. „Was können sie mir über Herrn Blum erzählen?“ Ich runzle die Stirn. Schade, ich hätte jetzt gerne weiter mit ihm diskutiert.

„Alles was sie mir jetzt erzählen, wird selbstverständlich vertraulich behandelt. Ich muss mir ein genaues Bild machen können, um herauszufinden, wie es zu einem Selbstmord an ihrer Schule kommen konnte. Ob eventuell ein Fremdverschulden vorliegt und wir jemanden haftbar machen müssen. Und natürlich, damit wir einen Wiederholungsfall vermeiden können.“ „Dann wechseln wir halt das Thema!“ grummle ich „Ich kenne Herrn Blum schon lange, schon seit unserer gemeinsamen Schulzeit. Wir waren beide hier an diesem Gymnasium als Schüler in derselben Klasse. Sein Spitzname war Blümchen. Keiner nahm ihn besonders ernst. Blum kompensierte seine Komplexe wohl durch „ich kann gut rechnen“ er tauchte tief in die Welt der Mathematik ein und nie wieder auf. Jeder Mathelehrer war sein Gott. Er stand immer vor dem Lehrerzimmer und holte sie zum Unterricht ab und schleppte ihnen die Tasche hinterher. Nach dem Abitur studierte er Mathematik in Würzburg. Ich glaube sogar, man hat ihm nach dem Studium, als er nicht wusste welchen Beruf er ergreifen sollte, auf dem Arbeitsamt empfohlen Lehrer zu werden, damit er seine Schüchternheit überwindet. Und seither hat sich kaum etwas geändert. Außer der Mathematik existiert für ihn so gut wie nichts Anderes und mit Menschen kommt er nicht gut aus.“ „Wie war er denn als Lehrer?“ möchte Herr Schneider gerne wissen.

„Man muss sich das ungefähr so vorstellen. Kleiner Kerl, mit unstetem Blick hinter einer dicken Brille eingesperrt, rast vollkommen konfus in irgendein Klassenzimmer. Wenn er das richtige trifft, ist das Glückssache, denn er hat den Orientierungssinn eines Maulwurfs, den man dem Tageslicht aussetzt. Er wirft die Büchertasche auf sein Pult, murmelt kurz „Guten Morgen“, eine Antwort erwartet er nicht, denn Menschen sind ja wie gesagt nicht sein Ding und dann kritzelt er eine Formel an die Tafel, von der er glaubt, sie wäre selbsterklärend. Anschließend nuschelt er: „So, jetzt schlagen Sie mal das Buch auf, probieren Sie doch einmal aus, ob die Formel greift.“ Erschöpft von der wilden Aktion, setzt er sich ans Pult und ruht sich erst mal aus. Wenn er Noten verkündet, klingt das ungefähr so: „Der Schüler steht im schriftlichen, auf 4,56 und im mündlichen auf einer 4,51. Das ist summasummarum eine fünf. Damit fällt er durch! Wenn ich nach Herrn Blum, Blümchen ist übrigens auch sein aktueller Spitzname bei den Schülern, in eine Klasse komme, brauche ich meistens eine Viertelstunde, bis sich die Schüler von diesem mathematischen Wunderknaben wieder erholt haben. Er ist schon extrem der Meinrad. Aber mathematisch ist er ein Genie.“

Der Psychologe lobt mich: „Sie können ja wirklich sehr bildhaft erzählen. Sie könnten auch als Komiker arbeiten.“ „Tue ich doch, Animateur ist eine der zusätzlichen Qualifikationen, die ein Lehrer heutzutage mitbringen muss.“ Ich denke noch einmal nach. Dann fällt mir auch noch etwas ein: „Er kann nicht erklären. Das hat ihm an der Uni keiner beibringen können. Vielleicht können Mathematiker auch generell nicht erklären. Was das Erklären betrifft, war er auch schon immer beratungsresistent. Es hat auch schon etliche Gespräche und Mahnungen seitens der Schulleitung gegeben um dem abzuhelfen. Immer wieder haben Eltern und wohlmeinende Kollegen an seine Tür geklopft, um ihn auf dieses kleine Detail aufmerksam zu machen. Aber nein, geändert hat sich nichts. Natürlich gab es auch immer wieder Beschwerden seitens der Eltern. Als Beratungslehrerin musste ich oft zwischen Blum, genervten Eltern und betroffenen Schülern vermitteln. Aber seit G8 ist das weniger geworden. Die Eltern schlucken mehr.“

Ich lehne mich entspannt zurück und ziehe das Resümee aus meiner langen Rede. „ Die Zahl der pädagogischen Opfer von Herrn Blum geht, wie es der Mathematiker ausdrücken würde, gegen Unendlich. “ Herr Schneider schaut mich wegen dieser Formulierung fassungslos an. „Das haben Sie ja gut auf den Punkt gebracht. Wie war eigentlich das Verhältnis von Fräulein Faber zu Herrn Blum?“, schleust mich der kleine Mann weiter durch sein Interview.

„Die Carla hatte er auf dem Kieker, wahrscheinlich, weil sie selbst kein Wässerchen trüben konnte. Die Märchenfee vom Godelsberg“, hieß sie bei ihm, Godelsberg, weil sie aus diesem High Society-Stadtteil kommt und Märchenfee, weil sie so nervös in ihren Proben war, dass sie nur Blödsinn gerechnet hat. Und vor lauter Aufregung, ist ihr gar nicht mehr aufgefallen, was sie da verzapft hatte. Sie hat es sogar in die Schulzeitung geschafft mit ihrer Antwort auf eine Frage in einer Physikschulaufgabe:

Die Frage war glaube ich: Wie lange braucht eine Gewehrkugel, um ein Ziel zu erreichen, das in 200 Meter Entfernung aufgebaut ist? Ihre Antwort war: 4 Tage, 1 Stunde und 33 Minuten.

Herr Blum hat sie damit vor der Klasse bloß gestellt: „Nur, wenn die Kugel dreimal um den Erdball saust, bevor sie ihr Ziel erreicht.“ Das war dann für drei Wochen der Running Gag an unserer Schule. Meine Meinung ist, dass er sie gezielt gemobbt hat. Carla hat außerdem eine sehr ehrgeizige Mutter. Da ich Vertrauenslehrerin bin, durfte ich sie persönlich kennenlernen. In unserem letzten Gespräch zusammen mit Meinrad wollte sie bessere Noten für Carla herausschlagen.“ Ich äffe ihren arroganten Ton nach: „In unserer Familie gab und gibt es ausschließlich Akademiker. Mit weniger werden wir uns auch nicht zufrieden geben. Meine Tochter Carla wird das Abitur selbstverständlich mit Auszeichnung schaffen, dafür werde ich schon sorgen und wenn ich mit dem Anwalt komme!“ Dann hat sie mich noch arrogant von oben herunter angestarrt und hat dann klar gestellt: „Und jetzt möchte ich, dass wir hier alle zusammenarbeiten, damit dieses Mathematikproblem endgültig aus der Welt geschafft wird.“

Meine Darbietung hat Herrn Schneider gefallen. Der Psychologe schmunzelt. „Wie ist es weitergegangen?“ „Mutter Faber und der Mathematiker haben Nachhilfestunden vereinbart“, erzähle ich weiter. „Ich fand das einfach unmöglich. Die beiden kamen doch sowieso nicht miteinander klar. Es war mir direkt mulmig dabei, dass Carla auch noch privat von ihm unterrichtet wird und habe deshalb einen anderen Nachhilfelehrer vorgeschlagen, jemand, der neutral wäre. Am besten eine Frau, da Frauen oft für Mädchen verständlicher erklären können. Aber Mutter Faber witterte wohl den Vorteil, dass sie den Herrn Blum dazu bringen könnte, mit Carla die Proben vor zu üben. Da hatte sie sich allerdings getäuscht. Dazu ist er zu korrekt und der Mathematik zu sehr ergeben. Falsche Ergebnisse, das ist nichts für einen Mathematiker.“

Der Psychologe nickt versonnen. „Diese Mutter-Mathematiker Kombination mag mit Sicherheit ein Auslöser für den Selbstmord gewesen sein. Gab es noch andere Komponenten im Leben von Carla, die ihr zugesetzt haben?“ „Ja schon. Carla, war keine starke Persönlichkeit. Sie war der Typ zarte Fee. Sie war schüchtern und wirkte fast durchscheinend. Ich mochte sie, sie war ein einfühlsamer und sensibler Mensch. Außerdem litt sie darunter, dass sie kaum Anschluss in ihrer Klasse hatte, weil sie als überbehütete Tochter aus gutem Hause nicht mit den anderen mitdurfte. Sie musste zuhause bleiben und lernen. Bei den Mitschülern war sie trotzdem beliebt.”

„Gab es noch andere Vorfälle, Herrn Blum betreffend, an ihrer Schule?“ Ich denke kurz nach. „Ja stimmt, da war schon einmal die Polizei involviert.“ Ich erinnere mich und lächle dabei.

„Einmal ist uns ein Schüler abgehauen, nach einem Streit mit Herrn Blum. Er lief aus dem Unterricht weg und war nicht mehr auffindbar. Wir schalteten natürlich die Polizei ein und er wurde gesucht. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass er geradewegs zum Bahnhof gelaufen war und als blinder Passagier nach Berlin gefahren ist. Nach zwei Tagen meldete seine Oma, dass ihr Enkel eingetroffen wäre und die Familie beschloss, dass Anselm bei seiner Oma in Berlin bleiben würde, um dort an eine freie Schule zu gehen. Es gab noch ein paar unbedeutendere Zwischenfälle, die jedoch keinen Polizeieinsatz zur Folge hatten“, schließe ich meine Rede ab.

„Und wie ging es ihnen mit Herrn Blum“, fragt mich der Psychologe? „Na ja, ich komme ganz gut mit ihm aus, er hört mir schon zu, wenn wir über einen Schüler sprechen. Aber er setzt nichts um. Ab und zu ärgere ich ihn, weil er immer so schön rot wird“, gebe ich zu. „Das ist er aber noch aus unserer gemeinsamen Schulzeit gewohnt. Das steckt er gut weg.“ Ich bin ganz außer Puste, wegen der Leidenschaftlichkeit meines Vortrags. Was ich wieder mal alles weiß!

Jetzt scheint der Herr Schneider auch genug gehört zu haben. Er bedankt sich für die Information und verabschiedet mich. Als ich schon an der Tür bin, sagt er: „Sie wissen schon, dass sie etwas verdrängen.“

Ich schlucke: „Mir geht der Moment, als sie sich umdrehte nicht mehr aus dem Kopf und ich zermartere mir das Hirn, ob ich etwas hätte besser machen können. “

Der Psychologe nickt: „Das ist ein verbreitetes Phänomen, das geht den meisten Krisenhelfern so. Machen sie sich keine Vorwürfe. Sie haben sicherlich ihr Bestes versucht“. Er steht auf und reicht mir die Hand: „Wenn sie Hilfe brauchen, können jederzeit bei mir vorbeikommen. Ich beraume ihnen sofort einen Termin ein. Hier ist meine Karte.“ Er reicht mir die Visitenkarte über den Tisch. Ich nicke höflich: „Das ist sehr freundlich von Ihnen, wenn ich selbst nicht mehr klar komme, dann greife ich auf ihr Angebot zurück. “

Der Mathematikerblues

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