Читать книгу Einführung in das Werk Franz Kafkas - Susanne Kaul - Страница 6
Оглавление[Menü]
I. Der rätselhafte Kafka
Kafka ist heute weltberühmt. Unter seinen Zeitgenossen gab es jedoch nur wenige, die ihn kannten und schätzten. Dies waren vor allem Schriftsteller. Die breite Öffentlichkeit erreichte er nicht. Einer der Gründe dafür mag die Rätselhaftigkeit seiner Texte sein. So schreibt ein an Kafka verzweifelnder Bankdirektor ihm am 10. April 1917 folgenden Brief aus Charlottenburg:
Sehr geehrter Herr,
Sie haben mich unglücklich gemacht.
Ich habe Ihre Verwandlung gekauft und meiner Kusine geschenkt. Die weiß sich die Geschichte aber nicht zu erklären.
Meine Kusine hats ihrer Mutter gegeben, die weiß auch keine Erklärung.
Die Mutter hat das Buch meiner anderen Kusine gegeben und die hat auch keine Erklärung.
Nun haben sie an mich geschrieben. Ich soll ihnen die Geschichte erklären. Weil ich der Doctor der Familie wäre. Aber ich bin ratlos.
Herr! Ich habe Monate hindurch im Schützengraben mich mit dem Russen herumgehauen und nicht mit der Wimper gezuckt. Wenn aber mein Renommee bei meinen Kusinen zum Teufel ginge, das ertrüg ich nicht.
Nur Sie können mir helfen. Sie müssen es; denn Sie haben mir die Suppe eingebrockt. Also bitte sagen Sie mir, was meine Kusine sich bei der Verwandlung zu denken hat.
Mit vorzüglicher Hochachtung
ergebenst Dr Siegfried Wolff
(Br II, 744)
Ob Kafka das Renommee dieses Briefschreibers gerettet hat oder zum Teufel gehen ließ, ist nicht bekannt (vgl. Stach 2008, 637). Die Ratlosigkeit im Umgang mit Kafka ist jedenfalls nicht nur bei Laien ein Phänomen, das bis heute existiert und durch die Vielzahl von Interpretationen im wissenschaftlichen Diskurs nicht auszuräumen ist.
Rätselhaft muten nicht nur die Geschehnisse in Kafkas Texten an, also die Verwandlung Gregor Samsas in ein Ungeziefer oder die absurden Verhaftungen in Der Proceß und in Der Schlag ans Hoftor. Das Rätselhafte an Kafkas Texten ist vor allem die Art, wie sie erzählt sind.
So beginnt die Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse damit, dass von Josefine behauptet wird, sie sei die Sängerin des Mäusevolks und könne großartig singen. Im Folgenden wird die Gesangskunst scheinbar bestätigt, in Wahrheit jedoch dementiert. Mehrmals stellt der Erzähler in Frage, ob denn überhaupt von Gesang die Rede sein könne, da Josefine genauso pfeife, wie alle Mäuse pfeifen. Ihr angeblicher Gesang auf der Bühne sei nicht zu unterscheiden von dem einfachen Gepfeife eines Mausekindes im Publikum. Er sei sogar schwächer und schüchterner. Der Erzähler stellt also eine Behauptung auf, die er sodann in Zweifel zieht, um sie schließlich ins Gegenteil zu verkehren. Kafkas Stil ist rätselhaft, weil er durch fortlaufende Paradoxien gekennzeichnet ist.
Diese Einführung in Kafka bietet nicht des Rätsels Lösung, sie verabsolutiert das Rätselhafte aber auch nicht. Stattdessen bahnt sie Wege zum Verständnis der Texte. In dem Kapitel „Kafka zwischen Leben und Schreiben“ werden Kafkas Leben und Werk aufeinander bezogen: Im Anschluss an biografische Ausführungen zur familiären Herkunft, dem Prager Umfeld, Judentum, Kindheit und Beruf kommt das Verhältnis zum strengen Vater und zur Verlobten Felice Bauer zur Sprache. Dabei spielt das literarische Schaffen eine zentrale Rolle, da das Bild vom Vater ein von Kafka konstruiertes und die Geliebte in erster Linie eine Briefgeliebte ist und damit als Projektionsfläche und Kraftquelle der dichterischen Fantasie fungiert. Das Schreiben ist für Kafka das höchste Ziel im Leben, alle anderen Ziele, vor allem die Ehe, stellen eine Rivalität dazu dar. In den Erzählungen finden sich häufig Konflikte mit Vätern sowie Anspielungen auf den Schreibprozess. Allgemeine Motivbeschreibungen (Motive wie Kunst, Mythos, Schuld und Strafe) werden in dieser Einführung neben Kennzeichnungen des für Kafka typischen Stils aufgeführt (z. B. gleichnishafte, traumhafte, komische und visuelle Schreibweisen). Außerdem wird ein Überblick über Themengebiete gegeben, die für den wissenschaftlichen Umgang mit Kafkas Texten wichtig sind: Forschungs- und Rezeptionsgeschichte, Werkentwicklung und Nachlass. Einzelanalysen werden zu folgenden Texten geliefert: Der Verschollene, Der Proceß, Die Verwandlung und In der Strafkolonie.
Kafkas Werke werden nach der 12-bändigen Ausgabe von Hans-Gerd Koch zitiert. Die erste Zahl verweist auf den jeweiligen Band der Ausgabe (siehe „Werkausgaben“ in der Bibliografie), die zweite ist die Seitenzahl.
Ich danke Birgitta Gramoll-Golisch, Jean-Pierre Palmier und Markus Pahmeier für die sorgfältige, kritische Durchsicht des Manuskripts und Monika Socha für die Hilfe bei den Recherchen, den Registern und der kommentierten Bibliografie.
Dieses Buch ist meinem alten Lehrer Wolfgang Golisch gewidmet, der im September 2005 gestorben ist. Von ihm habe ich viel über Kafka, Literatur und Sprache gelernt.