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Ein Kind wird zu Grabe getragen

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Am folgenden Wochenende findet die Beerdigung statt. Carlas Klasse, viele Eltern und die meisten Lehrer sind anwesend. Meinrad Blum fehlt. Also ich wäre auch nicht gekommen, nicht dass mich noch einer hinter dem Sarg her in die Grube schubst. Die Mutter im eleganten Kostüm und die wenigen Verwandten ebenfalls recht adrett, stehen ganz in Schwarz am Grab im hinteren Teil des Altstattfriedhofs und lauschen der Predigt.

Als der Pfarrer die erste Schaufel Erde auf das Grab wirft, ertönt ein gellender Schrei. Carlas Mutter bricht schluchzend am Grab zusammen.

Alle schauen peinlich berührt und versuchen woanders hin zu schauen. Ich kann diese emotionalen Sparbüchsen nicht ab und gehe mal rüber zu ihr, da sie immer lauter schluchzt und ganz alleine da steht. Ich streiche ihr über den Rücken. Dann nehme ich ihre Hand und tätschle sie. Das hätte ich nicht tun sollen. Ihre geballte Trauer kommt zu meiner dazu und bei mir öffnen sich jetzt auch alle Schleusen. Ich heule los, wie ein Schlosshund. Wir beide heulen und schniefen schaurig und machen uns zum Affen. Ach was solls!

Als alles vorbei ist, schaut mich Carlas Mutter ganz intensiv an, berührt ganz sanft meine Wange mit den Fingerspitzen, sagt heiser „danke“, wendet sich ab und schlurft gebeugt und einsam davon. Es ist ein seltsam prüfender Blick, der mich da gestreift hat. Er hat etwas in mir berührt, es fühlt sich an, wie irgendetwas, das ich schon lange kenne.

Mein Chef, der in der Nähe steht, schaut mich äußerst pikiert an. Er ist nicht der Freund von emotionalen Ausbrüchen. Ich halte seinen missbilligenden Blick aus und gewinne, er schaut als erster weg.

Aus den Augenwinkeln sehe ich wie Sigrid Übel, unsere Sekretärin, Carlas Mutter nachläuft. „Cornelia“, ruft sie Frau Faber beim Vornamen. Ich wusste gar nicht, dass die beiden sich kennen. Ich beschließe, Sigrid demnächst danach zu fragen.

Ich schaue in die Runde und blicke in Gesichter, die Kummer, Wut und Fassungslosigkeit ausdrücken. Viele wirken vom Weinen ganz zerrupft und mitgenommen. Ich bin nicht die einzige die geheult hat. Nach dem Begräbnis laufen wir zusammen Richtung Ausgang und reden über Carla.

Ihre beste Freundin Marlene henkelt sich bei mir ein. Sie macht sich bittere Vorwürfe: „Ach Frau Sorglos, wenn ich geahnt hätte, was sie vorhat! Ich hätte ihr so gerne geholfen. Aber sie war immer so still und in sich gekehrt. “ Ich ignoriere das Sorglos und streiche ihr beruhigend über die Wange: „Das glaube ich dir, mir geht es genauso.“

Da tippt ihr jemand auf die Schulter. „Ihr Bayern seid doch viel zu obrigkeitshörig um irjendwat zu kapieren! “ „Anselm, was machst du denn hier?“, ruft sie erfreut und wirft sich dem Jungen an den Hals. Es ist der Berlinflüchtling, ein hübscher und pfiffiger Kerl mit einem blonden Lockenkopf. Er war, so weit ich das damals mitbekommen habe, das Opfer der Liebeshändel seiner Mutter, die ihn von einer freien Berliner Schule ins altmodische Bayern emigriert hatte. Ich erinnere mich heute noch gerne an den Tag, als Anselm aus dem Unterricht desertierte, denn ich war Zeugin der Auseinandersetzung. Es war an einem Montagmorgen. Ich war unterwegs in meinen Englischunterricht und etwas zu spät dran. Ich lief an der Klassenzimmertüre der 10 b vorbei und hörte ein Mordsgeschrei. Anselm Baumeister und Meinrad Blum, ich erkannte sie an den Stimmen.

Da muss man natürlich stehen bleiben und lauschen. Die Auseinandersetzung war auch so kurios, dass man einfach nicht anders konnte als zuzuhören. Und ich bin außerdem nun einmal schrecklich neugierig. Anselm, an die demokratischen Strukturen einer freien Schule gewöhnt, machte generell viele Schwierigkeiten und er hatte den Mut sich dem System entgegenzustellen. Er war sozusagen Freigeist von Natur aus und eckte daher mit unserem bayerischen Law and Order System ständig an.

Im ganzen Treppenhaus hörte man ihn empört schreien: „Was du willst jetzt eine Probe schreiben, so einen Scheiß mach ich nicht mit! Eh Mann, an meiner Schule bestimmt man selbst, wann man eine Probe schreibt. Nämlich dann, wenn man den Unterrichtsstoff kapiert hat. Wenn du aber nicht ordentlich erklärst, kann ich es auch nicht kapieren. Dann schreibe ich auch keine Probe.“ „Und ob du die Probe mitschreiben wirst, du Früchtchen, wie kommst du auf die Idee, du hättest eine Wahl?“, kreischte Blum entsetzt wegen der Kühnheit dieser Idee zurück. „Nee, mach ich nicht! Wie willst du mich dazu zwingen?“ „Na warte, und ob, du schreibst, sonst gibt es nämlich einen Verweis“, drohte der bayerische Beamte pflichtgemäß.

Begeistert drückte ich mich in eine Nische von unserem altehrwürdigen Treppenhaus und war gespannt, wie diese Auseinandersetzung enden würde. Nach noch ein paar Verweis ja, Probe nein Hin- und Herrunden, tönte es in bestem berlinerisch. „Ick hab keen Bock mehr auf die Scheiße. Lern du erst mal erklären. Ich such mir jetzt `nen Anwalt. Bayrischer Beamtenarsch.“ Tja und dann stürmte er die Treppe hinunter und ward nicht mehr gesehen.

„Bist du wieder mal ausgerückt? “, frage ich „Nee, nee keine Sorge. Ich mach Ferien. Bin bei meiner Mutter. Mann, als ich in der Zeitung gelesen hab, was hier passiert ist, bin ich gleich los, denn ich kannte sie gut.“ Dann unterbricht uns Max: „Ey cool, wir haben dich echt vermisst! Wie lange bleibst du?” Max Mützel schnappt sich den Berliner und beide machen sich schulterklopfend auf den Weg zum Ausgang.

Die meisten anderen haben noch das Bedürfnis zu bleiben, gemeinsam zu trauern und zu reden. Allgemein herrscht Unmut über das bayrische Schulsystem und die Eltern erzählen sich gegenseitig, was sie gerade mit ihren Kindern durchmachen. Man tauscht sich außerdem aus über die Erfahrungen mit dem Psychologen und dem Seelsorger, der die Klasse im Anschluss an das tragische Ereignis betreut hat. Ich fühle, dass die Sache noch einen langen Schatten werfen wird.

Als ich am Abend nach Hause komme, ist mir hundeelend. Ich hasse G8, ich hasse meinen Beruf, ich hasse die Eltern, die ihren Kindern immer noch mehr Druck machen als wir Lehrer und ich hasse mich selbst.

Meine jüngste Tochter Nele hat vor zwei Jahren Abi gemacht. Ich denke mit Schrecken an diese Zeit zurück. Sie war ständig schlecht gelaunt. Und zu keinerlei Mithilfe im Haushalt zu bewegen. Nein, ich muss lernen. Morgen ist Schulaufgabe. War ihr Standardausredesatz. Wenn sie nicht gelernt hat, konnte sie sich gerade noch aufraffen Fernseher zu schauen oder an ihrem Laptop irgendwelche Spielchen zu machen. Sie hatte kein Sozialleben mehr, keinen Sport und keine Freizeit. Nachmittags um fünf kam sie von der Schule, dann schlief sie bis um acht um dann bis Mitternacht zu lernen. Nele war mir in dieser Zeit regelrecht entglitten.

Jetzt lebt und studiert sie in Berlin. Ich beschließe sie anzurufen. Ich rufe an, es klingelt, es klingelt noch 10-mal, ich will schon aufgeben, aber dann hebt jemand ab. „Nele“, rufe ich entzückt, „ich bin`s, deine Mama!“ Die Antwort auf meinen Entzückensruf ist: „Ja!“ Dann herrscht Stille. Ich versuche ein Gespräch anzukurbeln: „Was machst du gerade?“ „Telefonieren.“ Ich warte ob noch etwas kommt, aber es kommt nichts. Ich seufze ergeben: „Hab dich lieb!“ „Hab dich auch lieb, Mama!“ Dann legt sie auf.

Ich fluche und rufe ihren Freund an. „Carlo, hier ist Eva, ist alles in Ordnung mit Nele, sie war wieder so gesprächig am Telefon.“ Carlo lacht: „Sie telefoniert eben nicht gerne. Bei mir ist sie auch so, Eva. Aber es geht ihr gut, sogar sehr gut, sie hat angefangen zu meditieren. Sie ist jetzt Buddhistin. Und das tut ihr gut, sie zappelt nicht mehr ständig mit den Füßen und kaut ihre Fingernägel nicht mehr ab.“

„Na, das ist ja mal was Neues! Und das Studium?“, frage ich nach „Na ja, das lässt sie gerade etwas schleifen, aber ich glaube, es ist wichtiger, dass sie wieder lernt sich zu entspannen.“ Ich seufze erleichtert „Das finde ich auch. Danke für die Info, Carlo!“ Ich schüttle verwundert den Kopf über diese neue Entwicklung und begebe mich zu Bett.

Der Mathematikerblues

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