Читать книгу Eine Leiche zum Lunch - Susanne Danzer - Страница 6
ОглавлениеKapitel 4
»Jetzt mach schon endlich den Mund auf, Henderson!«, forderte Primes den Dieb, inzwischen deutlich lauter als zuvor auf. »Von wem hast du den Koffer in Auftrag genommen?«
Primes, der lässig mit den Händen in seinen Hosentaschen vor dem Mann stand, hatte die Frage leise, aber mit einem durchaus bedrohlichen Unterton gestellt. In seinen grünen Augen blitzte es gefährlich auf. Er kannte Typen wie diesen Godric Henderson zur Genüge und sie waren alle gleich. Für ihn waren diese Kerle schlicht zu faul, um etwas zu arbeiten; zu einfältig, um ohne Arbeit zu Geld zu kommen, und ließen sich daher für Dienste engagieren, die einen harmlos aussehenden und auf keinen Fall besonders intelligenten Mann erforderten. Kerle wie Henderson: Nicht die hellsten Kerzen auf der Torte.
»Ich frage dich jetzt ein allerletztes Mal, Henderson!«, bellte er den vor ihm auf einem Besucherstuhl Sitzenden an, sodass dieser erschrocken zurückwich. »Für wen arbeitest du?«
Godric Henderson hatte resignierend die Schultern sinken lassen und war in sich zusammengesunken. Er schien dem Weinen nahe – oder einem Geständnis, wenn er überhaupt etwas zu gestehen hatte.
»Ich habe es Ihnen doch schon ein dutzendmal gesagt, Sir: Ich habe wirklich keine Ahnung, wem der Koffer gehört! Ich habe ihn eine ganze Weile beobachtet und niemand hat sich dafür interessiert. Es schien, als ob ihn jemand vergessen hätte.« Er sah Primes hilflos an, in der Hoffnung, dass er ihm endlich Glauben schenken würde. Mit einem missglückten Lächeln fügte er hinzu: »Sie müssen das verstehen, Inspector, es juckte mir in den Fingern … ein verlassener Koffer, so ein herrenloses Gepäckstück, besonders ein so adrettes, neues und poliertes, wie dieses … das war eine Versuchung, der ich einfach nicht widerstehen konnte!«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Ich habe einen Blick in dein Strafregister geworfen. Du hast schon rund hundert Mal der Versuchung, etwas zu stehlen, nicht widerstehen können, weil es dich in den Fingern juckte. Vielleicht solltest du dazu übergehen, dich zu kratzen, statt andere zu berauben.«
Primes holte sein Päckchen ›Three Kings‹ aus der Jackentasche, griff nach der Streichholzschachtel auf seinem Schreibtisch und riss ein Hölzchen an. Genüsslich sog er den Rauch der filterlosen Zigarette ein und ließ ihn gleich darauf wieder durch die Nasenlöcher entweichen. Hendersons begehrlichen Blick ignorierte er geflissentlich.
»Nun glauben Sie mir doch endlich, Inspector«, bettelte der Mann. »Bitte!«
»Ich glaube eher, dass du dich auf lukrativere Jobs umgestellt hast!«
»Nein, Sir! Nein, das stimmt alles nicht! Wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, was in diesem Koffer ist … Sie können mir glauben, ich hätte für die nächsten sieben Monate einen Bogen von mindestens eineinhalb Meilen um den Bahnhof gemacht. Das schwöre ich beim Grab meiner Mutter!«
»Von der wir beide wissen, dass sie noch unter den Lebenden weilt«, erwiderte der Inspector lakonisch.
Primes kam noch einen kleinen Schritt näher und sagte leise, aber sehr deutlich: »Weißt du, Henderson, ich mag Leute von deinem Schlag ohnehin nicht besonders, und wenn sie mir dazu auch noch offen ins Gesicht lügen, kann ich geradezu unangenehm werden! Diesbezüglich bin ich rein gar nicht zu Scherzen aufgelegt.«
»Es ist die Wahrheit, Inspector, die reine Wahrheit! Ich schwöre es! Ich gebe ja zu, dass ich den Koffer stehlen wollte, aber das ist auch alles. Ich dachte ehrlich, heute sei einmal mein Glückstag, aber man kann sich eben auf nichts mehr verlassen. Auf nichts mehr …«
Ein lautloses Schluchzen schüttelte den Mann.
Primes wandte sich angewidert ab und gab dem Wachmann an der Tür ein Zeichen, Godric Henderson abzuführen.
Zu den Sachen, die man dem Dieb abgenommen hatte, gehörte auch eine alte schmuddelige, blaue Krawatte. Sie lag jetzt beinahe sorgfältig über der Lehne des Stuhls. Blau war die Farbe der Treue, dachte Primes. Treu war Henderson ja. Er musste lächeln. Nun würde der Mann wieder einige Zeit Gast seiner Majestät Königin Victoria sein. Zumindest würde er ein Dach über dem Kopf haben.
Als die Tür hinter den beiden Männern zugeschnappt war, betrat eine große schlanke Frau den Raum. In ihrer grazilen Hand hielt sie eine bräunliche Mappe. Es war Celeste Montgomery, die frisch gebackene Pathologin des Yard, die sich gleich in die Leichenschauhalle begeben hatte, um die Tote zu begutachten. Sie trug ein hochgeschlossenes, graues Kostüm aus feiner Wolle und eine weißen Bluse, deren Kragen mit kleinen Rüschen und von einer dekorativen Gemme aus blauem Achat verziert war, deren Farbe zu der ihrer Augen passte. Schlicht, doch elegant. Nicht übertrieben, dafür kleidsam. Primes musste gestehen, dass es ihr ausgezeichnet stand. Ihren kleinen Hut, den er ohnehin mit dem ganzen Blüten- und Federzeug affig fand, musste sie irgendwo abgelegt haben, denn sie trug ihn nicht mehr.
»Ich glaube ihm«, sagte sie mit einem Blick zur Tür.
»Ich leider auch«, gab Primes seufzend zurück. »Haben Sie den Bericht über die … na, sagen wir mal, den Inhalt des Reisekoffers bereits fertig bekommen?«
»Natürlich, Primes.«
Celeste lächelte charmant.
»Inspector Primes«, betonte er und drückte seine fast aufgerauchte Zigarette in den Ascher vor sich. »So viel Zeit muss schon sein.«
»Wie Sie wünschen, Primes«, erwiderte sie verschmitzt und legte ihm die Mappe hin.
Tadelnd sah sie ihm dabei zu, wie er sich direkt eine weitere Kippe aus der Schachtel holte und nach den Streichhölzchen griff.
»Die Dinger werden Sie noch einmal umbringen«, warnte sie ihn und, während sie demonstrativ das Flügelfenster öffnete, fügte sie hinzu: »Ganz abgesehen von dem fürchterlichen Gestank.«
Primes, der bereits damit begonnen hatte, den Obduktionsbericht zu lesen, sah irritiert zu ihr auf.
»Zuerst schuf der liebe Gott den Mann, dann schuf er die Frau. Danach tat ihm der Mann leid und er gab ihm Tabak.«
»Genau, das ist der Grund, warum Sie noch unverheiratet sind: Keine Frau mag sprechende Tabakpflanzen. Insbesondere keine, die auch noch qualmen.«
»Ach, kommen Sie, Celly, Mark Twain war ein weiser Mann.«
»Für Sie immer noch Doktor Montgomery. Und im Gegensatz zu Ihnen ist er verheiratet.«
»Wahrscheinlich wünscht er sich manchmal, er wäre es nicht, damit er in Ruhe rauchen kann«, nuschelte Primes. Laut sagte er: »Zigaretten widersprechen wenigstens nicht. Man benutzt sie, brennt sie ab und wendet sich einer neuen zu.«
»Eines Tages werden Sie auf meinem Tisch liegen, Primes. Und es wird mir ein Vergnügen sein, Ihre geteerte Lunge als Abschreckung für die Nachwelt zu erhalten, indem ich sie sorgfältig konserviere«, sagte Celeste und schenkte dem Inspector ein unschuldiges Lächeln.
Primes presste die Lippen zusammen, schüttelte unwillig den Kopf und wandte sich wieder dem Bericht zu.
»Ich kann es auch für Sie zusammenfassen, Primes.« Sie hatte sich auf dem Besucherstuhl niedergelassen und den Rock züchtig zurechtgerückt. »Da steht ja nichts Besonderes drin.«
»Nichts Besonderes?« Primes sah sie schockiert an. »Der Rumpf einer Frau um die Vierzig und abgetrennte Gliedmaßen, dazu alles in einem Koffer, sind für Sie nichts Besonderes?«
Sie beantwortete seine Frage mit einem ironischen Lächeln. »Ich habe mir die Gliedmaßen eingehend angesehen, ebenso den Torso und komme zur Erkenntnis, dass der Täter über präzises medizinisches Wissen verfügt, was sich anhand der Schnittführungen zeigt und der Art, wie die Amputationen durchgeführt wurden. Bedauerlicherweise fehlt der Kopf.«
»Dann ist also Köpfen die Todesursache?«
»Ist es nicht immer tödlich den Kopf zu verlieren, Primes?«, antwortete sie spitz. »Aber mal im Ernst, es sieht mir danach aus, dass der Kopf post mortem abgetrennt wurde, ebenso die Gliedmaßen. Im Übrigen weist die Leiche eine gewisse Molligkeit auf, hat zwei abgebrochene Fingernägel an der rechten Hand, was darauf hindeutet, dass sie sich zur Wehr gesetzt hat. Erwähnenswert ist, dass am Torso, genauer gesagt am Unterbauch, eine Operationsnarbe zu finden ist. Der Frau wurde der Appendix vermiformis entfernt. Es ist schon erstaunlich, dass sie diesen Eingriff überlebt hat.«
Primes sah sie irritiert an.
Als Celeste seinen Blick bemerkte, sagte sie: »Ich spreche von einem Blinddarm, Inspector.«
Er verzog das Gesicht. Allem Anschein nach, glaubte sie, er würde nicht verstehen, wovon zum Teufel sie da sprach.
Primes nahm einen Zug von seiner inzwischen halb aufgerauchten Zigarette, um seine Verärgerung über ihre Äußerung zu überdecken, ehe er fragte: »Und sonst?«
»Beigelegt waren ein Kleid, eine weiße Bluse, mit kleinen blauen Stickereien am Kragen, Unterkleid und Unterrock. Das ist alles.«
»Kann man zu dem Koffer etwas sagen?«, wollte er stattdessen wissen.
»Der ist nagelneu. Feines und teuer gegerbtes Rindsleder.«
»Keine Spuren?«
»Doch. Erdreste an den Metallknöpfen, auf denen er zu stehen pflegt.«
»Damit werden wir nicht viel anfangen können«, entgegnete Primes und klappte den Obduktionsbericht zu. »Erdreste, die können von überall stammen.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.« In Celestes Augen trat ein siegesgewisses Funkeln. »Ich habe auch schon herausgefunden, woher die Erdreste stammen.«
Primes sah sie erstaunt an.
»Was Sie nicht sagen!«, entfuhr es ihm, bevor er es verhindern konnte.
»Die Erde stammt aus einem Vorgarten im East End, genauer gesagt aus Whitechapel … Romfort Street«, präzisierte sie, nachdem sie einen kurzen Blick auf das Blatt Papier in ihrer Hand geworfen hatte, mit einem triumphierenden Glitzern in den Augen.
»Ich muss gestehen, Sie verblüffen mich. Wie haben Sie das herausgefunden?«
»Das Haus, welches zu dem Vorgarten gehört, ist seit einigen Monaten unbewohnt und zur Vermietung ausgeschrieben. Die Miete ist allerdings so hoch, dass sich noch niemand dafür entscheiden konnte. Bei der Renovierungsbedürftigkeit des Gebäudes wird sich bestimmt ohnedies niemand finden.«
»Das war nicht meine Frage, Celly!«
»Dr. Montgomery, wenn ich bitten darf, Primes«, korrigierte sie ihn halblaut.
»Jetzt machen Sie es nicht so spannend!«, knurrte er und beerdigte den Stummel seiner Zigarette im Aschenbecher bei den anderen. »Wie sind Sie gerade auf diesen Vorgarten gekommen? Die Erde in den Nachbargärten wird auch nicht viel anders sein.«
»Es steht außer Zweifel, dass dem so ist.« Sie lächelte wissend. »Während Sie sich mit Henderson auseinandergesetzt haben, habe ich Erkundigungen eingeholt und mit einem Dienstmann des Bahnhofs Paddington gesprochen. Man hat ihn in der Zentrale angerufen und mit dem Auftrag bedacht, einen großen braunen Koffer aus eben diesem Vorgarten in der Romfort Street abzuholen, weil er in der Aufregung der Abreise vergessen worden sei. Das Gepäckstück solle er zum Schalter drei bringen. Dort würde er erwartet und für seine Bemühung entlohnt.«
»Konnte sich der Mann an den Namen des Auftraggebers erinnern?«, wollte Primes wissen. »Ich nehme doch an, Sie werden danach gefragt haben, wenn Sie schon meine Arbeit übernehmen, oder?«
»Leider nein. Der Anrufer nannte keinen Namen. Und das einzige, was dem Mann in der Dienstmann-Zentrale auffiel, war die merkwürdig tiefe Stimme des Anrufers. Nur werden Sie damit nicht viel anfangen können.«
»Und wer erwartete den Dienstmann beim Schalter drei?«
»Selbstverständlich niemand.« Celeste zuckte mit den Schultern. »Was zu erwarten war.«
»Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass er den Koffer einfach so dort stehen ließ?«
»Das Ganze war schon vor neun Uhr heute Morgen. Er wartete eine Weile, mindestens zwanzig Minuten, wie er mir versicherte, um sein Honorar zu bekommen. Allerdings konnte er es sich dann aber nicht leisten, noch länger zu warten. Laut seiner Aussage herrschte im Bahnhof ein heftiger Betrieb, und er konnte sich nicht noch mehr Aufträge entgehen lassen.«
»Er hat den Koffer also tatsächlich stehen lassen«, murmelte Primes kopfschüttelnd.
»Das war sicher ein Fehler. Aber irgendwie auch verständlich, da der Mann ja damit rechnen musste, dass der Anrufer seinen Koffer beim Schalter drei suchen würde. Andererseits sollten wir dankbar dafür sein, weil es sonst noch viel länger gedauert hätte, ehe jemand die scheußliche Entdeckung …«
»Wie ich Sie einschätze, sind Sie doch sicherlich schon in der Abgängigen-Abteilung gewesen«, unterbrach er sie gereizt. »Wird irgendeine Person vermisst, auf die eine Beschreibung dieser Narbe zutrifft?«
»Bislang nicht.«
Primes warf ihr einen misstrauischen Blick zu.
»Sie sind sicher, dass Sie hier als Pathologin arbeiten wollen und es nicht hinterrücks auf meinen Job abgesehen haben?«
»Wer weiß?«, gab sie lächelnd zurück.
Primes versuchte sich zu sammeln. Seit ihm dieser Rock an seinem Jackenzipfel hing, hatte er das Gefühl von ihm untergebuttert zu werden – etwas, das er gar nicht mochte. Bislang war er der Platzhirsch im Yard gewesen und wollte das auch bleiben. Seine Aufklärungsrate war die höchste seit dessen Gründung im Jahr 1829, durch den damaligen Innenminister Robert Peel, der damit eine vollkommen neue und schlagkräftige Polizeitruppe aufzubauen gedachte.
»Können Sie mir etwas zur Todesursache sagen?«, wollte Primes wissen. »Da Sie mir sagten, dass die Leiche nach Todeseintritt zerstückelt wurde, muss ja irgendetwas das Ableben verursacht haben.«
»Nein, kann ich leider nicht. Da der Kopf fehlt, kann ich nur vermuten. Man könnte sie erschlagen, aber auch erschossen haben. Womöglich auch erdrosselt. Selbst das kann ich nicht mehr feststellen, weil das Haupt der Toten ein gutes Stück unterhalb des Kehlkopfes abgetrennt wurde. Ich könnte nicht einmal sagen, ob das Zungenbein oder das Genick gebrochen wurde«
Primes war geneigt sich eine weitere Zigarette aus dem Päckchen zu fischen, unterließ dies aber, als er Celestes missbilligenden Blick registrierte, sodass er es demonstrativ auf den Tisch vor sich warf.
»Es dürfte also schwierig werden, die Tote zu identifizieren«, stellte er fest.
»Allerdings, wenn uns das Glück nicht hold ist …«
Sie wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen.
»Herein!«, rief Primes. Die Tür öffnete sich und Sergeant Woods betrat den Raum. »Was gibt’s, Woods?«
»Lady Celeste«, er deutete eine Verbeugung in ihre Richtung an, »hat mich beauftragt herauszufinden, wo der Koffer gekauft sein könnte.«
Primes warf Celeste einen undefinierbaren Blick zu.
»Diese Art wird nur von ›Insall & Sons‹ in Westfield, New Jersey gefertigt. Die Firma beliefert allerdings zahlreiche Verkaufsläden und eine Großhandelsfirma im Raum London. Bisher haben wir neun abgeklappert.«
»Erfolg?«, raunzte Primes.
»Vorläufig nicht, Sir!«
»Dann machen Sie weiter, Woods. Wir müssen jeder Möglichkeit nachgehen und da Ihnen Lady Celeste«, er dehnte ihren Namen absichtlich ein wenig, »bereits den Auftrag gegeben hat … also, worauf warten Sie noch, Woods?«
»Wie Sie wünschen, Sir!« Er zog sich zurück, aber nicht ohne noch ein freundliches ›Mylady‹ von sich zu geben.
»Mylady?«
Celeste winkte ab. »Ist nicht wichtig.«
Primes erhob sich und durchwanderte das Büro gleich dreimal in jede Richtung, um dann am offenen Fenster stehenzubleiben.
»Wir haben zunächst zwei Chancen, Celly«, sagte er nach einer Weile des Nachdenkens.
»Ja?«
»Die eine führt über die Identität des Opfers. Wenn wir diese ermittelt haben, öffnet sich ein ganzes Bündel von Spuren, davon bin ich überzeugt. So etwas habe ich im Urin.«
»Da wollen wir mal hoffen, dass es nichts Krankhaftes ist«, murmelte sie und fragte dann laut: »Und die andere Chance?«
»Hat einen bitteren Beigeschmack.«
»Sie sprechen in Rätseln, Primes.«
»Die andere Chance ist, dass der Mörder seine Tat wiederholt oder es zumindest versucht.« Er rieb sich nachdenklich das Kinn.
Das Telefon an der Wand seines Büros schrillte, sodass er aufsprang, um den Anruf rasch entgegenzunehmen.
»Inspector Primes am Apparat«, meldete er sich.
»Ich habe eine Dame in der Leitung«, meldete sich die Frau aus der Vermittlung. »Sie will Anzeige erstatten. Ihre Schwester soll abgängig sein, und nach dem … ich dachte, nach dem Kofferfund … also die Leiche … ist es vielleicht gut, wenn ich …«
»Dann stöpseln Sie das Gespräch durch!«
In Primes Zügen zeigte sich so etwas wie spannungsgeladene Erregung, als sich sein Instinkt regte.
Celeste hatte sich ungefragt die zweite Hörmuschel genommen, die es ihr erlaubte das Gespräch mitanzuhören.
Eine aufgeregte Frauenstimme, die nicht eines gewissen Timbres entbehrte und sich gelegentlich überschlug, sprang mitten in das Anliegen, das sie vorzubringen hatte.
»Es handelt sich um meine Schwester, Vicky, Sir. Sie ist seit gestern Vormittag nicht nach Hause gekommen.«
»Wer spricht, bitte?«, wollte Primes wissen.
»Hier ist Rose Chambletts. Verzeihen Sie, wenn ich etwas erregt bin, aber ich warte bereits seit gestern Abend auf sie …«
Ihre angenehme Stimme klang tränenunterdrückt.
»Und da melden Sie sich bereits heute?«
»Meine Schwester ist achtunddreißig … es kommt manchmal vor, dass sie anderswo übernachtet, jedoch nicht, ohne mich darüber in Kenntnis zu setzen. Aber dass sie auch den ganzen Tag auswärts verbringt ist bisher noch nie vorgekommen.«
»Wie sieht ihre Schwester Vicky aus?«
»Sie ist blond und etwas mollig.«
»Augen?«
»Blau.«
»Gesicht?«
»Etwas rundlich, aber hübsch.«
»Können Sie mir sagen, was sie trägt?« Primes spürte, wie die Spannung in seinen Schläfen pochte und strich beruhigend mit den Fingerspitzen darüber.
»Warten Sie einen Augenblick . . . was hatte sie denn an, als sie wegging …? Ja, ja, jetzt weiß ich es. Ein graues Kleid.«
»Hat sie Gepäck mitgenommen?« Primes war ein wenig enttäuscht, obgleich er Vicky Chambletts ihr Leben von Herzen gönnte.
»Ja, ihr Handköfferchen nimmt sie immer mit, wenn sie übernachten will.«
»Und im Handköfferchen befindet sich was?«
»Das Übliche: Toilettenartikel, ein zweiter Satz Oberbekleidung sowie frische Wäsche zum Wechseln. Das machte sie immer so. Zumeist hatte sie ihn schon im Voraus gepackt, falls sie gedachte, dem tristen Alltag zu entfliehen, wie sie es nannte.«
Primes atmete einmal tief durch.
»Können Sie feststellen, was sie mitnahm?«, erkundigte sich der Inspector.
»Warten Sie einen Augenblick …«
Primes und Celeste wechselten einen Blick, mit dem sie ihre Spannung ein wenig abreagierten.
Endlich nahm die Frau am anderen Ende der Leitung wieder die Hörmuschel auf und sprach.
»Hallo? … Sind Sie noch da?«
»Ja, Madam. Sprechen Sie!«
»Sie nahm einen Rock und eine weiße Bluse mit Kragenstickerei mit.« Sie stockte einen Moment nachdenklich. »Blaue Blümchen in hübschen Ziermustern angeordnet. Eine entzückende Nadelarbeit.«
Primes spürte, wie seine Stirn zu glühen begann und es in seinem Nacken kribbelte, wie immer, wenn er bemerkte, dass sich ihm eine Spur offenbarte.
»Sind Sie ganz sicher, Miss Chambletts?«
»Ja, natürlich. Warum fragen Sie so merkwürdig?«
»Es ist nur, weil wir alles möglichst präzise erfahren müssen. Erschrecken Sie nicht, wenn ich Sie jetzt frage, ob an Ihrer Schwester irgendwelche besonderen Merkmale bekannt sind.«
»Was meinen Sie damit?«
»Nun ja, körperliche Besonderheiten, die sie von anderen Menschen klar und eindeutig unterscheidet.«
»Nicht, dass ich wüsste, Sir …«
»Hatte sie nie Operationen oder etwas Ähnliches?«
»Nein. Vicky ist gesund und war es auch immer.« Die Frau unterbrach sich und stieß einen kurzen erstickten Schrei aus. »Nein, nein, wie konnte ich das nur vergessen. Verzeihen Sie, Sir, aber meine Aufregung. Vicky wurde der Blinddarm entfernt. Das war eine gefährliche Situation und ich glaubte schon, sie zu verlieren.« Ein Schluchzen folgte.
Primes sah auf, und sein Blick traf sich mit dem von Celeste.
Sie verdeckte sorgfältig die Sprechmuschel mit der Hand und sagte, die Lippen kaum bewegend: »Jeder Zweifel ist ausgeschlossen.«
Primes schwieg ein paar Sekunden lang. Dann fragte er, merkwürdig weich im Ton: »Wo wohnen Sie, Miss Chambletts?«
»21 Portman Square, Nähe Hyde Park, im zweiten Stockwerk, die erste Tür links …«
»Ja, ich weiß, geht von der Baker Street ab. Ich mache mich gleich auf den Weg zu Ihnen, Miss Chambletts. Gehen Sie also bitte nicht weg.«
»Das ist sehr aufmerksam … aber … ich habe doch alles gesagt.«
»Trotzdem, Miss Chambletts … bis dann!«
Er hängte die Hörmuschel wieder ordnungsgemäß ein, verharrte einen Augenblick, schüttelte, eigentlich mehr für sich, den Kopf und wiederholte, mit einem aufmerksamen Blick auf Celeste Montgomery: »Nein … jeder Zweifel ist ausgeschlossen.«