Читать книгу Einführung in das Werk Franz Kafkas - Susanne Kaul - Страница 13
3. „Heirate oder heirate nicht …“
Оглавление„so viel kann nicht erreicht werden“
Im Wesentlichen stellt Kafka sein Scheitern an den Heiratsplänen als Ergebnis der väterlichen Erziehung dar, insofern Schuldbewusstsein und mangelndes Selbstvertrauen den Ausgang aus der Gefangenschaft versperren. Aus diesem Grund sind die gescheiterten Heiratspläne überhaupt ein so großes Thema für Kafkas Leben. Sie sind in anderen Biografien vielleicht kaum der Rede wert, aber für Kafka sind sie das Sinnbild seines Wesens, dessen Hauptmerkmal die Unfähigkeit ist, sich vom Vater und den Gefühlen der Abhängigkeit und Angst zu befreien. Um zu verdeutlichen, welchen nicht zu unterschätzenden Stellenwert die Heiratsabsichten in seinem Leben haben, findet Kafka im Brief an den Vater den folgenden Vergleich:
Es ist so, wie wenn einer fünf niedrige Treppenstufen hinaufzusteigen hat und ein zweiter nur eine Treppenstufe, die aber, wenigstens für ihn, so hoch ist, wie jene fünf zusammen; der erste wird nicht nur die fünf bewältigen, sondern noch hunderte und tausende weitere, er wird ein großes und sehr anstrengendes Leben geführt haben, aber keine der Stufen, die er erstiegen hat, wird für ihn eine solche Bedeutung gehabt haben, wie für den zweiten jene eine, erste, hohe, für alle seine Kräfte unmöglich zu ersteigende Stufe, zu der er nicht hinauf- und über die er natürlich auch nicht hinauskommt. (7, 53)
Der Entschluss zur Ehe erscheint Kafka unmöglich in die Tat umzusetzen zu sein, weil der Schritt zu groß ist. Warum ist der Schritt zu groß? Zu heiraten und eine Familie zu gründen ist für Kafka das Höchste, das ein Mensch erreichen kann. Er sieht sich selbst zu sehr in der Rolle des Kindes, um die Vaterrolle einnehmen zu können. Dafür macht er das Verhalten seines Vaters verantwortlich, der ihn fest- und niederhalte, während er Selbstständigkeit von ihm verlange: wie in dem „Kinderspiel, wo einer die Hand des anderen hält und sogar presst und dabei ruft: ,Ach geh doch, geh doch, warum gehst Du nicht?‘“ (7, 58) Was das Ganze so kompliziert macht, ist die Tatsache, dass das Handfesthalten im Wesentlichen in Kafkas Kopf stattfand. Der Vater hätte ihn vermutlich nicht daran gehindert, Felice Bauer zu heiraten, aber Kafka war in einem psychopathologischen Sinne unfähig zu heiraten, weil die Angst und der Zweifel an sich selbst zu groß waren. Da Angst und Selbstzweifel im Verhältnis zum Vater begründet liegen, ist es eben der Vater, nicht der empirische, sondern der imaginäre, der ihn vom Heiraten abhält. Die Vorstellung, die für Kafka mit dem Heiraten verbunden ist, nämlich die, dass der Knecht zum Herrn wird, also nicht nur vor ihm flieht, sondern frei ist und selbst zum Herrscher wird, ist irreal. Kafka fasst diesen Gedanken wie folgt zusammen:
Die Heirat ist gewiß die Bürgschaft für die schärfste Selbstbefreiung und Unabhängigkeit. Ich hätte eine Familie, das Höchste, was man meiner Meinung nach erreichen kann, also auch das Höchste, das Du erreicht hast, ich wäre Dir ebenbürtig, alle alte und ewig neue Schande und Tyrannei wäre bloß noch Geschichte. Das wäre allerdings märchenhaft, aber darin liegt eben schon das Fragwürdige. Es ist zu viel, so viel kann nicht erreicht werden. (7, 59 f.)
Die Ehe ist undurchführbar, weil sie einer Ebenbürtigkeit mit dem Vater gleichkäme, und die ist aus Kafkas Sicht undenkbar.
Felice Bauer auf der Durchreise
Es gibt mehrere Liebschaften und Heiratsabsichten in Kafkas Leben. Die wichtigste Beziehung ist jedoch die zu Felice Bauer, weil daraus ein Briefwechsel von höchstem literarischen Rang hervorgeht, weil das Zögern vor der Heirat so charakteristisch für Kafkas Person und Schreibweise ist und weil die Begegnung mit Felice eine ungeheure Produktivität ausgelöst hat, die mit der Nacht beginnt, in der Das Urteil geschrieben wurde. Die Beziehung dauerte fünf Jahre, in denen die beiden kaum zwei Monate leibhaftig zusammen gewesen sind. Kennen gelernt hat Kafka die damals 24-Jährige am 13. August 1912, als er abends bei Max Brod zum Essen eingeladen war. Der eigentliche Grund für das Treffen an dem Abend war Kafkas Betrachtung-Band, den er mit seinem Freund noch einmal im Hinblick auf die Anordnung der Texte durchsprechen wollte, bevor er zur Publikation an den Rowohlt-Verlag geschickt werden sollte. Der Abend verlief etwas anders als geplant, denn die Anwesenheit der jungen westjüdischen Frau aus Berlin – Felice war eine Verwandte der Familie Brod und auf der Durchreise nach Budapest – hatte die Gespräche am Esstisch über Literatur und Zionismus dahin gelenkt, dass sogar binnen weniger Stunden Pläne zu einer gemeinsamen großen Reise nach Palästina geschmiedet wurden. Schon allein daran ist zu erkennen, welch großen Eindruck Felice auf Kafka gemacht hat, denn er war charakterlich eher zurückhaltend und ganz und gar nicht entschlussfreudig, vor allem, wie sich noch zeigen wird, nicht im Hinblick auf gemeinsame Zukunftspläne. Der Eindruck, den sie körperlich auf ihn gemacht hat, klingt dagegen überraschend herzlos; in sein Tagebuch schreibt er eine Woche später (am 20. August 1912):
Als ich am 13. VIII zu Brod kam, saß sie bei Tisch und kam mir doch wie ein Dienstmädchen vor. Ich war auch gar nicht neugierig darauf, wer sie war, sondern fand mich sofort mit ihr ab. Knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug. Freier Hals. Überworfene Bluse. Sah ganz häuslich angezogen aus, trotzdem sie es, wie sich später zeigte, gar nicht war. […] Fast zerbrochene Nase. Blondes, etwas steifes, reizloses Haar, starkes Kinn. Während ich mich setzte, sah ich sie zum erstenmal genauer an, als ich saß, hatte ich schon ein unerschütterliches Urteil. (10, 79)
Felice Bauer arbeitete als Prokuristin bei der Berliner Grammophonfirma Carl Lindström A. G., gab sich selbstsicher, mondän, kulturell interessiert und glänzte auch mit literarischen Kenntnissen, war aber keine Intellektuelle wie Milena. Kafka war trotz der ernüchternden Beurteilung ihres Äußeren bezaubert von diesem Abend mit Felice, erbat sich von Max Brods Mutter ihre Adresse, brachte sie spät in der Nacht noch zum Hotel und sah sie dann für gut sieben Monate nicht mehr wieder. (Kafka schildert seine Erinnerung an die erste Begegnung detailgenau in dem Brief an Felice vom 27. September 1912.)
Die Liebeskunst des Briefeschreibens
Diese lange Trennung hat Raum für eine Leidenschaft geschaffen, die allein im Briefeschreiben entfachen konnte. Fast zweihundert Briefe hat Kafka bis zum ersten Wiedersehen an Felice geschrieben und insgesamt in den fünf Jahren so viele, manchmal mehrere an einem Tag, dass uns heute ein Band von über 700 Seiten vorliegt. Diese Briefe sind zwar nicht als Literatur für die Nachwelt verfasst worden, aber ihr Inhalt reicht weit hinaus über Liebeserklärungen und Erinnerungen, die nur Felice gelten. Häufig handeln die Briefe vom Schreiben. Sie dienen auch dem Schreiben. Denn die Korrespondenz mit Felice beflügelt Kafka so sehr, dass er innerhalb von wenigen Monaten Das Urteil, Der Heizer, einen Großteil des Verschollenen und Die Verwandlung schreibt, also die Texte, durch die er allererst sein Selbstbewusstsein als Schriftsteller erlangt.
Warum existiert diese Liebesbeziehung nur im und durch den Schriftverkehr? Weil Kafkas Wesen das Schreiben ist und er sich nur in diesem Medium öffnen und entfalten kann? Er fürchtet sich so sehr vor einer wirklichen Begegnung, dass er Felice nicht anruft („wirklich mit Dir zu reden – nein, das lasse ich lieber sein“ (FB, 92)) und sie auch erst nach über einem halben Jahr in Berlin besucht – nicht um sich endlich mit ihr zu vereinigen, sondern um sie zu desillusionieren und durch sein reales Erscheinen von sich abzuschrecken. Warum aber braucht er Felice so sehr, wenn es ihm nur um die Adressatin und nicht um die Frau geht? Er fühlt sich bei Felice aufgehoben, sie ist seine Leserin. Andererseits hat Felice einen in Kafkas Augen schlechten Literaturgeschmack, ist äußerlich unattraktiv und auch ansonsten seinem Wesen eher fern durch ihre bürgerlichen Konventionen und ihre Geschäftstüchtigkeit. Kafkas Begehren entsteht und besteht nur im Schreiben, seine Geliebte ist Felice nur als Empfängerin seiner Briefe; die Liebe zu ihr ist eine erdachte, erschriebene Liebe. Wie sehr das Schreiben sein Leben und seine Annäherung an Felice bestimmt, beschreibt Kafka in einem der ersten Briefe an sie:
Jetzt habe ich mein Leben um das Denken an Sie erweitert und es gibt wohl kaum eine Viertelstunde während meines Wachseins, in der ich nicht an Sie gedacht hätte, und viele Viertelstunden, in denen ich nichts anderes tue. Aber selbst dieses steht mit meinem Schreiben im Zusammenhang, nur der Wellengang des Schreibens bestimmt mich und gewiß hätte ich in einer Zeit matten Schreibens niemals den Mut gehabt, mich an Sie zu wenden. (FB, 66)
Es ist also das Schreiben, das ihn zu Felice herüberschwappen lässt, und es wird auch das Schreiben sein, das ihn wieder (und immer wieder) von ihr fortzieht. Die Anziehungskraft geht nicht von ihr aus, nicht einmal die Abstoßung.
Die verzweifelten Heiratsabsichten
Kafka will Felice heiraten und er will es zugleich nicht. So wie ihm „in unsicheren Entschlüssen vorschwebte“ (FB, 60), Felice am Bahnhof mit Blumen zu verabschieden am Tag ihrer Abreise aus Prag, was er dann doch nicht tat, so schwebt ihm immer wieder einmal das Heiraten in unsicheren Entschlüssen vor. Die Schwebe, die Unsicherheit und der Plural der Entschlüsse, die keinen einzigen tatkräftigen Entschluss hervorbringen, kennzeichnen sein Verhalten gegenüber Felice im Ganzen. Es kommt sogar zur offiziellen Verlobung am 1. Juni 1914, die aber im Juli schon wieder aufgelöst wird, und zu einer zweiten Verlobung im Juli 1917 mit einer zweiten Entlobung im Dezember. Über sieben Monate hinweg hat sich die Liebe allein in Briefen entwickelt: Nach dem Augustabend bei der Familie Brod sehen sich die beiden zum ersten Mal zu Ostern in Berlin wieder. Die Adressatin Felice wird inzwischen längst „Liebste“ genannt. Wie groß muss die Angst vor der Begegnung mit der wirklichen Felice gewesen sein, nachdem sie bisher nichts als ein ambivalentes Erinnerungsbild und eine mehr oder weniger selbstentworfene Schriftgeliebte gewesen ist! Entsprechend wankelmütig ist Kafkas Entschluss, nach Berlin zu kommen. Er wagt einen Vorstoß, stellt seine Reise aber sogleich wieder in Frage, und Felice weiß erst am Tag seiner Ankunft in Berlin, dass er tatsächlich gefahren ist. Sie hat wenig Zeit für ihn und das Treffen fällt sehr kurz aus. Die nächste Begegnung ein paar Wochen später ist etwas länger und Kafka lernt ihre Familie kennen. Obwohl er sich unwohl fühlt in der Gegenwart von Felice und ihrer Familie, gebiert sein Briefeschreiben daraufhin ein Ungeheuer von einem Heiratsantrag.
Ein Heiratsantrag mit Gegenbeweisen
Eigentlich ist es mehr eine Frage als ein Antrag, und zwar durchaus keine rhetorische Frage, kein vollzogenes Ritual, sondern eine wirklich als Frage gemeinte Frage, wenn er sie fragt, ob sie seine Frau werden will. Sie soll es sich genau überlegen und die Hindernisse, die einer Heirat im Wege stehen und allein in der Person Franz Kafka begründet liegen, ernsthaft bedenken. Dann holt er weit aus, lässt den Brief sogar einige Tage liegen, um ihn mit all den Hindernissen fortzusetzen, die ihm einfallen und ihn zu dem Schluss kommen lassen, dass eine Ehe mit ihm einzugehen eigentlich unmöglich ist. Einerseits ist die Heiratsfrage eine aufrichtig gemeinte Anfrage, also ein Antrag, zugleich aber auch ein Infragestellen. Die Schwierigkeiten, die Kafka aufzählt, sind nicht logistisch oder äußerlich, obgleich er auch sein geringes Einkommen in die Waagschale wirft, sondern er selbst ist das Problem: Er sei ein Nichts, unfähig mit Menschen zu verkehren und nur auf sein Schreiben fixiert. Er rechnet Felice vor, dass eine Ehe mit ihm für sie nur Verluste mit sich brächte, denn sie müsste ihr bisheriges Leben in Berlin aufgeben sowie die Aussicht auf einen wohlhabenden, gesunden, geselligen Ehemann mit Familiensinn: „Anstelle dieses gar nicht abzuschätzenden Verlustes würdest Du einen kranken, schwachen, ungeselligen, schweigsamen, traurigen, steifen, fast hoffnungslosen Menschen gewinnen, dessen vielleicht einzige Tugend darin besteht, daß er Dich liebt.“ (FB, 403) Diese Zwiespältigkeit erinnert an das von Kafka im Vater-Brief erwähnte Kinderspiel, wo einer die Hand des anderen zusammenpresst und dabei ,Geh doch!‘ ruft. Nachdem Felice offenbar den Heiratsantrag angenommen und allen Zweifeln zum Trotz ,ja‘ gesagt hat, malt er ihr die Einsamkeit und Abgeschiedenheit aus, die er zum Schreiben braucht: Auf lebhafteste Weise schildert er ihr, wie er einem Toten im Grabe gleicht, wenn er am Schreibtisch in der Nacht sitzt, um ihr zu verdeutlichen, dass seine Leidenschaft der Literatur gilt und er beim Schreiben nicht gestört werden darf (vgl. FB, 412). Als wolle er sie mit aller Kraft davon überzeugen, dass eine Ehe mit ihm ihr Unglück bedeuten würde, droht er mit einer unendlichen Reihe weiterer „Gegenbeweise“ und unentdeckten, schrecklichen Winkeln in seinem Herzen. Schließlich deutet er ihre Zustimmung als ein Trotzdem aus Liebe und schiebt ihr die Verantwortung für die dann doch beschlossene Ehe zu, die er für unmöglich hält und vor der er eine „unsinnige Angst“ hat (FB, 416 ff.).
Der ,Askanische Gerichtshof‘
Der Entschluss zur Ehe ist immerhin so fest, dass Kafka einen Brief an Felices Vater schreibt, der der Verlobung zustimmt. Sogleich weicht er vor der Entscheidung zurück, vor allem weil er sein Schriftstellerdasein gefährdet sieht, und verreist über Wien und Venedig nach Riva an den Gardasee. Die Korrespondenz mit Felice wird unterbrochen. Im November sehen sie sich wieder, im Mai besucht Felice ihn in Prag, am 1. Juni 1914 kommt es endlich zur ersten offiziellen Verlobung in Berlin. Kafka fühlt sich aber wie ein Gefangener und bereut diesen Schritt. Auch scheint sein Herz nicht nur zwischen Ehe und Schriftstellerdasein zerrissen zu sein, sondern auch zwischen zwei Frauen zu schwanken, Felice und ihrer als Botin und Vermittlerin auftretenden Freundin Grete Bloch. Kafka schreibt Grete Briefe, in denen er seine Leidenschaft für sie und seine Zweifel gegenüber einer Ehe mit Felice offen legt. Grete gibt die Briefe Felice, woraufhin diese empört eine Aussprache verlangt, die am 12. Juli im Hotel Askanischer Hof stattfindet. Man könnte diese Episode auch unter dem Titel ,Der Askanische Gerichtshof‘ erzählen, denn Kafka wird dorthin einberufen und wie ein Angeklagter verhört. Felice klagt schonungslos an und Grete sitzt als Richterin dabei (außerdem hat Felice auch ihre Schwester Erna mitgebracht, um der Unterredung eine offizielle Form zu geben). Kafka lässt ohne Widerrede die Vorwürfe über sich ergehen, und die Verlobung wird aufgelöst. Der Schock dieses ,Gerichts‘– Kafka nennt die Entlobung im Askanischen Hof fortan so – habe ihn dazu veranlasst, den Proceß zu schreiben, sagt Elias Canetti und deutet den im August 1914 begonnenen Roman vor dem Hintergrund des anderen Prozesses, der sich im Verlauf von zwei Jahren zwischen Felice und Kafka abgespielt hat. Der Verlobung entspreche die Verhaftung des ersten Kapitels und das ,Gericht‘ finde sich als Exekution im letzten (vgl. Canetti 1983, 52).
Die ewige Dialektik
Warum ist das Heiratenwollen so übermenschlich mühsam für Kafka? Er fürchtet sich vor der Ehe und vor Felice, will aber auch nicht gern auf sie verzichten. Und so ist jede Entscheidung die falsche. Das Dilemma erinnert an den ekstatischen Vortrag des Ästhetikers aus Søren Kierkegaards Entweder/ Oder (1843): „[H]eirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen“ (Kierkegaard 1979 ff., 41). Auch Kierkegaard konnte sich nicht zur Ehe mit seiner Verlobten Regine Olsen entschließen, weil er um seine Existenz als Schriftsteller bangte. Kafka macht am 21. August 1913 aufgrund der Lektüre von Kierkegaards Tagebüchern eine Notiz darüber, dass dessen Fall seinem eigenen sehr ähnlich sei, „zumindest liegt er auf der gleichen Seite der Welt. Er bestätigt mich wie ein Freund“ (10, 191). Den inneren Kampf zwischen dem ästhetischen Lebensentwurf und der ethischen Idee, ein guter Ehemann zu sein, hat Kierkegaard biografisch zugunsten des Schreibens entschieden, schriftlich aber zugunsten des Ethikers, der die Wahl zum Inbegriff einer ethisch integeren Persönlichkeit macht. Das „heirate oder heirate nicht“ des Ästhetikers ist hingegen keine Wahl, sondern ein unmotiviertes und steuerloses Herumtreiben. Zwar passt Kafka nicht ganz in das Bild des Verführers und Erotikers, das Kierkegaard in Entweder/Oder zeichnet, denn er ist kein Dandy und kein Glücksritter. Aber ein kierkegaardscher Ritter der unendlichen Resignation (allerdings ohne Glaube), ein von Reflexionen, Zweifeln und Verzweiflung in die Enge getriebener Liebhaber und Schriftsteller – das war er schon. Dabei hatte er es noch nicht einmal so leicht wie die Maus in seiner Kleinen Fabel, die auf die Falle zuläuft und von der Katze hinter sich genötigt wird, die Laufrichtung zu ändern. Denn das Entweder-oder ist ihm nie abgenommen worden – außer durch die tödliche Krankheit am Ende. Kafka blieb also zeitlebens in der ewigen Dialektik gefangen, sich zu entscheiden und die Entscheidung sogleich wieder zurückzunehmen, so dass im strengen Sinne von einer Entscheidung nicht gesprochen werden kann. Die große Frage, ob Kafka Felice wirklich heiraten wollte, muss unter dem Maßstab des kierkegaardschen Entweder-oder verneint werden. Denn das ist kein Entschluss, der mit voller Verantwortung und Charakterfestigkeit der Person getragen und realisiert wird. Das ist ein verzweifeltes Hin und Her. Kafka steht, wie er es Felice gegenüber ausdrückt, in einem „Regen von Nervositäten“; sie hätte gewarnt sein müssen, er hat ihn gleich im zweiten Brief als Dauerregen gekennzeichnet und ausgemalt: „Was ich jetzt will, will ich nächstens nicht. Wenn ich auf der Stiege oben bin, weiß ich noch immer nicht, in welchem Zustand ich sein werde, wenn ich in die Wohnung trete.“ (FB, 45) Das erscheint überzogen, für Felice vielleicht wie ein Scherz, den sie nicht ernst nehmen konnte. Kafka entscheidet ja auch nicht heute so und morgen so und alles ohne Grund, er hat eher zu starke Gründe, die für und wider das zu Entscheidende sprechen, so dass er eingeklemmt ist zwischen den Gründen. Seine Existenz ist ein Kampf, sein Schreiben besteht entsprechend aus ,Beschreibungen eines Kampfes‘ wie dieser:
Er hat zwei Gegner, der Erste bedrängt ihn von rückwärts vom Ursprung her, der Zweite verwehrt ihm den Weg nach vorne. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der Erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn nach vorne drängen und ebenso unterstützt ihn der Zweite im Kampf mit dem Ersten, denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die 2 Gegner da, sondern auch noch er selbst und wer kennt eigentlich seine Absichten? (11, 177)
Krankheit als Rettung vor der Heirat
Im Juli 1916, ein Jahr nach dem Treffen im Askanischen Hof – Felice hatte in der Zwischenzeit den Kontakt wieder aufgenommen – unternehmen die beiden einen gemeinsamen Urlaub in Marienbad. Fernab von den Eltern kommt es zu einer intimen Begegnung, wie es sie vorher nicht gegeben hatte. Kafka notiert in seinem Tagebuch: „Mit F. war ich nur in Briefen vertraut, menschlich erst seit 2 Tagen. So klar ist es ja nicht, Zweifel bleiben. Aber schön der Blick ihrer besänftigten Augen, das Sichöffnen frauenhafter Tiefe.“ (11, 131) Erneut werden Heiratspläne gemacht. Diesmal will Kafka seine Position als Beamter in Prag aufgeben, nach Berlin ziehen und Felice soll ihre Arbeit behalten. Zwar kommen ihm auch diesmal wieder Zweifel, aber was zur Auflösung der zweiten Verlobung und zur endgültigen Trennung führte, waren keine Briefgespenster und entwaffnende Gegenbeweise, sondern der Blutsturz im August 1917. Der Ausbruch der Tuberkulose nimmt ihm die Entscheidung ab, denn er weiß, dass die Krankheit tödlich enden wird und erklärt Felice, dass „es keine Tuberkulose ist, die man in den Liegestuhl legt und gesund pflegt, sondern eine Waffe, deren äußerste Notwendigkeit bleibt, solange ich am Leben bleibe. Und beide können nicht am Leben bleiben.“ (FB, 757) Im Dezember 1917 sieht Kafka Felice zum letzten Mal. Drei Jahre später, in einem Brief an Milena, bekennt er, dass er fünf Jahre lang auf sie eingehauen hat (vgl. MB, 30). In einem Tagebucheintrag vom 9. März 1914 gibt er den Grund für das Scheitern der Heiratspläne mit völliger Klarheit an: „Ich konnte damals nicht heiraten, alles in mir hat dagegen revoltiert, so sehr ich F. immer liebte. Es war hauptsächlich die Rücksicht auf meine schriftstellerische Arbeit, die mich abhielt, denn ich glaubte diese Arbeit durch die Ehe gefährdet.“ (10, 135) Aber warum eigentlich? Kafka kamen – für Felice zu spät – selbst Zweifel an der Unvereinbarkeit von Ehe und Literatur.
Verlobung und Bruch mit Julie Wohryzek 1919/1920
Hat Kafka auch im Verhältnis zu den anderen Frauen die Verlobung wie eine Krankheit verschleppt, die Ehe vor sich hergeschoben und dann aufgehoben? Es kam im September 1919 zur Verlobung mit Julie Wohryzek, einer jungen tschechischen Jüdin, die Kafka während eines Genesungsaufenthalts in Schelesen nicht weit von Prag kennen lernte. Sie war kulturell interessiert, aber nicht intellektuell; er mochte ihre freche Erscheinung, die trotz ihrer Lungenkrankheit eher heiter als melancholisch war. Diese Beziehung wurde knapp ein Jahr später beendet, erstens, weil Kafkas Vater (wie der Vater Georg Bendemanns in der bereits 1912 geschriebenen Erzählung Das Urteil) heftig gegen den Ehewunsch polemisiert hatte, zweitens, weil Kafka selbst wie zuvor von der Vorstellung, verheiratet zu sein, Angstausbrüche bekam, die zu Schlaflosigkeit führten – und drittens, weil er inzwischen Milena Pollak kennen gelernt hatte.
Die verheiratete Geliebte Milena Pollak 1920/1921
Die in Wien lebende, tschechische Journalistin und Übersetzerin war erst 23, schon verheiratet, intellektuell und selbstbewusst. Sie trat an Kafka heran, weil sie seine Texte ins Tschechische übersetzen wollte. Im Café Arco in Prag trafen sie sich zum ersten Mal, das war im März 1920. Eine umfangreiche und sehr persönliche Korrespondenz schließt sich daran an, aber diesmal erscheint Kafka nicht wie einer, der eine Geliebte erfindet oder sie aus sicherer Entfernung durch ein Periskop betrachtet. Diese Briefe sind sinnlicher und wirklichkeitsgesättigter. Anfang Juli kommt es zu einem heimlichen Treffen im Randbezirk von Wien, wo Kafka auf der Rückreise von seinem Aufenthalt in Meran für vier Tage Halt macht. Diesmal ist die wirkliche Begegnung keine Prüfung und keine Enttäuschung, sondern eine Realisierung der Intimität der Briefkommunikation:
Kafka darf Milena als Liebender vorbehaltlos begegnen, weil er für sie keine Vorbildfigur in seinen eigenen Texten finden kann. Milena ist weder eine Frieda Brandenfeld wie Felice Bauer noch eine Leni wie Julie Wohryzek; sie entspringt keiner literarischen Imagination, unter deren Diktat sie zur Einschreibfläche eines Phantasmas gerät, vielmehr behauptet sie ihre eigenen intellektuellen und sinnlichen Ansprüche, die sie selbständig und entschieden zur Geltung bringt. (Alt 2005, 543)
Aufhebung des Entweder-oder mit Dora Diamant 1923/1924
Kafka, gerade 40 geworden, verbrachte den Sommer im Ostseebad Müritz, wo er die 25-jährige Dora Diamant kennen lernte. Sie war Küchenleiterin des Berliner Jüdischen Volksheims, dessen Ferienstätte in der Nähe von Kafkas Unterkunft war. Es folgten einige Wochen, die gemeinsam am Strand und bei der Hebräisch-Lektüre verbracht wurden. Zwar hatte Kafka sich gesundheitlich nicht erholt, trotz Tuberkulose entschied er jedoch, mit Dora nach Berlin zu ziehen, was im September auch tatsächlich geschah. Hier beweist Kafka erstaunliche Entschlossenheit: Er geht nach Berlin und bezieht den bisher zumeist im Weg stehenden Vater diesmal nicht in den Entscheidungsprozess mit ein. Kafka scheint sich am Ende seines von der Krankheit zunehmend bedrohten Lebens von der Angst lösen zu können: von der Angst vor dem Urteil des Vaters und vor der Ehe bzw. der durch eine Ehe eingeschränkten Möglichkeit des Schreibens. Viel ist nicht bekannt über Kafkas Empfindungen gegenüber Dora, aber alles Äußere macht keinen wankelmütigen Eindruck, denn er hat geschrieben und er hat ihr vorgelesen und er hat mit ihr zusammengelebt. Das zerreißende Entweder-oder scheint er also am Schluss mit einem versöhnlichen Sowohl-als-auch beantwortet zu haben, das erst durch den Tod in ein endgültiges Weder-noch verwandelt worden ist.